Mein Jahr in den Bergen - Vom Abenteuer des einfachen Lebens

von: Paolo Cognetti

Penguin Verlag, 2019

ISBN: 9783641244903 , 176 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mein Jahr in den Bergen - Vom Abenteuer des einfachen Lebens


 

Topografie


Elisée Reclus, ein anarchistischer Geograf des 19. Jahrhunderts, der wegen seiner Ideen lange in der Verbannung leben musste, schrieb einmal: »Von jeder Spitze, jeder Schlucht, jeder Flanke aus offenbart die Landschaft neue Aspekte, zeigt sich in einem anderen Profil. Für sich allein schon ist der Berg ein ganzer Gebirgszug; genau wie mitten auf dem Meer jede Woge aus einer Unzahl kleiner Wellen besteht. Um den Aufbau des ganzen Berges zu erfassen, muss man ihn studieren, ihn kreuz und quer durchwandern, jede Höhe erklimmen, die kleinste Klamm erkunden. Wie jedes Ding ist er unerschöpflich für den, der ihn zur Gänze kennen will.«

In diesem Geist nahm ich meine Erkundungstouren auf. Ich stieg den Weg bei der Hütte weiter hoch, um zu sehen, wohin er führte. Zuerst durchquerte ich einen Lärchenwald. Hohe, nackte Stämme wechselten sich ab mit dem Grün der einen oder anderen Jungtanne. Wenig weiter oben lichteten sich die Bäume. Auf den sonnenreichen Weiden sprossen schon die ersten Krokusse, aber kaum gelangte ich vom Südhang auf einen Westhang, wurde das Gras von Schnee abgelöst. Überall sprudelte Wasser hervor, als hätte der Berg sich damit vollgesogen. Es kam aus einem Loch zwischen Steinen, aus den freiliegenden Wurzeln einer Lärche. Nach einer Wegbiegung Richtung Norden versank ich bis zu den Hüften im Schnee, und als ich mich wieder aus dem Loch befreit hatte, beschloss ich zurückzukehren. Wie ein Yeti brüllend, sprang und hüpfte ich bergab. So weit, dass ich mit mir selbst geredet hätte, war ich noch nicht, ich sang aber gern laut vor mich hin. Seit einer Woche hatte ich keine Menschenseele mehr gesehen, und mit dem Singen leistete ich mir selbst Gesellschaft.

Ich hatte erwartet, dass sich das Gefühl der Einsamkeit mit der Zeit verstärken würde, doch das Gegenteil war der Fall: Nach den ersten, etwas orientierungslosen Tagen gab es nun unzählige Dinge, die ich tun wollte: meine Landkarte des Gebiets vergrößern, Tiere und Blumen katalogisieren, im Wald nach Holz suchen, die Wiese rund um die Hütte säubern. Die Schneeschmelze förderte Überraschungen zutage: den Schädel eines Murmeltiers, die Kohle eines Lagerfeuers, die Spurrillen eines Traktors. Die Höhle einer eben aus dem Winterschlaf aufgewachten Maus machte mir Mut – wenn sie sechs Monate unter dem Schnee überlebt hatte, würde meine Saison unter der Sonne ein Kinderspiel sein.

