Der Nachtjäger - Thriller

von: Sabine Klewe

Goldmann, 2018

ISBN: 9783641220730 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Nachtjäger - Thriller


 

Linus

Es war noch keine sieben Uhr, und der Morgen dämmerte grau, als ich wieder aufstand, mich an meinen Schreibtisch setzte und versuchte, so viel wie möglich aus dem Foto herauszuholen, das ich von der unbekannten Person im Vorgarten gemacht hatte. Das Bild war sehr grobkörnig, doch ich besaß ein Programm, das wahre Wunder bewirken konnte.

Während ich darauf wartete, dass die Software ihre Arbeit erledigte, starrte ich auf das bleifarbene Wasser, das nur wenige Zentimeter unterhalb des Bullauges gegen den Schiffsrumpf plätscherte, rieb mir die verfrorenen Hände und dachte, dass es Zeit wurde, den alten Kohleofen anzuschmeißen. Der Herbst war bisher mild gewesen, doch bald würde der Winter anklopfen. Die kalte Jahreszeit war nicht die gemütlichste auf dem Wasser. Nicht auf dem Rhein zumindest, und noch dazu in einem betagten Gefährt wie dem meinem, auf dem es durch jede Ritze zog.

Mein Boot war ein alter holländischer Frachtkahn, der vom Vorbesitzer auf den Namen Tramp getauft worden war. Er war ziemlich geräumig. Vom Steuerhaus aus ging es über eine Holzstiege unter Deck in einen Wohnraum mit Kochzeile, Esstisch und Sofa. Dahinter lag ein schmaler Gang, von dem das Arbeitszimmer, das Bad und das Schlafzimmer abzweigten. Ein weiterer kleiner fensterloser Raum lag ganz vorne im Bug. Dessen Tür hielt ich immer sorgfältig verschlossen.

Als sich endlich das hochgerechnete Bild vor mir aufbaute, klappte mir die Kinnlade herunter. Ungläubig betrachtete ich das Gesicht einer Frau mit mädchenhaften Zügen und dunklen mandelförmigen Augen. Es lag halb im Schatten der Kapuze ihres Pullis, die auch die Haare verbarg, war aber trotzdem recht gut zu erkennen. Die Frau war einige Jahre jünger als ich, höchstens dreißig, vermutete ich. Was mich am meisten überraschte, war jedoch der Rucksack oder, besser gesagt, das, was ich im Dunkeln für einen Rucksack gehalten hatte. Es war eine Art Dokumentenrolle, die sie an einem Gurt auf dem Rücken trug.

Und in dem Moment begriff ich.

Das Haus, das ich gestern stundenlang observiert hatte, um meine Zielperson beim illegalen Betreten zu erwischen, beherbergte eine der exquisitesten privaten Gemäldesammlungen des Rheinlandes. Eine Sammlung, der jetzt womöglich einige Stücke fehlten.

Zwei Stunden später kehrte ich an meinen Arbeitsplatz zurück, frisch geduscht und versorgt mit der Tageszeitung und einem Cappuccino aus einem Café, das im schickeren Teil des Hafens lag. Ich blätterte in der Zeitung, suchte nach einer Schlagzeile, in der ein Gemälderaub erwähnt wurde, obwohl ich wusste, dass es dafür noch zu früh war.

Stattdessen stieß ich auf einen Artikel, der mich Hals über Kopf in die Vergangenheit katapultierte.

Gebeine vermutlich von verschwundenem Maik

Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus

Die menschlichen Überreste, die vor einer Woche in einem Waldstück in der Eifel von Wanderern gefunden wurden, stammen wahrscheinlich von dem kleinen Maik Wilkens, der vor zwanzig Jahren spurlos verschwand. Im Sommer 1998 spielte der achtjährige Junge mit Freunden auf der Wiese hinter dem Hof seiner Eltern in Olefthal. Nach einem Streit gingen die anderen beiden fort, Maik blieb allein zurück. Was danach geschah, ist bis heute ein Rätsel. Der Junge tauchte nicht mehr auf, selbst eine groß angelegte Suchaktion mit Spürhunden und einer Hundertschaft der Polizei blieb ohne Ergebnis.

Nun scheint sicher, was die Eltern all die Jahre befürchtet haben. Ihr Sohn ist tot. Ob ein Verbrechen vorliegt, konnte die Polizei bisher noch nicht sagen, auch die Todesursache konnte anscheinend noch nicht ermittelt werden. Erik Hoffmann, ehemaliger Kriminalkommissar und seit Kurzem Bürgermeister von Olefthal, versprach, sich höchstpersönlich darum zu kümmern, dass der Fall aufgeklärt wird und die Familie endlich Gewissheit darüber bekommt, was damals mit ihrem Sohn geschah.

Ich erinnerte mich dunkel an den Fall. Zu der Zeit lebte ich schon nicht mehr in Olefthal, war für meine Polizeiausbildung nach Düsseldorf gegangen, gemeinsam mit Erik Hoffmann, den ich seit der Grundschule kannte. Zwei Jungs aus der Eifel, die glaubten, die Welt zu kennen, weil sie samstagabends wie die Kings mit dem Mofa in die Disco nach Zingsheim gefahren und sich dabei unheimlich cool vorgekommen waren.

Wir waren beide bei der Kripo gelandet, ich in der Mordkommission, Erik bei der Organisierten Kriminalität. Irgendwann hatte er sich nach Aachen versetzen lassen, und wir hatten uns aus den Augen verloren.

Offenbar hatte auch Erik inzwischen das Handtuch geworfen, war nicht mehr bei der Polizei, sondern in die Fußstapfen seines Großvaters getreten und in die Politik gegangen.

