Die Engelsmühle - Thriller

von: Andreas Gruber

Goldmann, 2018

ISBN: 9783641226671 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Engelsmühle - Thriller


 

PROLOG

Für die meisten Wiener ist der Besuch des Flohmarkts an der Kettenbrückengasse nichts weiter als eine flüchtige Begegnung, ein kurzes Abtauchen in eine andere Welt, die von schmuddeligen Büchern, Postkarten oder anderem Trödel dominiert wird. Doch nicht für Peter Hogart. Für ihn war der Flohmarkt ein nostalgischer Ruhepol, wo er nahezu jeden Sonntag seinen eigenen Stand aufstellte, um der Routine seines Berufs zu entfliehen. An diesem Tag konnten ihn seine Auftraggeber kreuzweise. Er hatte die Nase voll von den vertrackten Betrugsfällen, mit denen ihn die Versicherungsriesen der Stadt betrauten, wenn ihre eigenen Spürnasen keine Fortschritte erzielten.

Andere Leute versuchten es mit Yoga, Spaziergängen oder Aquarellmalerei, doch Hogart entspannte sich am besten, wenn er mit Autogrammen und Filmplakaten aus den Fünfzigerjahren handelte oder Jazz-Singles mit speckigen Hüllen auf der Verkaufsfläche seines Standes platzierte. Seit einem halben Jahr versuchte er auch, die Edgar-Wallace-Videosammlung seines Bruders zu verkaufen, und reduzierte den Preis Woche für Woche um ein paar Cent. Doch niemand interessierte sich für die Kassetten. Letztendlich ging es ihm auch gar nicht darum, das große Geld zu verdienen, was mit diesen Raritäten – andere nannten sie Krempel – ohnehin nicht möglich war. Er suchte den Kontakt zu anderen Verrückten, die ihre Freizeit in den engen Reihen zwischen Hunderten Ständen verbrachten – besonders an einem heißen Frühlingstag wie heute, wenn die Luft über dem Asphalt flimmerte.

Hogarts Sonnenbrille steckte in seinem langen, dunklen Haar, wobei der silberne Rahmen perfekt zu den mittlerweile grau melierten Schläfen passte. In den Sandalen, Jeans und dem ausgewaschenen Jazzland-T-Shirt wirkte er nicht wie ein freiberuflicher Versicherungsdetektiv, sondern wirklich wie jemand, der jede freie Minute in Antiquariaten und auf Tauschbörsen verbrachte, sich auf Kurzfilmfestivals herumtrieb und gelegentlich Artikel über die Kunstszene verfasste. Doch von echter Kunst verstand er nicht viel. Diese Abteilung befand sich eine Reihe weiter, wo sich Jugendstilvasen, barocke Bilderrahmen und handgeschnitzte Jesusstatuen aneinanderreihten. Dort wurden oft Preise bis zu eintausend Euro ausgehandelt, und dementsprechend sah auch das Publikum aus, das sich normalerweise in dieser Ecke herumtrieb. Ganz und gar nicht passte allerdings der Junge mit den strohblonden Haaren, den Sommersprossen und den geflickten Shorts dazu. Der zehnjährige Knirps konnte sich bestimmt keinen Biedermeiertisch leisten. Trotzdem zwängte er sich schon seit Minuten zwischen den Leuten hindurch, während sein Blick immer wieder von einem bestimmten Tresen zum Standbesitzer wanderte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er etwas klauen würde. Der Platz war optimal. Ein paar Meter weiter begann der Treppenabgang zur U-Bahn-Station. Von Weitem hörte man die Waggons heranscheppern, das Knirschen der Gleise und das Quietschen der Bremsen. Niemand würde den Jungen erwischen, falls er sich rechtzeitig unter die Fahrgäste mischte.

Hogart starrte zur Station. Soeben kamen zwei Männer, die er nur zu gut kannte, die Treppe hoch. Sie marschierten in die Richtung seines Standes. Der schlanke, hochgewachsene im Anzug wirkte wie ein Lackaffe, der kleinere im ungebügelten Hemd wie jemand, den kürzlich seine Frau verlassen hatte. Beide waren etwa in Hogarts Alter, knapp über vierzig, und beide passten ebenso wenig in das Ambiente des Flohmarkts wie der Junge. Jeder, der auch nur ein wenig darin geübt war, Menschen zu beobachten, hätte bemerkt, dass sie sich weniger für die Waren auf den Tischen als für die Anwesenden interessierten. Ihre Blicke wanderten von einem Augenpaar zum nächsten, als suchten sie nach jemandem – und Hogart ahnte bereits, um wen es sich dabei handelte. Da zischte auch schon der Blondschopf des Jungen an seinem Stand vorüber, worauf sämtliche Videokassetten vom Tisch polterten. Beim Vorbeilaufen hatte sich diese Kröte doch tatsächlich einen der Edgar-Wallace-Filme gegriffen.

Während der Bengel davonlief, schob er sich das Video unter das T-Shirt. Wie ein Pfeil schoss er durch die Menge, die auseinanderstob, als würde ein tollwütiger Terrier durch die Reihen rennen. Für einen Augenblick überlegte Hogart, dem Jungen hinterherzulaufen. Vielleicht sollte er sogar den Stand verlassen, und wenn er dann wiederkäme, hätte der Komplize des Jungen womöglich seinen ganzen Tisch leer geräumt. Hogart atmete tief durch. Pfeif drauf! Er hätte den Film sowieso nie verkauft.