Was die Landkarte betraf, begann sie direkt vor der Haustür und dehnte sich aus, je mehr ich draußen entdeckte. Mein Vorgehen: Erkundungstouren, Lektüren, archäologische Funde und unsichere Schlussfolgerungen. Das winzige Dorf, in dem ich wohnte, zuoberst in einem kleinen Tal, durch das ein namenloser Bach floss, hieß Fontane. Von den vier aufgereihten Hütten bewohnte ich die erste, mit einer nach Süden ausgerichteten Fassade. Einst, als diese Alphütten noch genutzt wurden, hatte vom Ort her ein Saumpfad hinaufgeführt. Er war in den Hang gegraben worden und durch Trockenmauern begrenzt gewesen, damit das Vieh unterwegs nicht in die Weiden eindrang. An manchen Stellen war er noch sichtbar: eine Schneise am Waldrand, einen Meter breit, hier und da seitlich ein Haufen weißer Steine, die die früheren Hirten mit Hammer und Meißel in rechteckige Form gebracht hatten. Der Bach etwas unterhalb des Dörfchens, dem dieses seine Existenz verdankte, war zu kurz, um einen Namen zu haben: Ich maß ihn mit Schritten aus und kam gerade mal auf hundert. Mitten auf der Weide sprudelte er aus einer Quelle hervor und mündete kurz danach in einen anderen Wildbach. Er floss über feinen, weiß und blau schimmernden Schotter, einem Flussbett unglaublich ähnlich. Am Bach standen vier Ableger der Hütten, kleine Steinbauten, in die man früher nach dem Melken die Milch getragen hatte. Das fließende Wasser kühlte sie, und der Rahm, aus dem dann Butter gemacht wurde, setzte sich an der Oberfläche ab. Jetzt stand in meinem Steinbau anstelle von Milch ein elektrischer Kompressor, der Wasser aus dem Bach zog und zu mir ins Haus pumpte. Auch wenn ich wie jeder Stadtmensch einfach den Wasserhahn aufdrehte und dabei nach Belieben die Temperatur einstellte, um mir die Hände zu waschen und zu trinken, blieb mir doch immer bewusst, dass das Wasser von dort kam, aus dem weißen und blauen Schotter mitten im Gras, und nachts hatte ich das Gefühl, den Reif zu schmecken.

Vor vielen Jahrhunderten hatte man die quellenreiche und sonnige Gegend entwaldet, von Steinen befreit und wo nötig terrassiert, zunächst um Roggen anzubauen und Kühe weiden zu lassen, später um Skipisten anzulegen. Bis in die Fünfzigerjahre hinein stieß man hier kaum noch auf Bäume oder ein Wildtier. Eine Begegnung mit einem Reh oder einem Murmeltier war ein Glücksfall und bedeutete ein wenig Fleisch in einem Speiseplan aus Polenta und Kartoffeln. Ich habe alte Fotos gesehen, auf denen die Anbauflächen bis in unglaubliche Höhen vordringen und das ganze Gebirge wie ein gepflegter Park aussieht. In der Nachkriegszeit hatte man das Land in der Höhe nach und nach aufgegeben, und der Wald hatte sich wieder ausgebreitet. Der bei der Hütte war vor rund fünfzig Jahren gepflanzt worden:

Die Lärchen waren relativ jung, alle etwa gleich groß, und standen so weit auseinander, dass unter ihnen weiterhin Gras wuchs. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte man einen Teil dieser Bäume schließlich wieder abgeholzt, um Platz für die Pisten zu schaffen, die die Bergflanken wie Lawinenrinnen durchschnitten. Skiliftmasten tauchten auf, holprige Hänge wurden eingeebnet. So hatte der Ort sein heutiges Aussehen erhalten.

Warum mich diese Geschichte so interessierte? Weil ich mir etwas ganz Einfaches immer wieder vor Augen halten wollte: dass diese Landschaft aus Bäumen, Wiesen, Wildbächen und Steinen um mich herum, so authentisch und wild sie auch wirkte, in Wirklichkeit das Produkt jahrhundertelanger menschlicher Arbeit war, etwas genauso Erschaffenes wie eine Stadt. Ohne Menschen hätte dort nichts die Gestalt angenommen, die es nun hatte. Nicht einmal der Bach und die majestätischen Bäume. Selbst die Wiese, auf die ich mich in die Sonne legte, wäre ein dichter, undurchdringlicher Wald gewesen, mit umgestürzten Stämmen und abgebrochenen Ästen, moosbewachsenen Felsblöcken und einem dichten Unterholz aus Wacholder, Heidelbeeren und schlingenden Wurzeln. In den Alpen gibt es keine Wilderness, es gibt nur eine lange Geschichte der Anwesenheit des Menschen und inzwischen auch eine Phase der Abwanderung. Manche leiden unter der Abwanderung wie unter dem Tod einer Zivilisation, mir hingegen bescherte es Freude, wenn ich auf eine vom Unterholz verschlungene Ruine stieß oder auf einen Baum, der aus einem ehemaligen Kornfeld herauswuchs. Aber es war ja auch nicht meine Geschichte, die da verschwand. Ich träumte von einer Rückkehr der Wölfe und Bären, aber ohne dass ich da Wurzeln oder etwas zu verlieren gehabt hätte, wenn der Berg sich endlich vom Menschen befreite.

