Bruderlüge - Thriller

von: Kristina Ohlsson

Limes, 2017

ISBN: 9783641181529 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Bruderlüge - Thriller


 

2

Die Lebenden und die Toten. Dass die Unterscheidung aber auch so haarscharf sein musste. So schmerzhaft und erschreckend. Wann immer ich Albträume gehabt hatte, war ich hinterher zutiefst erschöpft. Das wird man, wenn man zweier Morde verdächtigt wird, eine wahnwitzige Blitzreise nach Texas unternommen und dann seine Tochter verloren und wiederbekommen hat. Ich hatte kein Gefühl mehr dafür, wie viel Zeitdruck auf dem Auftrag lag, Mio zu finden. Und es war mir ehrlich gesagt auch egal. Zumindest anfänglich. Der Bibel zufolge wurde die Erde in sechs Tagen erschaffen. Am siebten Tag ruhte Gott. Wir gingen es andersherum an – sechs Tage lang ruhten Lucy und ich uns aus. Dann fingen wir an zu arbeiten. An einem Sonntag.

»Was willst du zuerst tun?«, fragte sie.

Das war eine gute Frage.

»Versuchen, ihm ein Gesicht zu geben. Und den Ort besuchen, an dem er verschwunden ist. Die Kindertagesstätte.«

Ich hatte bislang keine Ahnung, wie Mio ausgesehen hatte. War er klein oder groß für sein Alter gewesen? Dick oder dünn? Lange Haare, kurze? Es störte mich, dass so viel Zeit vergangen war, ehe mir überhaupt gedämmert hatte, dass es kein einziges Bild von ihm gab. Nicht in einem einzigen Zusammenhang war mir ein Foto von dem Jungen begegnet. Nicht in den Vorermittlungen, nicht in den Medien. Zuvor hatte ich gute Verbindungen zur Polizei gehabt und hätte jederzeit eine Antwort auf die Frage bekommen können, wohin zum Teufel sämtliche Fotos von Mio verschwunden waren (wenn es überhaupt je welche gegeben hatte). Doch derartige Verbindungen existierten nicht mehr. Außerdem wollte ich keinesfalls die Aufmerksamkeit der Polizei erregen.

Wer mochte außer der Polizei noch ein Bild von Mio haben? Es gab eine Großmutter und eine Tante mütterlicherseits. Jeanette und Marion. Ich versuchte, zu beiden Kontakt aufzunehmen. Keine rief zurück. Die Stunden vergingen. Verdammter Mist. Ich hatte noch andere wichtige Dinge zu tun. Zum Beispiel den Ort zu besuchen, an dem Mio zuletzt gesehen worden war.

Das Auto heulte auf. Mein rattenscharfer Porsche 911. Er roch immer noch nach Leder, als wäre er fabrikneu. Ansonsten fühlte er sich nicht sonderlich neu an. Schicke Autos eignen sich nicht gerade gut für kleine Kinder. Belle gab sich wirklich alle Mühe, trotzdem hatte sie überall Spuren hinterlassen. Allerdings war Belle hier kaum das größte Problem. Nach allem, was geschehen war, machte es einfach nicht mehr allzu viel Spaß, zu fahren. Nach unserer Rückkehr aus Texas hatte ich die Jungs von Boris – dem Mafiaboss – das Auto absuchen lassen, und sie hatten einen Sender ausfindig gemacht, den die Polizei angebracht hatte, um mich im Blick behalten zu können. Um meinen Widersachern das Leben ein bisschen schwerer zu machen, hatten Boris’ Jungs den Sender daraufhin unter einem Kurierwagen installiert. Mein neues Bewegungsmuster würde den Ermittlern sicher Rätsel aufgeben.

Inzwischen war es bereits Nachmittag, und ich holte erst mal Belle ab. Anschließend würde ich mit ihr in den Süden der Stadt fahren. Belle hatte den Tag bei ihrer Großmutter, meiner Mutter Marianne, verbracht. Als klar wurde, dass wir nicht direkt nach Hause fahren würden, war sie schier aus dem Häuschen. Sie sprühte nur so über vor Begeisterung. Manchmal erschreckte mich ihr kurzes Gedächtnis zu Tode. Wie konnte sie so fröhlich sein? Es war gerade erst eine knappe Woche her, seit ihre anderen Großeltern bei einem Brand ums Leben gekommen waren und irgendjemand sie selbst gekidnappt hatte. Hätte sie nicht außer sich sein müssen vor … was weiß ich … Trauer, Angst, Sorge? Der Entführung selbst maß ich keine allzu große Bedeutung zu. Belle war keine achtundvierzig Stunden lang verschwunden gewesen und hatte wahrscheinlich die meiste Zeit davon mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt geschlafen. Dass sie davon nichts mehr wusste, war natürlich klar. Aber an ihre Großeltern erinnerte sie sich noch und fragte manchmal nach ihnen. Die hätte sie also betrauern müssen. Vermissen. Fand ich, der ein Erwachsener war.

Belles Perspektive war da eine andere. Ich hatte ihr erklärt, dass Oma und Opa weg seien und nie wiederkommen würden. Nun ist Belle kaum älter als vier Jahre. Worte wie »nie« versteht sie nicht. Sie begreift nicht, dass manche Dinge oder Zustände für alle Zeiten gelten.

