Sturm - Thriller

von: Uwe Laub

Heyne, 2018

ISBN: 9783641191153 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Sturm - Thriller


 

1

BERLIN

Daniel Bender schloss die Augen und wünschte sich weit weg. Bis vor einer halben Stunde war er noch in absoluter Hochstimmung gewesen, voller Energie, bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Dieser Samstagnachmittag entwickelte sich jedoch zu einem echten Albtraum, und das lag keinesfalls nur am Wetter, das sich beständig verschlechterte. Mit einem Auge beobachtete Daniel die rasch aufquellenden Gewitterwolken über dem Berliner Olympiastadion, aber das wahre Grauen spielte sich auf dem Spielfeld ab. Der FC Bayern hatte gerade das 3:0 erzielt, dabei war noch nicht einmal Halbzeit. Daniel warf Ben einen Blick zu, der neben ihm stand und seinen Hertha-BSC-Schal um Augen und Ohren gewickelt hatte. Sein Kumpel litt wie ein Hund. Daniel klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Noch ist nichts verloren.«

Ben zog den Schal herunter. »Heb dir solche Sprüche für deine Zuschauer auf.« Er sah Daniel vorwurfsvoll an und blickte dann flehend gen Himmel.

Daniel erwiderte nichts. Nach dem Spiel, bei einem kühlen Bier, würde Ben sich schon wieder beruhigen. Daniel zupfte an seinem Trikot. Es klebte am Körper. Die für diese Jahreszeit ungewöhnlich schwülwarme Luft machte ihm zu schaffen. Seit Tagen ging das schon so. Die Boulevardpresse sprach bereits von einer »Hitzewelle«. Die übliche Übertreibung. Daniel betrachtete die Sache etwas nüchterner. Er wusste, dass für die momentane Hochdrucklage eine Blocking-Situation verantwortlich war, wie Meteorologen dieses Phänomen nannten. Dabei lenkten stabile Hochdruckgebiete in der oberen Troposphäre Tiefdruckgebiete links und rechts von sich ab und sorgten somit für »Schönwetterinseln«, die sich mit Durchmessern von über zweitausend Kilometern über große Teile Europas erstrecken konnten. Eigentlich eine tolle Sache. Wie so viele Menschen sehnte sich Daniel jedoch allmählich etwas Abkühlung herbei. Er folgte Bens Beispiel und blickte nach oben.

Die Wolkenmasse hatte sich zu einer imposanten Säule in den Himmel erhoben. Daniel zog eine Grimasse. Eine Cumulonimbuswolke mit ausgeprägter Amboss-Form verhieß nichts Gutes. Tatsächlich erklang jetzt ein dumpfes, lang gezogenes Donnergrollen und schwoll mit einer solchen Intensität an, dass es sogar die Fan-Gesänge auf den Tribünen übertönte.

Daniel blickte entlang des Stadionovals durch die Öffnung über dem Marathontor, in Richtung des Glockenturms. Dieser befand sich etwa zweihundert Meter vom Stadion entfernt, am Ende einer weitläufigen Rasenfläche, dem Maifeld. Von seinem Platz in der Ostkurve aus konnte Daniel den oberen Teil des Turms gut erkennen. Mit offenem Mund starrte er auf die schwarze Wolkenwand, die sich urplötzlich von der Unterseite der Gewitterwolken im Westen absenkte, bis sie so knapp über dem Boden hing, dass sie fast an der Spitze des siebenundsiebzig Meter hohen Turms kratzte.

Eine Wallcloud, dachte er. Aber das ist unmöglich.

Ein greller Blitz zuckte vom Himmel, unmittelbar gefolgt von einem krachenden Donnerschlag. Die gesamte Tribüne erzitterte.

»Wow«, kommentierte Ben.

Keiner achtete mehr auf das Spiel. Alle starrten nach oben. Viele zeigten mit ausgestreckten Fingern auf die tief hängende Wolkenwand über dem Glockenturm, andere filmten das Geschehen mit ihren Handys. Auch Daniel zückte jetzt sein Handy. Gut möglich, dass er sich hier in den nächsten Minuten interessantes Bildmaterial für seine nächste Show sichern konnte.

Es begann zu schütten. Blitze erhellten den Himmel, einer greller als der andere. Donnerschläge krachten durch die Luft, laut wie der Knall von Düsenjägern beim Durchbrechen der Schallmauer. Ein Blitz schlug in die Spitze des Glockenturms ein, wo sich die über vier Tonnen schwere Olympiaglocke befand. Daniel meinte zu sehen, wie sie vor dem pechschwarzen Hintergrund für einen Augenblick rot aufglühte.

Wind kam auf. Mit zunehmender Sorge beobachtete Daniel, wie die Wolken über ihnen anfingen zu rotieren. Rasch kristallisierte sich die rundliche Struktur einer Gewitterzelle heraus, deren Ausmaße so riesig waren, dass sie ganz Charlottenburg bedecken musste. Die Rotation nahm Fahrt auf. Täuschte sich Daniel, oder hing plötzlich ein chlorähnlicher Geruch in der Luft? Ozon, schoss es ihm durch den Kopf.

Noch lief das Spiel weiter, aber es würde garantiert jeden Moment abgepfiffen werden. Während Daniel überlegte, ob es allmählich Zeit wurde, die Tribüne zu verlassen, schlug ein greller Blitz mit ohrenbetäubendem Knall in die im Runddach des Stadions integrierte Flutlichtanlage über der Westkurve ein. Funken sprühten, Metall- und Glassplitter regneten auf die Menge herab. Menschen schrien auf. Die Flutlichtanlage fiel aus, und mit einem Schlag wurde es dunkel im Oval. Die Spieler flüchteten in die Kabinen. Daniels Hauptaugenmerk aber galt der Westkurve, wo jetzt Panik einsetzte.

