Schilf - Roman

von: Juli Zeh

btb, 2018

ISBN: 9783641242732 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Schilf - Roman


 

2

Es ist doch eigenartig, denkt Oskar, dass alle Menschen aus den identischen Bestandteilen zusammengesetzt sind. Dass jene Nebenniere, die ihm einen leichten Adrenalinrausch durch die Adern schickt, auch im vegetativen Nervensystem der zierlichen Asiatin zu finden ist, die, mit dem Gesicht von Yoko Ono maskiert, Kaffee und belegte Brötchen an die Fahrgäste verteilt. Dass ihre Nägel, Haare, Zähne aus demselben Material sind wie die Nägel, Haare, Zähne sämtlicher Mitreisender. Dass ihre Finger beim Ausschenken des Kaffees von den gleichen Sehnen bewegt werden wie seine, die im Portemonnaie nach Kleingeld suchen. Dass selbst die Handfläche, in die er, jede Berührung vermeidend, ein paar Münzen fallen lässt, ein ähnliches Muster aufweist wie seine eigene.

Beim Überreichen des Bechers sieht ihn die Asiatin zu lange an. Der Zug fährt über eine Weiche; fast wäre ihm der Kaffee auf die Hose geschwappt. Oskar nimmt den Becher entgegen und schaut zu Boden, um dem strahlenden Lächeln auszuweichen, das ihm die Asiatin zum Abschied schenken wird. Wenn es nur die Ähnlichkeit der Handflächen wäre, die ihn mit ihr verbindet. Wenn sie wenigstens nur Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff miteinander teilen würden. Aber die Gemeinsamkeiten gehen tiefer, bis hinab zu den Protonen, Neutronen und Elektronen, aus denen er und die Asiatin aufgebaut sind und aus denen auch der Tisch besteht, auf den er seine Ellenbogen stützt, sowie der Kaffeebecher, der ihm die Finger wärmt. Dieser Umstand macht Oskar zu einem beliebigen Ausschnitt der Materie, aus der die Welt geformt ist, alles enthaltend, was existiert, weil man aus ihr nicht entkommen kann. Er weiß, dass die Grenzen seiner Person im großen Teilchenwirbel verschwimmen. Er kann spüren, wie er sich buchstäblich unter andere Menschen mischt. In fast allen Fällen ist ihm dieses Gefühl unangenehm. Es gibt eine Ausnahme. Zu der ist er gerade unterwegs.

Wenn Sebastian versuchen wollte, seinen Freund Oskar zu beschreiben, würde er sagen, dass Oskar aussieht wie jemand, der alle Fragen beantworten kann. Ob der Stringtheorie eines Tages die Vereinigung der physikalischen Grundkräfte gelingen wird. Ob man ein Frackhemd zum Smoking tragen kann. Wie spät es ist, und zwar in Dubai. Egal, ob er zuhört oder selbst spricht, seine Granitaugen ruhen bewegungslos auf dem Gegenüber. Oskar ist einer, in dessen Adern Quecksilber fließt. Einer, unter dessen Füßen sich stets ein Feldherrenhügel befindet. Einer, für den es keine albernen Kosenamen gibt. In seiner Gegenwart setzen sich Frauen auf ihre Hände, um nicht versehentlich nach ihm zu greifen. Als er zwanzig war, wurde er auf dreißig geschätzt. Seit er die dreißig überschritten hat, nennt man ihn alterslos. Er ist hochgewachsen und schlank, mit glatter Stirn und schmalen Augenbrauen, die sich ständig zu fragenden Bögen heben wollen. Auf den leicht eingesunkenen Wangen liegt trotz sorgfältiger Rasur ein dunkler Bartschatten. Auch wenn er, wie heute, zur schwarzen Hose einen schlichten Pullover trägt, wirkt seine Kleidung ausgesucht. An seinem Körper wagt der Stoff nur an den richtigen Stellen Falten zu werfen. Meist drückt seine Haltung eine Mischung von äußerer Gelassenheit und innerer Anspannung aus, die andere Menschen dazu veranlasst, ihm frech ins Gesicht zu sehen. Hinter seinem Rücken suchen sie tuschelnd nach seinem Namen, weil sie ihn für einen Schauspieler halten. Tatsächlich ist Oskar in bestimmten Kreisen berühmt, allerdings nicht für Schauspielerei, sondern für seine Theorien zum Wesen der Zeit.

