Lassiter 2310 - Der Kutscher

von: Jack Slade

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732538591 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Lassiter 2310 - Der Kutscher


 

Doch wer hätte das ahnen können?

»Ich bin der stärkste Kerl zwischen dem Mississippi und den Rocky Mountains«, sagte Ben. Weder Lea noch Dave lachten, nur die Mutter sah von ihrem Strickzeug auf und schmunzelte.

»Der liebe Gott hat gefurzt«, sagte Ben. Der Vater riss die Augen auf und verpasste ihm eine Ohrfeige. »So etwas sagt man nicht!« Lea kämpfte mit ihrer Mimik, doch sie siegte. Und wieder lachte niemand.

Ben rieb sich ein paar Mal die Backe und schnitt Grimassen. Weder Lea noch Dave lachten. Die Concord fuhr durch Spurrillen, Pfützen und Steine; sie schaukelte mächtig in den Riemen.

»Dave ist ein Riesenfettarsch«, sagte Ben – und Lea brach in schallendes Gelächter aus.

Daves Vater holte schon wieder aus, doch Dave war schneller und haute seinem Bruder eine runter. Es stimmte zwar, dass er riesengroß und viel zu dick war, doch er hörte es nicht gern. Schon gar nicht von seinem kleinen Bruder.

Ben fing an zu heulen und schlug zurück. In diesem Moment fiel der erste Schuss.

Lea schrie, statt zu lachen, die Mutter warf sich schützend auf den heulenden Ben und der Vater griff nach dem Revolver unter seinem Frack. Glas splitterte zu beiden Seiten der Kutsche, als die Schüsse im Sekundentakt krachten.

Dave hockte starr und wie festgewachsen auf der Kante der Sitzbank. Draußen hörte er den Kutscher die Pferde anbrüllen und den Conductor fluchen. Hinter ihm schlugen Kugeln in den Gepäckschrank ein, und Hufschlag rückte näher und näher.

Seine Schwester packte Dave und riss ihn mit sich in den Fußraum der Kutsche, während ihr Vater aus dem Fenster in die Richtung schoss, aus der sie gekommen waren. Ben umklammerte die Mutter und brüllte immer nur: »Mom! Mom!«

Die Mutter reagierte nicht. Wie erschlafft hing sie über Daves kleinem Bruder, und obwohl ihr Blut auf Bens Gesicht tropfte, begriff Dave nicht, dass seine Mutter tot war.

»Suzanne!«, schrie sein Vater plötzlich und hörte auf zu schießen. »Gütiger Gott, Suzanne!« Er beugte sich über sie. Die Kutsche schaukelte bedrohlich und für einen Moment verdeckten Frackschöße Daves Gesicht.

Dann splitterte wieder Glas. Daves Vater schrie noch lauter, die Peitsche knallte, Geäst scheuerte gegen die Kutschentüre und der Hufschlag klang nun, als würden die Verfolger schon links und rechts neben der Concord reiten.

Der Vater hörte auf zu brüllen – von einem Augenblick auf den anderen. Er kippte in den Fußraum, stürzte auf Dave und seine Schwester.

Dave wühlte sich unter dem Körper seines Vaters heraus. Als er wieder etwas sehen konnte, blickte er in Leas Gesicht – wie aus Weizenteig geknetet sah es aus, schneeweiß. Die Faust um den Anhänger von Mutters Goldkette geschlossen – ein goldenes, mit Diamanten besetztes Kreuz –, starrte seine Schwester ihn an.

Niemals würde er diesen Ausdruck unendlicher Trauer in Leas grünen Augen vergessen.

Draußen peitschten Schüsse, brüllte der Kutscher, galoppierten Reiter neben der Concord her, und auf einmal sah Dave das schwarzbärtige Gesicht des Conductors am rechten Kutschenfenster vorbeifliegen. Einen Wimpernschlag später hörte er den Körper des Mannes an der Außenseite entlang scheuern und auf den Weg prallen.

Lea fing an zu weinen. Erst leise und schluchzend, dann immer lauter, bis sie ihre Panik und ihr Entsetzen schließlich hinausbrüllte. Das war der Augenblick, in dem Dave jede Hoffnung verlor.

Im Fußraum der Kutsche, neben dem Kopf seines toten Vaters, drängte er sich an sie, schloss sie in seine Arme, hielt sie fest, ganz fest.

All die Jahre, wenn er sich zurückerinnerte, oder auch in seinen Albträumen, glaubte er ihr pochendes Herz an seinem zu fühlen. All die Jahre war es in solchen Augenblicken, als würde er den Duft ihres blonden Haars riechen und ihr gellendes Geschrei schmerzlich dicht an seinem Ohr hören.

Plötzlich verstummte der Schusslärm. Kein Geschrei und keine Flüche mischten sich mehr in Hufschlag und Räderlärm. Doch immer noch schrammten Äste an den Kutschenfenstern vorbei. Die Concord schaukelte und schwankte, als wollte sie jeden Moment umstürzen.

Dave begriff: Sie hatten den Kutscher vom Bock geschossen; die Pferde gingen durch und rissen das Gefährt weiß Gott wohin.

Lea schrie und presste sich die Fäuste gegen die Schläfen. Mutters goldenes Diamantenkreuz rutschte über ihre Stirn. Von Ben und den Eltern war nichts zu hören. Auch aus Daves Kehle löste sich kein einziger Ton.

Die Kutsche prallte gegen einen Baum, machte einen Satz, rauschte durch Geäst und Gestrüpp und schrammte mit der linken Seite am nächsten Baum vorbei.

Das Gespann wieherte in Panik, die Concord neigte sich nach rechts, stürzte schließlich um und scheuerte noch zwei Atemzüge lang durch Unterholz und über Geröll.