Den kleinen Maik hatte ich nicht gekannt, nur seine ältere Schwester Franziska, die auf die gleiche Schule ging wie ich. Jetzt waren also die sterblichen Überreste aufgetaucht. Je nachdem, welche Spuren sich daran fanden, standen die Chancen gar nicht so schlecht, dass der Täter endlich zur Rechenschaft gezogen würde.

Ich schlug die Zeitung zu, schob die Erinnerungen weg und zog den Laptop zu mir heran. Auf dem Bildschirm flimmerte noch immer das grobkörnige Foto mit dem Gesicht der unbekannten Frau. Nachdenklich betrachtete ich es. Im Nachhinein ärgerte es mich, dass ich ihr nicht gefolgt war. Auftrag hin oder her, das hier war ein Rätsel nach meinem Geschmack. Ich überlegte gerade, ob eine Bildersuche im Internet mir weiterhelfen könnte, als eine Bewegung mich innehalten ließ. Das Boot wankte, ich war nicht allein an Bord!

Ich starrte die Frau auf dem Bildschirm an. War es möglich, dass sie mich gestern Nacht im Vorgarten bemerkt hatte? Dass sie mir in den Hafen gefolgt war? Dass sie sicherstellen wollte, dass es keinen Zeugen gab, der sie auf dem Grundstück gesehen hatte?

Kurz entschlossen nahm ich die Walther aus der Schreibtischschublade und entsicherte sie. So geräuschlos wie möglich schlich ich durch den engen Gang in den großen Wohnraum und auf die Holzstiege zu, die an Deck führte. Das Boot wankte noch immer. Wer auch immer mein ungebetener Gast war, kannte sich offenbar nicht mit Booten aus, ahnte nicht, wie sehr jeder Schritt das Gefährt zum Schaukeln brachte. Oder er wollte bemerkt werden.

Die Stiege führte ins Ruderhaus, das rundherum verglast war, und von dort aufs offene Deck. Sobald ich oben auftauchte, würde der Eindringling mich sehen. Ich musste schnell sein.

Ich horchte ein letztes Mal, glaubte, das Klappern von Absätzen zu vernehmen, dann setzte ich den Fuß auf die erste Stufe.

Mit wenigen Schritten stürzte ich nach oben, stieß die Tür des Ruderhauses auf und hob die Waffe. »Hände hoch!«

Im gleichen Moment stutzte ich. An der Reling stand eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hielt eine Zigarette in der Hand und blinzelte mich irritiert an.

»Was wollen Sie hier?«, fuhr ich sie an und senkte die Waffe.

»Herr Roth?« Sie wirkte nicht im Geringsten beeindruckt von meinem Auftritt.

Ich betrachtete sie. Mitte dreißig, blonde Mireille-Mathieu-Frisur, die ihr etwas Gouvernantenhaftes verlieh, schwarzer Mantel, enger Rock, hohe Absätze. Attraktiv, aber auf eine unterkühlte Art. »Und wer sind Sie?«

Sie nahm einen letzten Zug, warf die Zigarette ins Wasser und lächelte. »Catrin Wertheim.«

Ich ignorierte die ausgestreckte Hand. »Was machen Sie auf meinem Boot?«

»Oh, entschuldigen Sie. Ich dachte, na ja, ich wollte nicht einbrechen, falls Sie das denken. Ich brauche Ihre Hilfe. Sie sind doch der Privatdetektiv? Spezialisiert darauf, Menschen zu finden, die abgetaucht sind?«

Ich steckte die Waffe weg. »Bin ich.«

»Dann möchte ich Sie engagieren.«

Normalerweise tauchten meine Klienten nicht einfach so ungebeten auf meinem Boot auf, aber ich war nicht in der Situation, wählerisch zu sein. Es gab viele Privatdetektive, aber nur wenige lukrative Jobs. Ständig untreue Ehepartner zu observieren war zudem nervtötend langweilig. Deshalb hatte ich mich darauf spezialisiert, verschwundene Personen zu finden. Die Jagd reizte mich. Das war schon so, als ich noch bei der Polizei war. Deshalb hatten mir die Kollegen den Spitznamen »der Gepard« verpasst. Ein Gepard ist sehr ausdauernd, während er seiner Beute auflauert. Und bei der Jagd verausgabt er sich so sehr, dass er danach am Ende seiner Kräfte ist. Aber er kriegt immer seine Beute. Er ist der erfolgreichste aller Jäger.

Weil ich das Fieber der Jagd so genoss, war ich besonders gut darin, verschwundene Menschen aufzuspüren. Und die Tatsache, dass ich unter den Exkollegen noch ein paar Freunde hatte, half mir, an Informationen zu kommen, die für Privatpersonen schwer zugänglich sind. Deshalb hatte ich mir in den vergangenen zwei Jahren einen Ruf als unerbittlicher Menschenjäger erarbeitet.

Allerdings hatte ich ein Prinzip: Wenn ich während meiner Ermittlungen den Eindruck gewann, jemand wäre aus gutem Grund untergetaucht, lieferte ich ihn nicht aus. Dann cancelte ich den Job und gab meinem Auftraggeber das Geld zurück.

»Also gut«, sagte ich. »Kommen Sie.« Ich hielt der Frau die Tür zum Ruderhaus auf. Hier hatte ich eine Art Empfangszimmer eingerichtet. Ein niedriger Tisch, zwei Armstühle aus Stahlrohr und Leder, ein kleines Schränkchen mit Gläsern und ein paar feinen Flaschen Single Malt für ausgesuchte Gäste. Denn auch die bat ich normalerweise nicht hinunter in mein Wohnzimmer. In den Bauch meines Bootes durften...