Sanfte Rache - Thriller

von: Sandra Brown

Blanvalet, 2016

ISBN: 9783641171544 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Sanfte Rache - Thriller


 

1

»Tut es eher so weh?« Dr. Emory Charbonneau deutete auf die Strichzeichnung eines schmerzverzerrten Kindergesichts mit großen Kullertränen unter den Augen. »Oder eher so?« Diesmal wies sie auf eine andere Zeichnung, auf der ein bekümmertes Gesicht nicht ganz so schlimme Beschwerden illustrierte.

Die Dreijährige deutete auf das schlimmere Bild.

»Das tut mir leid, Liebes!« Emory führte das Otoskop in das rechte Ohr ein. Das Mädchen schrie vor Schmerz auf. Unter gemurmelten Beschwichtigungen und so sanft wie möglich untersuchte Emory erst den einen, dann den anderen Gehörgang. »Beide sind stark infiziert«, erklärte sie der abgekämpften Mutter.

»Sie weint schon, seit sie heute Morgen aufgestanden ist. Es ist bereits das zweite Mal innerhalb weniger Monate, dass sie Ohrenschmerzen hat. Beim ersten Mal konnte ich nicht zu Ihnen kommen und bin darum mit ihr in die Bereitschaftspraxis gefahren. Die Ärztin dort hat ihr etwas verschrieben, und damit ging es auch vorübergehend weg … Aber jetzt ist es wieder da.«

»Chronische Infektionen können zum Verlust des Gehörs führen. Man sollte sie nicht erst behandeln, wenn sie schon aufgetreten sind, sondern besser von vornherein vermeiden. Vielleicht sollten Sie mit ihr in eine pädiatrische Hals-Nasen-Ohren-Klinik gehen.«

»Das hab ich ja versucht! Aber wo immer ich angerufen habe, werden keine neuen Patienten mehr aufgenommen.«

»Ich könnte Sie an eine der besten vermitteln …« Das war keine leere Prahlerei. Emory war sich sicher, dass gleich mehrere ihrer Kollegen klaglos jeden Patienten aufnehmen würden, den sie überwies. »Am besten lassen wir der Infektion sechs Wochen Zeit, um auszuheilen. Danach vereinbare ich einen Termin für Ihre Tochter. Vorerst verschreibe ich ihr ein Antibiotikum und dazu ein Antihistamin, um den Flüssigkeitsstau hinter dem Trommelfell aufzulösen. Sie können ihr ein Kinder-Schmerzmittel geben, aber die Schmerzen sollten eigentlich vergehen, sobald die Therapie anschlägt. Zwingen Sie sie nicht zum Essen, aber achten Sie darauf, dass sie genügend trinkt. Falls es ihr in ein paar Tagen nicht besser geht oder wenn sie plötzlich hohes Fieber bekommen sollte, rufen Sie die Nummer auf dieser Karte an. Ich bin übers Wochenende nicht da, aber der Kollege vertritt mich. Ich glaube allerdings nicht, dass es zu einem Notfall kommt. Doch selbst wenn, sind Sie bei ihm in besten Händen, bis ich wieder da bin.«

»Danke, Dr. Charbonneau.«

Sie lächelte die Mutter mitfühlend an. »Ein krankes Kind ist wirklich kein Vergnügen. Versuchen Sie, auch selbst etwas Ruhe zu finden.«

»Hoffentlich haben wenigstens Sie am Wochenende etwas Schönes vor.«

»Ich mache einen Zwanzig-Meilen-Lauf.«

»Das klingt nach einer Tortur!«

Sie lächelte. »Genau darum geht es.«

Emory füllte das Rezept aus und trug den Befund in die Patientenakte ein. Als sie beides an den Empfangstresen brachte, erklärte ihr die junge Arzthelferin: »Das war Ihre letzte Patientin für heute.«

»Sehr gut. Ich bin praktisch schon weg.«

»Haben Sie im Krankenhaus Bescheid gesagt?«

Sie nickte. »Und beim Telefonservice. Ich bin ab sofort offiziell im Wochenende. Haben Dr. Butler und Dr. James gerade Patienten in Behandlung?«

»Ja. Und für beide sitzen noch mehrere im Wartezimmer.«

»Ich wollte mich eigentlich noch schnell von ihnen verabschieden, aber dann will ich lieber nicht stören.«

»Dr. Butler hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen.«

Sie reichte ihr ein Blatt von einem Notizblock mit Monogramm. Hals- und Beinbruch – oder was wünscht man einer Marathonläuferin? Mit einem Lächeln faltete Emory die Notiz zusammen und steckte sie in die Tasche ihres Arztkittels.

»Und von Dr. James soll ich Ihnen ausrichten«, fuhr die Arzthelferin fort, »dass Sie sich vor den Bären in Acht nehmen sollen.«

Emory lachte. »Wissen unsere Patienten, dass sie bei zwei Clowns in Behandlung sind? Grüßen Sie die beiden von mir!«

»Mach ich. Guten Lauf!«

»Danke. Wir sehen uns am Montag.«

»Ach, das hätte ich fast vergessen – Ihr Mann lässt ausrichten, dass er schon auf dem Heimweg ist und rechtzeitig nach Hause kommt, um Sie zu verabschieden.«

»Emory?«

»Hier …«

Als Jeff ins Schlafzimmer trat, zog sie gerade den Reißverschluss ihrer Reisetasche zu, hob sie mit trotziger Entschlossenheit vom Bett und hängte sich den Riemen über die Schulter.