Dann war es Dave, als würden sie fallen. Die Wucht des Aufpralls riss ihm seine Schwester aus den Armen und drückte den schweren Körper seines Vaters auf ihn. Dann war da nichts mehr, nur noch finsterste Nacht.

Es war dann tatsächlich dunkel, als er wieder zu sich kam. Wind rauschte in den Bäumen, ein Käuzchen schrie, ein Kojote heulte; sonst herrschte vollkommene Stille. Ein schwerer Körper lag auf ihm und wärmte ihn. Und drückte ihm schier die Luft ab.

Dave fragte sich damals, ob er tot war, daran erinnerte er sich später genau. Dass er noch lebte, vermutete er, weil ihm sein Kopf so furchtbar weh tat.

Stundenlang wagte er nicht, sich zu rühren. Die Körper seines kleinen Bruders und seiner Mutter über ihm wurden kalt und er begann zu frieren. Im ersten Morgengrauen tastete er sich durch das zerbrochene Fenster unter sich, berührte Geröll und rissige Erde.

Als es heller wurde, arbeitete er sich zwischen seiner toten Mutter und seinem toten Bruder nach oben und durch die offene rechte Kutschentür nach draußen. Seine Mutter war nackt.

Dave schluckte, stemmte sich aus der Fahrgastzelle, blinzelte nach allen Seiten. Die ersten Strahlen der Morgensonne fielen auf die Leiche seines Vaters. Sie hatten ihn bis auf die Unterhosen ausgezogen.

Dave weinte. Er kletterte aus der umgestürzten Kutsche in das ausgetrocknete Bachbett hinunter und suchte nach seiner Schwester, fand sie aber nirgends.

Weinend kletterte Dave aus dem Bachbett und stolperte durchs Unterholz zum Fahrweg. Dort lag der tote Kutscher. Ein paar hundert Schritte weiter auch der tote Conductor. Beide trugen nur noch ihre Unterwäsche.

Dave machte sich auf den Weg. Damals fragte er sich noch nicht, warum er überlebt hatte. Er marschierte bis zum Einbruch der Dunkelheit in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Bis die Palisaden und Dächer von Fort Atkinson vor ihm auftauchten.

***

Der Mann hieß Jefferson Bentley – General Jefferson Bentley. Er hatte langes weißes Haar, und sein sonnenverbranntes Gesicht sah aus, als hätten sich hundert Jahre im Sattel unter der Sonne von Texas darin eingegraben. Er empfing Lassiter in seinem Hotelzimmer.

Er und seine Krankenschwester. Jedenfalls hielt Lassiter die junge, aschblonde Frau für die Privatschwester des Veteranen.

»Wir haben es nicht nur mit hochgefährlichen Männern zu tun, Mr. Lassiter«, sagte Bentley, »sondern auch mit teuflisch schlauen Männern, wenn Sie wissen, was ich meine …«

»Lassiter, Sir. Einfach nur Lassiter.«

»… die Gunmen dieser Kerle jedenfalls sind teilweise namentlich bekannt. Bitte, Kathy.«

Er gab der aschblonden Frau im Sessel neben seinem Rollstuhl einen Wink. Sie zog ein pralles und großes Kuvert aus ihrer Handtasche und reichte es Lassiter.

Der General fuchtelte mit seinem Armstumpf. »Da steht alles drin, was wir bisher rausgefunden haben.« Er redete, als wäre er seit Jahren persönlich hinter den Banditen hier. Dabei war er sicher über 80 Jahre alt und hockte seit Ende des Bürgerkriegs einbeinig im Rollstuhl. »Auch Spesen und Honorar finden Sie selbstverständlich in diesem Kuvert, Mr. Lassiter.«

»Lassiter, Sir, einfach nur Lassiter.« Der Mann von der Brigade Sieben nahm das Kuvert entgegen, und die Aschblonde schenkte ihm ein Lächeln. »Danke, Ma’am.« Er setzte sein charmantestes Lächeln auf und hielt den Blick ihrer grauen Augen fest. Schöne Frau.

»Zwei ihrer Gunmen kennen wir namentlich, wie gesagt«, erklärte der alte General Bentley, Mittelsmann der Brigade Sieben hier unten in Houston. »Wir könnten sie beim nächsten Überfall schnappen, wenn wir wollten, doch wir wollen nicht. Die Köpfe der beiden Banden sind uns wichtiger als diese verfluchten kleinen Killer.«

»Zwei Banden, Sir?« Lassiter hakte lieber noch einmal nach.

»Von den beiden Bandenbossen wissen wir so gut wie nichts.« Bentley zog eine Zigarre aus der Brustasche und biss die Spitze ab. »Wir haben einen Verdacht, einen vagen.« Er wandte sich der Aschblonden zu. »Das ist auch schon alles.«

Kathy beugte sich über den Tisch und griff nach den Schwefelhölzern. Wie zufällig berührte ihr Fuß unter dem Tisch Lassiters Wade. Sie riss ein Zündholz an und gab dem Einarmigen Feuer.

»Verzeihen Sie, Sir.« Lassiter nahm den nächsten Anlauf. »Wir haben es mit zwei Banden von Zugräubern zu tun?«

»Ganz genau, Mr. Lassiter.« Kathy und Lassiter lächelten einander an. Bentley beobachtete seinen aufsteigenden Rauchring und merkte es nicht. »Zwei Banden von Zugräubern und Postkutschenräubern. Seit wir die bewaffneten Eskorten von Waffen und Goldtransporte auf den Gleisen verdoppelt haben, spezialisieren sie sich mehr und mehr auf Fuhrwerke der Army...