Anthropologie in pragmatischer Hinsicht - Naturlehre des Menschen

von: Immanuel Kant

e-artnow, 2016

ISBN: 9788026866572 , 198 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 1,99 EUR

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Anthropologie in pragmatischer Hinsicht - Naturlehre des Menschen


 

Von dem sinnlichen Dichtungsvermögen nach seinen verschiedenen Arten.

§ 31. Es giebt drei verschiedene Arten des sinnlichen Dichtungsvermögens. Diese sind das bildende der Anschauung im Raum (imaginatio plastica), das beigesellende der Anschauung in der Zeit (imaginatio associans) und das der Verwandtschaft aus der gemeinschaftlichen Abstammung der Vorstellungen von einander (affinitas).

A. 
Von dem sinnlichen Dichtungsvermögen der Bildung.

Ehe der Künstler eine körperliche Gestalt (gleichsam handgreiflich) darstellen kann, muß er sie in der Einbildungskraft verfertigt haben, und diese Gestalt ist alsdann eine Dichtung, welche, wenn sie unwillkürlich ist (wie etwa im Traume), Phantasie heißt und nicht dem Künstler angehört; wenn sie aber durch Willkür regiert wird, Composition, Erfindung genannt wird. Arbeitet nun der Künstler nach Bildern, die den Werken der Natur ähnlich sind, so heißen seine Producte natürlich; verfertigt er aber nach Bildern, die nicht in der Erfahrung vorkommen können, so gestaltete Gegenstände (wie der Prinz Palagonia in Sicilien), so heißen sie abenteuerlich, unnatürlich, Fratzengestalten, und solche Einfälle sind gleichsam Traumbilder eines Wachenden (velut aegri somnia vanae finguntur species). - Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns.

Das Spiel der Phantasie mit dem Menschen im Schlafe ist der Traum und findet auch im gesunden Zustande statt; dagegen es einen krankhaften Zustand verräth, wenn es im Wachen geschieht. - Der Schlaf, als Abspannung alles Vermögens äußerer Wahrnehmungen und vornehmlich willkürlicher Bewegungen, scheint allen Thieren, ja selbst den Pflanzen (nach der Analogie der letzteren mit den ersteren) zur Sammlung der im Wachen aufgewandten Kräfte nothwendig; aber eben das scheint auch der Fall mit den Träumen zu sein, so daß die Lebenskraft, wenn sie im Schlafe nicht durch Träume immer rege erhalten würde, erlöschen und der tiefste Schlaf zugleich den Tod mit sich führen müßte. - Wenn man sagt: einen festen Schlaf, ohne Träume, gehabt zu haben, so ist das doch wohl nicht mehr, als daß man sich dieser beim Erwachen gar nicht erinnere; welches, wenn die Einbildungen schnell wechseln, einem wohl auch im Wachen begegnen kann, nämlich im Zustande einer Zerstreuung zu sein, wo man auf die Frage, was der mit starrem Blicke eine Weile auf denselben Punkt Geheftete jetzt denke, die Antwort erhält: ich habe nichts gedacht. Würde es nicht beim Erwachen viele Lücken (aus Unaufmerksamkeit übergangene verknüpfende Zwischenvorstellungen) in unserer Erinnerung geben; würden wir die folgende Nacht da wieder zu träumen anfangen, wo wir es in der vorigen gelassen haben: so weiß ich nicht, ob wir nicht uns in zwei verschiedene Welten zu leben wähnen würden. - Das Träumen ist eine weise Veranstaltung der Natur zur Erregung der Lebenskraft durch Affecten, die sich auf unwillkürlich gedichtete Begebenheiten beziehen, indessen daß die auf der Willkür beruhenden Bewegungen des Körpers, nämlich die der Muskeln suspendirt sind. - Nur muß man die Traumgeschichten nicht für Offenbarungen aus einer unsichtbaren Welt annehmen.

B. 
Von dem sinnlichen Dichtungsvermögen de Beigesellung.

Das Gesetz der Association ist: empirische Vorstellungen, die nach einander oft folgen, bewirken eine Angewohnheit im Gemüth, wenn die eine erzeugt wird, die andere auch entstehen zu lassen. - Eine physiologische Erklärung hievon zu fordern, ist vergeblich; man mag sich auch hiezu was immer für einer Hypothese bedienen (die selbst wiederum eine Dichtung ist), wie der des Cartesius von seinen sogenannten materiellen Ideen im Gehirn. Wenigstens ist keine dergleichen Erklärung pragmatisch, d. i. man kann sie zu keiner Kunstausübung brauchen: weil wir keine Kenntniß vom Gehirn und den Plätzen in demselben haben, worin die Spuren der Eindrücke aus Vorstellungen sympathetisch mit einander in Einklang kommen möchten, indem sie sich einander (wenigstens mittelbar) gleichsam berühren.