Draußen gleitet der Sommer als grünblaues Band vorbei. Eine Bundesstraße folgt den Gleisen. Wie festgeklebt bleiben die Autos hinter dem Zug zurück; Licht liegt in flachen Seen auf dem Asphalt. Gerade hat Oskar eine Sonnenbrille hervorgeholt, als ein junger Mann fragt, ob er sich zu ihm setzen dürfe. Oskar wendet sich ab und verbirgt die Augen hinter den dunklen Gläsern. Der junge Mann geht weiter. Auf dem Klapptisch steht der Kaffee in einer braunen Pfütze.

Was Oskar das Leben oft unerträglich macht, ist sein Empfinden für Stil. Viele Menschen können ihre Artgenossen nicht leiden, aber wenige sind in der Lage, das so genau zu begründen wie er. Dass sie alle bloß aus Protonen, Neutronen und Elektronen gemacht sind, könnte er noch verzeihen. Nicht verzeihen kann er ihre Unfähigkeit, diese traurige Tatsache mit Fassung zu tragen. Wenn er an seine Kindheit denkt, sieht er sich, vierzehnjährig, von einer Gruppe lachender Mädchen und Jungen umringt, die mit ausgestreckten Fingern auf seine Füße zeigen. Er hatte damals, ohne Zustimmung der Eltern, sein Fahrrad verkauft, um dafür sein erstes Paar rahmengenähter Schuhe zu erwerben; vorsichtshalber gleich drei Nummern zu groß. Seine Verachtung für taktloses Gelächter ist ihm bis heute geblieben. Er verabscheut Wichtigtuerei, das Auftrumpfen und die Schadenfreude der Dummen. Aus seiner Sicht ist keine Gewalttat so grausam wie ein Verbrechen gegen den guten Stil. Sollte er jemals (was durchaus nicht geplant ist) einen Mord verüben, dann vermutlich wegen einer aufdringlichen Bemerkung seines Opfers.

Der Spott seiner Schulkameraden endete abrupt, als er mit sechzehn eine Körpergröße von 1,90 Meter erreicht hatte. Stattdessen begann man, um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Auf dem Schulhof wurde lauter gesprochen, wenn er in der Nähe stand. Hatte sich ein Mädchen im Unterricht gemeldet, dann schaute es beim Sprechen zu ihm hinüber, als wollte es sich vergewissern, ob er auch zuhöre. Selbst der Mathematiklehrer, ein ungepflegter Mensch, dessen Nackenhaar auf den Hemdkragen stieß, gewöhnte sich an, in Oskars Richtung »Das stimmt doch?« zu fragen, wenn er den kreidebrechenden Punkt hinter eine Zahlenreihe setzte. Dennoch war Oskar nach dem Abitur der Einzige seiner Klasse, der noch keine Erfahrungen mit angewandter Nächstenliebe gesammelt hatte. Er betrachtete das als Sieg. Er war überzeugt, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gebe, dessen Anwesenheit er länger als zehn Minuten ertragen könnte.

