Konklave - Roman

von: Robert Harris

Heyne, 2016

ISBN: 9783641188948 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Konklave - Roman


 

2

CASA SANTA MARTA

Die Geschichte des Konklaves begann knapp drei Wochen später.

Der Heilige Vater war einen Tag nach dem Feiertag des Evangelisten Lukas gestorben, also am 19. Oktober. In der Zeit bis Ende Oktober und weit in den November hinein hatte seine Beisetzung stattgefunden, und die zur Wahl des Nachfolgers aus aller Welt nach Rom geeilten Kardinäle waren fast täglich zu ihren Generalkongregationen zusammengekommen. In den internen Aussprachen war über die Zukunft der Kirche diskutiert worden. Zu Lomelis Erleichterung hatte die übliche Kluft zwischen Progressiven und Traditionalisten zwar gelegentlich zu Reibereien geführt, aber die große Kontroverse war Gott sei Dank ausgeblieben.

Jetzt, am Feiertag des Herculanus von Perugia – Sonntag, 7. November –, stand er flankiert vom Sekretär des Kardinalskollegiums Monsignore Raymond O’Malley und vom Zeremonienmeister für die liturgischen Feiern des Papstes Erzbischof Wilhelm Mandorff auf der Schwelle der Sixtinischen Kapelle. Die wahlberechtigten Kardinäle würden noch am heutigen Abend im Vatikan eingeschlossen werden, und morgen würde die Wahl beginnen.

Es war kurz nach Mittag, und die drei Prälaten standen gleich innerhalb der Gitterwand aus Marmor und Schmiedeeisen, die den Hauptraum der Sixtinischen Kapelle vom Vorraum trennte. Zusammen begutachteten sie die Arbeiten. Der provisorische Holzboden war fast fertig. Es wurde gerade der beige Teppich darauf festgenagelt. Fernsehscheinwerfer wurden aufgestellt, Stühle hereingetragen, Tische zusammengeschraubt. Wohin man auch schaute, alles und alle waren in Bewegung. Plötzlich kam Lomeli der Gedanke, dass die wuselnde Geschäftigkeit auf Michelangelos Decke – das halb nackte, graurosa Fleisch, das sich reckte und krümmte, das gestikulierte und sich mühte – hier unten auf Erden ihre ungelenke Entsprechung fand. Am anderen Ende der Sixtinischen Kapelle schwebte im gewaltigen Fresko von Michelangelos Jüngstem Gericht zur hallenden Begleitmusik von Hämmern, Bohrmaschinen und Kreissägen die Menschheit in azurblauem Himmel um den himmlischen Thron herum.

»Tja, Eminenz, das ist der Anblick der Hölle«, sagte der Sekretär des Kollegiums O’Malley mit seinem breiten irischen Akzent.

»Ihre Blasphemie, Ray, können Sie sich für morgen aufsparen«, sagte Lomeli. »Dann lassen wir die Kardinäle rein.«

Erzbischof Mandorff lachte ein bisschen lauter als sonst. »Der ist gut. Exzellent, Eure Eminenz.«

Lomeli wandte sich an O’Malley. »Er glaubt, ich mache Witze.«

O’Malley, der ein Klemmbrett in der Hand hielt, war Ende vierzig, groß, neigte aber schon zum Fettansatz. Das zerklüftete, rote Gesicht ließ zwar auf ein Leben im Freien schließen, auf Fuchsjagd zu Pferde vielleicht, hatte damit aber nichts zu tun. Sein Aussehen verdankte er der Herkunft aus Kildare und der Vorliebe für Whiskey. Der Rheinländer Mandorff war älter, um die sechzig, ebenfalls groß, mit einem Kopf so glatt, gewölbt und haarlos wie ein Ei. Sein Renommee hatte er sich an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit einer Abhandlung über die Ursprünge und theologischen Grundlagen des klerikalen Zölibats erworben.

Getrennt durch einen langen Mittelgang, waren an beiden Seiten der Kapelle zwei Dutzend schlichte Holztische zu vier Reihen zusammengeschoben worden. Nur der Tisch, der der Trennwand am nächsten stand, war zur Begutachtung durch Lomeli schon hergerichtet worden. Er trat einen Schritt vor und fuhr mit der Hand über die zwei Lagen Stoff: einen weichen, purpurfarbenen Filz, der bis hinunter zum Boden reichte, und einen aus dickerem, glatterem Material – beige, passend zum Teppich –, der die Tischplatte bis zum Rand bedeckte und so fest war, dass man darauf schreiben konnte. Auf dem Tisch lagen eine Bibel, ein Gebetbuch, Füllfederhalter und Bleistifte, ein kleiner Abstimmzettel und ein langer Papierbogen, auf dem die Namen aller 117 wahlberechtigten Kardinäle aufgelistet waren.

Lomeli nahm das Namensschild in die Hand, das neben alledem stand: XALXO, SAVERIO. Wer war das? Ein Anflug von Panik erfasste ihn. In den Tagen seit der Beisetzung hatte er versucht, jeden einzelnen Kardinal zu sprechen und sich ein paar persönliche Merkmale einzuprägen. Aber es gab so viele neue Gesichter. Der verstorbene Papst hatte mehr als sechzig rote Hüte vergeben, allein fünfzehn im letzten Jahr. Die Aufgabe war Lomeli über den Kopf gewachsen.

»Wie um alles in der Welt spricht man das aus? Ksalkso?«

»Chalcho, Eminenz«, sagte Mandorff. »Er ist Inder.«

»Chalcho also. Sehr verbunden, Wilhelm. Danke.«

Lomeli setzte sich probehalber auf den Stuhl. Er war froh, dass er gepolstert war. Und dass ausreichend Platz vorhanden war, die Beine ausstrecken zu können. Er kippte die Lehne zurück. Ja, das war bequem. