Expedition zum Ursprung - Ein Physiker sucht nach dem Sinn des Lebens

von: Albrecht Kellner

Fontis, 2018

ISBN: 9783038484929 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,00 EUR

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Expedition zum Ursprung - Ein Physiker sucht nach dem Sinn des Lebens


 

Kapitel 3


REISEN DURCH DIE PSYCHE


Da die rein rationalen Überlegungen der Wissenschaft und somit der Verstand allein sich ein für alle Mal als unzureichendes Transportmittel auf meiner Expedition zu den Urgründen des Seins erwiesen hatten, stellte sich die Frage, welche andere Möglichkeiten es gab, diese Expedition fortzusetzen.

Zunächst wurde mir die Rolle des Verstandes immer klarer. Er ist die ordnende Instanz und befähigt uns dazu, die Wahrnehmung der Dinge im Kontext zueinander und mit unseren Bedürfnissen abzugleichen, Schlussfolgerungen zu ziehen und uns auf diese Weise sinnvoll in unserer Welt zu verhalten. Entscheidend schien mir dabei die zunächst trivial anmutende Erkenntnis, dass diese Funktion erst dann zum Einsatz kommen kann, wenn bereits Wahrnehmungen vorhanden sind.

Denken ist immer ein Nach-Denken: ein Denken, nachdem Eindrücke aus der äußeren oder inneren Umwelt zu uns gedrungen sind. Zuerst hatte man die Planeten und ihre Bewegungsmuster beobachtet. Erst danach konnten die alten Griechen, die Azteken, konnten Newton und Einstein ihre Überlegungen dazu entwickeln. Und während die Beobachtung der Planetenbewegungen durch die Jahrtausende gleich geblieben ist, wurden die Ergebnisse des Nachdenkens über diese Phänomene ein ums andere Mal relativiert.

Das Primäre, Unmittelbare, Unveränderliche ist die Wahrnehmung. Die verstandesmäßige Verarbeitung ist nachgeordnet, sekundär und relativ. Das hieß, für ein wie immer geartetes Vordringen zum Ursprung allen Seins musste die direkte und unkommentierte Wahrnehmung das geeignetere Transportmittel sein, da es einen unmittelbarer und näher an das Eigentliche heranführen konnte. Diese Feststellung sollte von nun an der Wegweiser für alle weiteren Versuche werden.

Es musste also etwas im Bereich meiner unmittelbaren Wahrnehmung auftauchen, was sich bislang so noch nicht gezeigt hatte – denn sonst hätte ich ja schon gefunden, was ich suchte. Es würde sich dann hoffentlich als das Ziel meiner Expedition erweisen.

Nach eingehender Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass es hierzu einer Art erweiterten Wahrnehmungsfähigkeit des Bewusstseins bedurfte. Es lässt sich mühelos erraten, wohin mich nun meine Suche führte.

Die Pforten der Wahrnehmung


Das Buch Die Pforten der Wahrnehmung von Aldous Huxley, der mit psychedelischen Drogen experimentiert hat, kannte ich damals zwar noch nicht, aber es war der Beginn der Flower-Power-Ära: Selbst in der damals noch recht verschlafenen Studentenstadt Göttingen durchwehten die eine oder andere Teestube schon am frühen Nachmittag die süßlichen Schwaden glimmenden Hanfs.

Bereits das erste persönliche Erlebnis mit diesen Schwaden ließ in mir die Hoffnung aufkeimen, dass ich hierdurch in der Tat einen Weg gefunden hatte, meinem Bewusstsein neue Möglichkeiten der Wahrnehmung zu eröffnen, die mich näher an mein Ziel heranbringen würden.

Diese Neuausrichtung meiner Expedition von einer Exploration der Möglichkeiten des Verstandes zu den Huxley’schen Pforten der Wahrnehmung verlief natürlich noch nicht in dieser klaren Konsequenz und auch nicht im vollen Bewusstsein dessen, was sich da in mir abspielte.

Dass ich mich überhaupt auf dieser Reise zu einer tieferen Erklärung meines Daseins befand, stand mir eigentlich nur hin und wieder vor Augen, etwa während des einen oder anderen alkoholgeschwängerten, weinerlich-philosophischen Abends mit seelenverwandten Freunden und Freundinnen. Dann konnte es sein, dass sich im Verlaufe der Gespräche die Nebel der alltäglichen Gewöhnung an das Unfassbare lüfteten und eine ganz andere Sicht der Dinge freigaben.

Dann wurde uns etwa bewusst, dass die Erde in Wirklichkeit ein Klumpen uralter, auf der Oberfläche erkalteter und verkrusteter Sternenmasse ist, der mit immenser Geschwindigkeit in der Leere des Weltalls unterwegs ist, auf einer Umlaufbahn um ein atomares Urfeuer von unvorstellbarer Gewalt, das seinerseits nur eines von hundert Milliarden anderer, viel gewaltigerer derartiger kosmischer Brände ist, den Sternen, die ihrerseits zu einer Galaxie, einem riesigen, spiralförmigen, rotierenden Gebilde gehören, das wiederum nur eine von etwa hundert Milliarden anderen Galaxien darstellt in einem Weltall, das in einer gigantischen Respirationsbewegung über Äonen hinweg expandiert und kontrahiert – ein Schauspiel, dessen Dimensionen alle Vorstellungskraft übersteigen.

Und auf seiner rasenden Irrfahrt durch diese gespenstische Kulisse reißt dieser Splitter aus Sternenstaub namens Erde Milliarden von wimmelnden Wesen mit sich: Langusten, Würmer, Bazillen, Wale, Schnecken, Skorpione, Affen, Nashörner, Tintenfische, Viren, Giraffen, Aale, Nilpferde und Menschen.