Meine Erkundungstouren waren eine Art Forschung, ein Versuch, die Geschichten zu lesen, die in die Landschaft eingeschrieben waren. Weniger poetisch ausgedrückt: Ich sammelte Abfälle. Ein alter, morscher Holzeimer, halb versunken im Misthaufen, ein rostiges Türschloss. Mich interessierte die Geschichte der Menschen – warum hatte beispielsweise die Hütte hinter der meinen diesen Anbau? Waren die Zeiten irgendwann besser gewesen, und die Familie brauchte einen größeren Stall? Es war die größte Hütte von allen, aber auch die schlichteste. Winzige Fenster, drei wackelige Bretter als Balkon. Die dritte Hütte hatte einen umgekehrten Grundriss, die Fassade war nach Norden ausgerichtet.

Es musste auch hier einen guten Grund gegeben haben, auf die Sonne zu verzichten: vielleicht Grenzstreitigkeiten? Die vierte Hütte war die gepflegteste, vielleicht auch die neuste. Sie hatte einen kleinen, ansatzweise dekorierten Balkon, Fenster mit Scheiben und an den Außenmauern sogar Verputz: eine grobe Masse mit einigen Buckeln, in einem schmutzigen Weiß, das mir sehr gefiel. Draußen gab es zwei windschiefe Gehege, für Hühner, Kaninchen oder irgendwelche anderen Haustiere. Da das Dörfchen an einem flachen Hang lag, überragte die weiße Hütte alle anderen, die umgekehrte, die mit dem großen Stall und meine, deren Aussicht dafür unverbaut war.

Wenn ich die Hütten betrachtete, fragte ich mich manchmal, ob es wirklich eine Zeit gegeben hatte, in der Fontane bewohnt gewesen war. Ich konnte es mir kaum vorstellen – schon als Kind hatte ich in den Bergen immer nur Ruinen gesehen. Die Gegenwart dort im Gebirge kam mir vor wie ein Haufen uralter Scherben, die sich nicht mehr zusammenfügen ließen. Man konnte sie nur noch in den Händen drehen und raten, was ihr Zweck gewesen war, wie ich es tat, wenn ich einen Stein verschob und darunter einen Holzgriff, einen großen krummen Nagel, ein Knäuel aus Eisendraht fand.

Es war ein wenig lächerlich, aber jede der vier Hütten hatte eine Hausnummer. Irgendein Gemeindebeamter musste einst den Auftrag bekommen haben, jedes Gebäude zu registrieren, und so besaßen auch die am Berg verstreuten Ruinen alle ein Schild mit einer Hausnummer. Meines war die Nummer eins. Eines Tages würde ich ins Tal absteigen und mir selbst eine Ansichtskarte schicken, Weiler Fontane N° 1, und dann würde ich zurückkehren und warten, bis sich der Postbote den Weg hochquälte. Die Hütte mit dem Stall war die Nummer zwei, die umgekehrte die drei, die weiß verputzte die vier. Aber dort wohnten nur Siebenschläfer und Dachse, die ich manchmal hörte. Ich war die Bevölkerung und konnte wie Robinson auf seiner menschenleeren Insel proklamieren: »Dies alles gehört mir, ich bin der unbestreitbare Herr und...