»Sie sind gestorben«, sagte ich. »Genau wie deine Mama und dein Papa.«

Und Belle nickte verständig und völlig unsentimental. Sie weiß, dass ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind, als sie ein Baby war. Sie weiß, dass ich nicht ihr richtiger Papa bin, sondern ihr Onkel. Aber das heißt nicht, dass sie versteht, was meine Erklärung bedeutet. Sie versteht nicht, dass sie ein ganz anderes Leben gehabt hätte, wenn meine Schwester und mein Schwager nicht gestorben wären. Ein anderes Leben mit zwei anwesenden, hingebungsvollen Eltern, die im Sommer gerne grillten und eine Hütte auf Öland mieteten, die im Winter Ski fuhren und sich an den Wochenenden Filme ausliehen. Normale Menschen mit einem normalen Leben und normalen Sorgen. Die andere Familien mit Kindern zum Abendessen einluden und ihr garantiert noch ein, zwei Geschwister verschafft hätten.

Ich parkte den Wagen ungefähr einen Häuserblock entfernt von dem Ort, zu dem wir hinwollten.

»Hier steigen wir aus«, sagte ich und half ihr aus dem Auto.

Ich nahm ihre Hand, als wir den Bürgersteig entlanggingen. Sie war ihrer Mutter wirklich ähnlich. Das war mir nie zuvor so deutlich aufgefallen, aber so war es. Und ist es immer noch. Vom Aussehen her ist Belle ganz ihre Mutter.

»Wo gehen wir denn hin?«, fragte sie.

»Wir gehen nur bei einer Tagesstätte vorbei«, antwortete ich.

Bei Mios Tagesstätte. Dem Trollgarten. Aber das sagte ich ihr nicht.

Eigentlich hätte ich an der Tagesstätte auch vorbeifahren können, bevor ich Belle abholen ging, aber ich wollte sie dabeihaben. Das sah besser aus. Männer, die spätnachmittags um eine Kindertagesstätte herumschleichen, wirken verdächtig, vor allem wenn sie aussehen wie ich: schwarz und groß. Die Hautfarbe ist in Schweden immer noch der höchste Trumpf. Es spielt keine Rolle, dass ich ein schweineteures Hemd und handgefertigte Schuhe aus Mailand trage. Wenn andere Schweden mich sehen, dann denken sie mitnichten als Erstes: Der hat Erfolg.

Auf dem Spielplatz der Tagesstätte spielten noch ein paar wenige Kinder. Womöglich gab es nicht viele andere Spielplätze in der Nähe, und deshalb musste auch am Sonntag der von der Tagesstätte herhalten. Die Sonne stand recht hoch am Himmel. Man konnte den Sommer noch ein wenig genießen, zumindest wenn man Zeit hatte. Ich hatte keine.

Belle sah die Kinder interessiert an.

»Sollen wir mit denen spielen?«, fragte sie und machte einen Schritt in deren Richtung.

Automatisch verstärkte sich mein Griff um ihre Hand.

»Nein«, sagte ich. »Wir gehen nur vorbei.«

Wenn Belle nicht verstand, was es hieß, dass ihre Eltern tot waren, dann verstand sie unter Garantie auch nicht, was daran toll sein sollte, an einem Spielplatz vorbeizuspazieren, ohne hingehen und mitmachen zu dürfen.

»Warum?«, fragte sie.

Ich konnte ihr anhören, dass die Fröhlichkeit in Enttäuschung und Schmollen umschlug. Der Umschwung kam so schnell wie Sonne und Schnee im April.

»Weil wir die Kinder auf dem Spielplatz nicht kennen.«

Ich war mit meiner Antwort zufrieden und Belle womöglich auch, zumindest schwieg sie.

Als wir am Tor zur Tagesstätte angekommen waren, wurde ich langsamer. Nicht so sehr, als dass wir gleich stehen geblieben wären, aber doch genug, um meine Beobachtungsgabe mal wieder auf den Prüfstand zu stellen. Fotos zu machen war keine Option. Wenn ich Bilder bräuchte, müsste ich später noch mal zurückkommen.

Hier ist er verschwunden, dachte ich.

Aber wie?

Kinder verschwanden nicht. Sie gingen verloren, weil Erwachsene nicht richtig auf sie aufpassten. Ich hatte den Ermittlungsbericht gelesen, den die Polizei zu Mios Verschwinden angefertigt hatte. Die Erzieherinnen hatten von einem ganz normalen Tag berichtet. Mio war von seinen Pflegeeltern am Morgen gebracht worden, er war leicht verschnupft und müde gewesen, aber bis zum Mittagessen war es ihm wieder ein bisschen besser gegangen. Um vierzehn Uhr hatten die Betreuer die Kinder angezogen und waren mit ihnen rausgegangen. Eine Stunde später hatten sie draußen eine Zwischenmahlzeit eingenommen, obwohl es Herbst und kühl gewesen war. Doch die Sonne hatte so schön geschienen, und die Kinder hatten so nett gespielt. Es war, wie eine der Erzieherinnen es formuliert hatte, alles sehr friedlich zugegangen.

Vielleicht lag da genau das Problem. Dass alles so friedlich gewesen war. Vielleicht hatte das die Betreuer eingelullt, und zwar so sehr, dass sie am Ende nicht bemerkten, dass eins der Kinder plötzlich nicht mehr da war. Und zwar so lange nicht, bis die Pflegemutter kam, um es abzuholen. Da war die Sonne mittlerweile weg, und niemand wusste, was passiert war.

Ich ließ den Blick über den Hof schweifen. Das Gelände war von einem sicher siebzig Zentimeter hohen Metallzaun umgeben. Im Beet davor wuchsen Büsche, doch die verdeckten nicht den ganzen Zaun. Eine erwachsene Person, die ein Bein über den Zaun schwingen wollte, konnte das sicherlich leicht tun, ohne sich in den Pflanzen zu verheddern. Doch ein vier Jahre altes Kind? Wohl kaum.

Ich suchte nach Schwachstellen. Ein Loch im Zaun oder eine Stelle, wo er ganz fehlte. Es gab keine solchen Stellen. Als Mio die Tagesstätte zum letzten Mal verlassen hatte, musste er durchs Tor...