Es sind Gebilde unglaublicher Komplexität, mit Skeletten oder Chitinpanzern als tragenden Strukturen, mit Fleischwülsten, Bändern, Haut, Pumpen, Ventilen, unendlich fein verästelten flexiblen Rohrleitungen, hochkomplexen neuronalen Netzen, Übertragungsbahnen für elektro-chemische Impulse, Vorrichtungen zur Erzeugung von Geräuschen, Systemen zum Empfang dieser Geräusche, Linsen, Verschlusssystemen für diese Linsen, Raffinerien zur chemischen Aufbereitung von zerkauten Pflanzen oder ganzer lebender Wesen sowie zum Abbau und Entsorgen von Resten, Vorrichtungen zum Laufen, Fliegen, Schwimmen, Greifen, Fangen, Beißen, Zerkleinern, Zermahlen …

Und alle diese Kreaturen mit irgendwelchen Funktionen und Absichten und Zielsetzungen, ständig in Bewegung, fressend, zeugend, spielend, lernend, lauernd, kämpfend, leidend, sterbend – ein unaufhörlicher Strom ständig entstehender und vergehender lebender Strukturen.

Und inmitten dieser aberwitzigen Versammlung seltsamster Wesen, durch unerklärliche Kräfte festgehalten auf diesem rotierenden, durch die Schwärze des Alls rasenden Gesteinsbrocken, gibt es eine Kreatur mit einer Befindlichkeit, deren Rätselhaftigkeit allen bisherigen Erklärungsversuchen kategorisch getrotzt hat: mich.

Wer bin ich?

Die Wirkung setzte immer urplötzlich ein, fast wie ein Schlag ins Gesicht, dessen Muskeln sich in Sekundenbruchteilen entspannten. In dieser tiefen Entspannung, die sich im ganzen Nervensystem ausbreitete, schien es, als ob sich die Zeit verlangsamte.

Es war, als ob der Fluss der Zeit grobkörniger würde. Die einzelnen Ereignisse wurden deutlicher, individueller. Man nahm nichts wahr, was man nicht auch sonst wahrgenommen hätte, aber alles erschien um ein Vielfaches intensiver und detaillierter. Anderseits schien man nur auf einen bestimmten Ausschnitt des Umfeldes konzentriert zu sein. Offenbar kam es zu einer Fokussierung auf einen eingeengten Bereich, so dass dieser mit umso größerer Deutlichkeit und Auflösung der Details ins Bewusstsein gelangen konnte.

Insofern handelte es sich eher um eine Bewusstseinsverengung als um eine Bewusstseinserweiterung. So konnte ich beispielsweise eine Blume minutenlang in sprachlosem Staunen ob solch eines Wunderwerks anstarren. Witze führten mitunter zu stundenlangen Lachkrämpfen. Die Aufnahme von flüssiger oder fester Nahrung wurde zum Erlebnis einer unglaublichen Vielfalt feinster Geschmacksnuancen.

Die Musik etwa eines Streichorchesters erschien als ein vollkommen transparentes Nebeneinander der einzelnen Instrumente. Es war mühelos möglich, die Polyphonie in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen und den separaten Melodien und Rhythmen zu folgen. Durch bewusste Konzentrationsübungen konnte man diese Auflösung in einzelne Stimmen noch so weit steigern, dass es schien, als ob die Zeit sich verlangsamte, bis hin zu dem aus der Zeit der Grammofone bekannten Effekt, der entsteht, wenn man die Platte mit zu geringer Geschwindigkeit laufen lässt.

Auch schien die Musik aus einem Bereich außerhalb und oberhalb des Kopfes zu kommen, und noch heute ist mir die felsenfeste Gewissheit in Erinnerung, mit der mir klar wurde, dass alle Musik eigentlich schon immer im Bewusstsein vorhanden war und die Instrumente lediglich die Wahrnehmung zu diesen Klängen öffneten, sie aber niemals selber hervorriefen.

Am meisten überraschte mich jedoch das Phänomen der sprachlosen Kommunikation. Ich erlebte zum Beispiel, dass der Redefluss einer Unterhaltung allmählich abebbte, obwohl das Gespräch mit unverminderter Intensität andauerte.

Nach einiger Zeit des äußerlichen Schweigens wurde meinem Gesprächspartner und mir die Seltsamkeit dieses Zustandes plötzlich und gleichzeitig bewusst, und ohne Worte verabredeten wir uns, für einen Moment wieder die Sprache einzuschalten, um zu überprüfen, ob wir uns tatsächlich noch über das Gleiche unterhielten. Und in der Tat: Das anschließende Gespräch war eine direkte Fortsetzung der rein gedanklichen Unterhaltung!

Wie weit dieses Erlebnis auf Gedankenübertragung beruhte oder auf dem mit höchster Aufmerksamkeit beobachteten Mienenspiel des Gegenübers, entzieht sich meiner Kenntnis. Diese Erfahrung hinterließ jedoch bei mir einen nachhaltigen Eindruck. Und dies umso mehr, als diesem Ereignis kurz darauf in der gleichen Runde ein weiteres folgte.

Ich hatte mich entschlossen zu gehen, und dabei fiel mir ein, dass ich meine Brille abgesetzt hatte, um insbesondere bei den weiblichen Anwesenden einen, wie ich meinte, besseren Eindruck zu machen. Als ich mich also mit dem Gedanken trug, die Brille aus meiner Tasche hervorzukramen, fiel mein Blick auf just solch eine weibliche Person, und was sah ich da: Sie hatte ihre Brille verkehrt herum auf der Nase! Mir schien es, dass sie meine Gedanken gelesen und meine Absicht erkannt hatte und mir dies auf diese Weise mitteilen wollte!

An das sich anschließende Gespräch kann ich mich nicht mehr...