Hogart reckte den Hals, um dem Jungen nachzusehen, wie er im U-Bahn-Schacht verschwand, doch so weit kam er nicht. Das Bürschchen prallte gegen die beiden Männer, die ihm nicht wie alle anderen auswichen, und ehe er es sich versah, packte ihn der eine am Ohr. Brutal schoben die beiden den Jungen durch die Reihen auf Hogarts Stand zu. Der Unrasierte hielt ihn nach wie vor am Ohr fest, während ihm der Lackaffe einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte. Der Kleine brüllte wie am Spieß, woraufhin sich die ersten Leute aufregten. Normalerweise konnte man an einer Wiener Bushaltestelle einer Großmutter die Handtasche klauen, ohne dass einer der Herumstehenden auch nur einen Finger rührte, doch sobald ein Kind lauthals kreischte, traf man den Nerv der Wiener.

Als der Lackaffe den Jungen mit dem Rücken voran gegen Hogarts Stand stieß, erreichte das Gebrüll den Höhepunkt. Es verstummte erst, als der Mann seine Dienstmarke aus der Anzugtasche hervorholte und dem Jungen vor die Nase hielt. Hogart musste nicht hinsehen. Inspektor Wolfgang Eichinger stand unter der Plakette.

»Hallo Hog, wie geht’s?« Der Mann steckte den Kripo-Ausweis wieder ein.

»Bis jetzt ganz gut«, antwortete Hogart.

Eichinger lächelte, smart wie immer – zumindest hatte ihn Hogart noch nie anders gesehen. Egal ob im Dienst oder privat, er trug stets einen eleganten Anzug und die silberne Rolex am Handgelenk, ein Geschenk seiner Frau, die wie er für das Innenministerium arbeitete. Wenn es für Eichinger einmal nicht mehr so gut bei der Kripo lief – und manchmal sah es ganz danach aus –, konnte er es immer noch als Model für Herrenunterwäsche versuchen. Die gebräunten Gesichtszüge waren genauso schneidig wie sein Anzug, und mit dem perfekt sitzenden, eingegelten schwarzen Haar stellte er den Traumkandidaten für jede Schwiegermutter dar. Nur hatten die keine Ahnung, was im Kopf dieses Mannes vorging.

Eichinger sah seinen Partner kurz an. Garek kam aus einem anderen Milieu, dementsprechend waren sein Aussehen und sein Auftreten: kaltschnäuzig, verbittert, unrasiert, das ungebändigte braune Haar mit einer nassen Bürste nach hinten gekämmt. Sobald man einmal wusste, dass die beiden bei der Kripo arbeiteten, konnte man glauben, zwei Prachtexemplare von Guter-Bulle-böser-Bulle vor sich zu haben. Doch der erste Eindruck täuschte. Wie so oft war es in Wahrheit genau umgekehrt.

»Diebstahl, tätlicher Angriff und Widerstand gegen die Staatsgewalt … beachtlich für dein Alter.« Eichinger sah auf die Uhr, doch den Blick hätte er sich sparen können. Aus der Innenstadt drang das Läuten der Mittagsglocken. »Müsstest du nicht in der Schule sein?«

»Es ist Sonntag«, sagte Hogart, während der Junge wortlos zu Boden starrte.

Garek zerrte am Kragen seines schmuddeligen Hemds. Bestimmt machte ihm die Hitze zu schaffen. »Wir werden deine Mutter verständigen. Sie bekommt eine Anzeige wegen Verletzung der Aufsichtspflicht, eine Gerichtsvorladung und eine Geldstrafe. Der Bericht geht an die Jugendwohlfahrt, und die machen einen Hausbesuch. Dein alter Herr hat bestimmt ein paar Vorstrafen, was?«

Hogart stöhnte auf. Er wusste, dass die beiden den Jungen nur kräftig verarschten. Erstens arbeiteten sie beim Morddezernat, und zweitens war ihnen bei diesen Temperaturen bestimmt nicht danach zumute, den Jungen aufs Revier zu schleppen, um dort seine Personalien herauszufinden – denn so, wie der Junge aussah, trug er bestimmt keinen Ausweis bei sich.

Hogart ging um den Stand herum und legte dem Burschen die Hand auf die Schulter. »Ronnie, wenn du den Film nicht mehr möchtest, nehme ich ihn zurück, und du überlegst dir, ob du deinem Vater etwas anderes kaufst. Einverstanden?«

Noch bevor der Junge aufsah, hatte ihm Hogart die Videokassette unter dem T-Shirt hervorgezogen und zu den anderen auf den Tisch gelegt. Der Zinker war sowieso noch nichts für einen Zehnjährigen. Hogart nahm einen Fünfeuroschein aus der Geldbörse und reichte ihn dem Jungen. Dieser nahm ihn verdutzt.

»Komm nächsten Sonntag wieder.«

Das ließ sich der Bub nicht zweimal sagen. Eilig zwängte er sich zwischen den Kripobeamten hindurch.

Eichinger sah dem Jungen hinterher. »Dein Stand muss ja mächtig viel Kohle abwerfen, wenn du den Leuten, die dich beklauen, die Euros hinterherwirfst.«

Hogart begann, die Videokassetten aufzustellen. »Naja, immerhin läuft’s bei mir so weit. Was für euch wohl nicht zutrifft, wenn man euch auf minderjährige Diebe ansetzt.«

»Du …«

»Nicht jetzt!«, fiel Garek seinem Kollegen ins Wort und warf dabei einen leicht mitleidigen Blick auf Hogarts unberührtes Warenangebot. »Was macht denn das Leben als Privatdetektiv so?«

»Ich kann nicht klagen. Morgen habe ich einen Termin bei Helmut Rast.« Kommerzialrat Rast, der Vorstandsdirektor und Geschäftsführer von Medeen & Lloyd, war ein guter Freund von Hogarts Vater gewesen. Ab und zu arbeitete Hogart für das Versicherungshaus.

»Der Brand in der Gebietskrankenkasse?«

Hogart nickte. »Ich soll den Fall...