Diese Nachbarschaft geht öfters sehr weit, und die Einbildungskraft geht vom Hundertsten aufs Tausendste oft so schnell, daß es scheint, man habe gewisse Zwischenglieder in der Kette der Vorstellungen gar übersprungen, obgleich man sich ihrer nur nicht bewußt geworden ist, so daß man sich selbst öfters fragen muß: wo war ich? von wo war ich in meinem Gespräch ausgegangen, und wie bin ich zu diesem Endpunkte gelangt?10

C. 
Das sinnliche Dichtungsvermögen der Verwandtschaft.

Ich verstehe unter der Verwandtschaft die Vereinigung aus der Abstammung des Mannigfaltigen von einem Grunde. - In einer gesellschaftlichen Unterhaltung ist das Abspringen von einer Materie auf eine ganz ungleichartige, wozu die empirische Association der Vorstellungen, deren Grund blos subjectiv ist (d. i. bei dem Einen sind die Vorstellungen anders associirt, als bei dem Anderen) - wozu, sage ich, diese Association verleitet, eine Art Unsinn der Form nach, welcher alle Unterhaltung unterbricht und zerstört. - Nur wenn eine Materie erschöpft worden, und eine kleine Pause eintritt, kann jemand eine andere, die interessant ist, auf die Bahn bringen. Die regellos herumschweifende Einbildungskraft verwirrt durch den Wechsel der Vorstellungen, die an nichts objectiv angeknüpft sind, den Kopf so, daß dem, der aus einer Gesellschaft dieser Art gekommen ist, zu Muthe wird, als ob er geträumt hätte. - Es muß immer ein Thema sein sowohl beim stillen Denken als in Mittheilung der Gedanken, an welches das Mannigfaltige angereiht wird, mithin auch der Verstand dabei wirksam sein; aber das Spiel der Einbildungskraft folgt hier doch den Gesetzen der Sinnlichkeit, welche den Stoff dazu hergiebt, dessen Association ohne Bewußtsein der Regel doch derselben und hiemit dem Verstande gemäß, obgleich nicht als aus dem Verstande abgeleitet, verrichtet wird.

Das Wort Verwandtschaft (affinitas) erinnert hier an eine aus der Chemie genommene, jener Verstandesverbindung analogische Wechselwirkung zweier specifisch verschiedenen, körperlichen, innigst auf einander wirkenden und zur Einheit strebenden Stoffe, wo diese Vereinigung etwas drittes bewirkt, was Eigenschaften hat, die nur durch die Vereinigung zweier heterogenen Stoffe erzeugt werden können. Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer Ungleichartigkeit doch so von selbst zu Bewirkung unserer Erkenntniß, als wenn eine von der anderen, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne.11

§ 32. Die Einbildungskraft ist indessen nicht so schöpferisch, als man wohl vorgiebt. Wir können uns für ein vernünftiges Wesen keine andere Gestalt als schicklich denken, als die Gestalt eines Menschen. Daher macht der Bildhauer oder Maler, wenn er einen Engel oder einen Gott verfertigt, jederzeit einen Menschen. Jede andere Figur scheint ihm Theile zu enthalten, die sich seiner Idee nach mit dem Bau eines vernünftigen Wesens nicht zusammen vereinigen lassen (als Flügel, Krallen oder Hufe). Die Größe dagegen kann er dichten, wie er will.

Die Täuschung durch die Stärke der Einbildungskraft des Menschen geht oft so weit, daß er dasjenige, was er nur im Kopf hat, außer sich zu sehen und zu fühlen glaubt. Daher der Schwindel, der den, welcher in einen Abgrund sieht, befällt, ob er gleich eine genugsam breite Fläche um sich hat, um nicht zu fallen, oder gar an einem festen Geländer steht. Wunderlich ist die Furcht einiger Gemüthskranken vor der Anwandelung eines inneren Antriebes, sich wohl gar freiwillig herunterzustürzen. - Der Anblick des Genusses ekeler Sachen an anderen (z. B. wenn die Tungusen den Rotz aus den Nasen ihrer Kinder mit einem Tempo aussaugen und verschlucken) bewegt den Zuschauer eben so zum Erbrechen, als wenn ihm selbst ein solcher Genuß aufgedrungen würde.

Das Heimweh der Schweizer (und wie ich es aus dem Munde eines erfahrnen Generals habe, auch der Westphäler und der Pommern in einigen Gegenden), welches sie befällt, wenn sie in andere Länder versetzt werden, ist die Wirkung einer durch die Zurückrufung der Bilder der Sorgenfreiheit und nachbarlichen Gesellschaft in ihren Jugendjahren erregten Sehnsucht nach den Örtern, wo sie die sehr einfachen Lebensfreuden genossen, da sie dann nach dem spätern Besuche derselben sich in ihrer Erwartung sehr getäuscht und so auch geheilt finden; zwar in der Meinung, daß sich dort alles sehr geändert habe, in der That aber, weil sie ihre Jugend dort nicht wiederum hinbringen können; wobei es doch merkwürdig ist, daß dieses Heimweh mehr die Landleute einer geldarmen, dafür aber durch Brüder= und Vetterschaften verbundenen Provinz, als diejenigen befällt, die mit Gelderwerb beschäftigt sind und das patria ubi bene sich zum Wahlspruch machen.

Wenn man vorher gehört hat, daß dieser oder jener ein böser Mensch ist, so glaubt man ihm die Tücke im Gesicht lesen zu können, und Dichtung mischt sich hier, vornehmlich wenn Affect und Leidenschaft hinzukommen, mit der Erfahrung zu Einer Empfindung. Nach Helvetius sah eine Dame durch ein Teleskop im Monde die Schatten zweier Verliebten; der Pfarrer, der nachher dadurch beobachtete, sagte: "Nicht doch, Madame; es sind zwei Glockenthürme an einer Hauptkirche."

Man kann zu allen diesen noch die Wirkungen durch die Sympathie der Einbildungskraft zählen. Der Anblick eines Menschen in convulsivischen, oder gar epileptischen Zufällen reizt zu ähnlichen krampfhaften...