»Hast du meine Nachricht bekommen? Ich wollte nicht, dass du losfährst, ohne dass ich mich von dir verabschieden kann.«

»Ich wollte dem Feierabendverkehr zuvorkommen …«

»Gute Idee.« Er sah sie kurz an und stellte dann fest: »Du bist immer noch wütend.«

»Du nicht?«

»Ich würde lügen, wenn ich was anderes behaupten würde.«

Der Streit vom Vorabend war beiden noch gut in Erinnerung. Die in Zorn und Verbitterung ausgestoßenen Worte schienen selbst jetzt noch von den Wänden des Schlafzimmers widerzuhallen – Stunden nachdem sie zu Bett gegangen waren, einander die Rücken zugekehrt und in der gegenseitigen Feindseligkeit dagelegen hatten, die gestern offen ausgebrochen war, nachdem sie zuvor monatelang vor sich hin geschwelt hatte.

»Bekomme ich wenigstens ein paar Punkte gutgeschrieben, weil ich heimgekommen bin, um Auf Wiedersehen zu sagen?«

»Kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Ob du dir Hoffnungen machst, mich noch umstimmen zu können.« Als er mit einem Seufzer den Blick abwandte, fuhr sie fort: »Dachte ich mir.«

»Emory …«

»Du hättest bis Feierabend im Büro bleiben sollen. Weil ich fahren werde, Jeff. Und ganz ehrlich: Selbst wenn ich morgen nicht laufen wollte, würde ich mir eine Auszeit nehmen. Eine Nacht in getrennten Betten wird uns dabei helfen, unsere Gemüter ein bisschen abzukühlen. Falls der Lauf zu anstrengend werden sollte, übernachte ich eventuell auch morgen noch dort.«

»Eine Nacht oder zwei ändern nichts an meiner Meinung. Diese Zwanghaftigkeit, mit der du …«

»Genauso hat es gestern Abend auch angefangen. Ich werde diesen Streit jetzt nicht noch einmal aufwärmen.«

Ihr Trainingsprogramm für den bevorstehenden Marathon hatte den Zwist ausgelöst, aber insgeheim fürchtete sie, dass wesentlich gewichtigere Gründe dahintersteckten. Das Problem war nicht der Marathon … sondern ihre Ehe.

Und genau darum wollte sie wegfahren und nachdenken. »Ich hab dir die Adresse des Motels aufgeschrieben, in dem ich übernachte.« Im Vorbeigehen nickte sie auf den Zettel hinunter, den sie auf der Frühstückstheke abgelegt hatte.

»Ruf mich an, wenn du angekommen bist. Nur damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«

»Meinetwegen.« Sie setzte sich die Sonnenbrille auf und öffnete die Tür zum Garten. »Bis dann.«

»Emory?«

Mit einem Fuß auf der Schwelle drehte sie sich um. Er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen zaghaften Kuss. »Pass auf dich auf.«

»Jeff? Hi. Ich bin jetzt da.«

Die zweistündige Autofahrt von Atlanta hierher war ermüdend gewesen, aber dass Emory so erschöpft war, schrieb sie eher dem Stress als der Fahrt selbst zu. Etwa eine Stunde nördlich der Stadt war sie von der Interstate 85 auf eine Stichstraße in Richtung Nordwesten abgebogen, und sofort hatte der Verkehr erheblich abgenommen. Sie hatte ihr Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht, was ihr die Orientierung in dem unbekannten Ort ein wenig erleichtert hatte. Doch obwohl sie inzwischen zugedeckt in ihrem Motelbett lag, saß ihr die Anspannung noch immer hartnäckig zwischen den Schulterblättern.

Um sie nicht noch zu verstärken, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Jeff gar nicht erst anzurufen. Der Streit vom Vorabend war bloß ein erstes Scharmützel gewesen. Sie ahnte, dass ihnen beiden eine noch viel größere Auseinandersetzung bevorstand, und die wollte sie lieber fair als kleingeistig führen.

Aber ganz abgesehen davon hätte sie sich schreckliche Sorgen um ihn gemacht, wenn es andersherum gewesen wäre: wenn er und nicht sie selbst weggefahren wäre und dann nicht wie versprochen angerufen hätte.

»Bist du schon im Bett?«, fragte er.

»Kurz vor dem Einschlafen. Ich will morgen früh los.«

»Wie ist das Hotel?«

»Einfach, aber sauber.«

»Ich finde es bedenklich, wenn ›sauber‹ als Vorzug hervorgehoben werden muss.« Er wartete kurz ab, als würde er auf ihr Lachen warten. Als keines kam, fragte er, wie die Fahrt gewesen sei.

»Ganz okay.«

»Und das Wetter?«

Blieb ihnen jetzt allen Ernstes nur mehr das Wetter als Thema? »Kalt. Aber damit hatte ich gerechnet. Wenn ich erst mal losgelaufen bin, wird mir schon warm werden.«

»Ich halte das alles immer noch für irrsinnig …«

»Ich hab mir die Strecke eingezeichnet, Jeff. Ich komme schon zurecht. Und ich freue mich aufs Laufen.«

Als sie aus dem Auto stieg, war ihr sofort klar, dass es deutlich kälter war, als sie gedacht hatte.

Natürlich lag der Aussichtspunkt viel höher als Drakeland – jener Ort, in dem sie übernachtet hatte. Die Sonne war zwar bereits aufgegangen, versteckte sich allerdings hinter den Wolken, die ringsherum die Berggipfel verhüllten.

Hier oben würde der Zwanzig-Meilen-Lauf eine echte Herausforderung werden.

Während sie ihre Dehnübungen absolvierte, ließ sie sich die äußeren Bedingungen durch den Kopf gehen. Trotz der Kälte war es ein perfekter Tag zum Laufen. Der Wind...