Tausende Menschen schienen mit einem Mal nur noch von einem einzigen Gedanken erfüllt: Nichts wie raus hier! Die Menge strebte auf die Ausgänge zu. Die ersten Zuschauer, die das trügerische Glück hatten, nahe bei den Ausgängen zu sitzen, es aber nicht schnell genug durch die Absperrungen schafften, wurden bereits von der stetig nachrückenden Menge gegen die Absperrungen gequetscht. Gellende Schreie waren zu hören, die das allgemeine Gebrüll übertönten. Mit erschreckender Klarheit begriff Daniel, dass heute, hier und jetzt, Menschen sterben würden. Er stoppte die laufende Videoaufnahme und steckte das Handy in seine Hosentasche.

»Das gibt’s doch nicht!«, rief Ben aus. Er boxte Daniel mit dem Ellbogen in die Rippen und deutete in Richtung Glockenturm.

Daniel musste sich zwingen, den Blick von der wogenden Menschenmasse in der Westkurve abzuwenden, aber kaum hatte er den Grund für Bens Aufregung erblickt, kam ihm alles andere belanglos vor.

»Heilige Madonna«, flüsterte er. Er stand wie hypnotisiert da, unfähig, sich zu bewegen, und beobachtete das Geschehen, das sich rund um den Glockenturm abspielte.

Die tief hängende Wolkenwand veränderte ihre Struktur und formte sich zu einem gigantischen Trichter. Das schmale Ende der Trichterwolke verlängerte sich und glich bald einem Rüssel, der sich unaufhaltsam dem Erdboden näherte. Daniel schnappte nach Luft. Nicht einmal während seines Auslandssemesters an der School of Meteorology in Oklahoma hatte er die Geburt eines Tornados aus so geringer Distanz mitangesehen. Unfassbar, dies mitten in Deutschland zu erleben.

Unaufhörlich näherte sich der Rüssel dem Maifeld. Schließlich kam es zum Kontakt. Touchdown. Gras, Erde und alles, was auf dem Rasen herumlag, wurde aufgewirbelt und gnadenlos in die Höhe gerissen. Wild zuckend begann der Tornado mit lautem Brausen eine zerstörerische Schneise in das Maifeld zu schlagen.

Zunächst schien es, als würde er sich in einem rechten Winkel zum Olympiastadion entfernen. Sekunden später jedoch änderte er seine Zugbahn und rotierte auf den Glockenturm zu. Der schmale Turm hatte der Urgewalt des Tornados nichts entgegenzusetzen. Unter dem Einfluss der mächtigen Winde zerbarst er in tausend Stücke. Beton, Ziegel und Mauerreste stoben in alle Richtungen davon. Die größeren Trümmer fielen zu Boden, die kleineren, leichteren Bruchstücke wurden von den Aufwinden in die Höhe gerissen, nur um kurz darauf wie Geschosse ausgespuckt zu werden. Die mächtige Glocke stürzte in die Tiefe und durchbrach das Dach der direkt darunter befindlichen Langemarckhalle. Daniel blieb keine Zeit, um darüber nachzudenken, ob die Glocke Menschen unter sich zerquetscht haben mochte, denn der Tornado näherte sich dem Stadion.

Die meisten Zuschauer waren bislang auf den Tribünen geblieben, doch jetzt änderte sich die Situation. Allen wurde schlagartig bewusst, dass sie sich in akuter Lebensgefahr befanden. Innerhalb weniger Sekunden waren sämtliche Ausgänge verstopft. Nichts ging mehr.

Inzwischen war es dunkel, als wäre schlagartig die Nacht hereingebrochen. Starkregen durchmischt mit Hagel prasselte auf die Menschen nieder. Daniel riss schützend seine Arme nach oben. Alles in ihm schrie nach Flucht, aber ein Blick zu den verstopften Ausgängen verriet ihm, dass jeder Versuch rauszukommen aussichtslos war. Ihm wurde klar: Wenn der Tornado seine Zugbahn beibehielt, würde es ihn und Ben erwischen.

Überall versuchten sich die Leute rücksichtslos in Sicherheit zu bringen. Auf dem Weg in die vermeintlich sicheren Katakomben stießen Männer Frauen und Kinder beiseite, nur um kurz darauf festzustellen, dass sie gegen eine Wand von Hunderten Menschen chancenlos waren. Der Tornado erreichte das Stadion und streifte dabei die linke Säule des Marathontors. Sie zerbröselte, als wäre sie aus Sand gebaut. Beton und Mörtel spritzten in alle Richtungen. Zuschauer sanken zu Boden, getroffen von scharfkantigen Splittern. Doch das wahre Grauen setzte jetzt erst ein. Der Tornado erfasste die ersten Menschen. Sie wurden eingesaugt, schreiend in die Luft gewirbelt und wieder ausgespuckt. Aus mehreren Metern Höhe stürzten sie zu Boden, wo sie reglos liegen blieben.

Das Brausen des Tornados steigerte sich zu einem infernalischen Kreischen. Es erinnerte Daniel an einen Güterzug, der mit angezogenen Bremsen an ihm vorbeiraste. Er ging in die Hocke und krümmte sich zusammen, die Hände zum Schutz gegen den Hagel weiterhin über den Kopf haltend.

Daniel wusste nicht, wie lange er so dagehockt hatte, aber endlich zog das Monstrum fort von der Tribüne, auf das inzwischen verwaiste Spielfeld. Dort zerlegten die mörderischen Winde ein Tor in seine Einzelteile, als bestünde es aus...