Die Größe dieses Irrtums machte ihn schwindeln, als er an der Universität auf Sebastian traf. Dass sie einander schon am Eröffnungstag des neuen Semesters bemerkten, war ihrer Körperhöhe geschuldet. Über die Köpfe der anderen Studenten hinweg begegneten sich ihre Blicke, und es ergab sich fast automatisch, dass sie im Hörsaal nebeneinander Platz nahmen. Die peinliche Ansprache des Dekans erduldeten sie schweigend. Danach begannen sie auf dem Gang eine lockere Unterhaltung, und als zehn Minuten vergangen waren, hatte Sebastian noch nichts Einfältiges gesagt und kein einziges Mal töricht gelacht. Oskar ertrug nicht nur seine Gegenwart, sondern verspürte sogar Lust, das Gespräch fortzusetzen. Sie gingen in die Cafeteria und redeten bis zum Abend. Von diesem Moment an suchte Oskar die Nähe seines neuen Bekannten, und Sebastian ließ es geschehen. Ihre Freundschaft brauchte keine Anlaufzeit; nichts musste sich entwickeln. Sie ging einfach an wie eine Lampe, wenn man den richtigen Schalter drückt.

Jeder Versuch, die folgenden Monate zu schildern, läuft Gefahr, sich im Großartigen zu verlieren. Seit sich Oskar für ein Studium an der Universität Freiburg entschieden hatte, zeigte er sich der Öffentlichkeit nur noch in einem Cutaway mit langschößiger Jacke, gestreiften Hosen und silberner Halsbinde. Es dauerte nicht lang, bis Sebastian in ähnlichem Dandykostüm zu den Vorlesungen erschien. Jeden Morgen gingen sie in der Grünanlage vor dem Physikalischen Institut wie an Schnüren gezogen aufeinander zu, vorbei an Studenten sämtlicher Semester, die nur auf der Welt waren, um ihnen im Weg zu stehen, und begrüßten sich mit Handschlag. Sie kauften von jedem Lehrbuch nur ein Exemplar, weil sie es mochten, die Köpfe über einer aufgeschlagenen Seite zusammenzustecken. In den Hörsälen blieben die Plätze neben ihnen leer. Man fand ihren Aufzug seltsam und lachte doch nicht darüber, nicht einmal, wenn sie an den Nachmittagen untergehakt am Ufer der Dreisam spazieren gingen und alle paar Schritte stehen blieben, weil Wichtiges nur im Stehen gesagt werden kann. In ihrer altmodischen Garderobe glichen sie einer vergilbten Postkarte, als wären sie sorgfältig, aber nicht nahtlos in die Gegenwart geschnitten. Das Brausen der Dreisam fraß an ihrer Unterhaltung; aufgeregt winkten die Bäume im Wind. Nie war die Spätsommersonne schöner als in dem Augenblick, da einer von ihnen auf sie zeigte und etwas über solare Neutrinoprobleme sagte.

Abends trafen sie sich in der Bibliothek. Oskar flanierte an den Regalen entlang und kehrte von Zeit zu Zeit mit einem Buch an den gemeinsamen Tisch zurück. Seit Oskar sich angewöhnt hatte, einen Arm um den Freund zu legen, während er ihn auf eine interessante Stelle aufmerksam machte, sammelten sich auf den Bänken hinter den Glasscheiben des Lesesaals Germanistikstudentinnen. Wenn Oskar und Sebastian auf Partys jeder für sich durch die Menge glitten, mochte es vorkommen, dass Sebastian eins der Mädchen mit schwerer Zunge küsste. Hob er den Kopf, konnte er sicher sein, quer durch den Raum Oskars lächelndem Blick zu begegnen. Am Ende des Abends wurde das Mädchen zum Ausgang geführt und wie ein Kleidungsstück bei einem beliebigen Kommilitonen abgegeben. Im Anschluss daran geleiteten Oskar und Sebastian einander bis zur Gabelung ihrer Heimwege durch die Nacht. Dort blieben sie stehen; das Licht einer Laterne umgab sie wie ein Zelt, das keiner von ihnen verlassen mochte. Es ließ sich schwer entscheiden, welcher Moment für den Abschied geeignet sein sollte – dieser, oder doch erst der nächste? Während vorbeifahrende Autos ihren gemeinsamen Schatten um die eigene Achse drehten, schworen sie stumm, dass sich zwischen ihnen niemals etwas ändern...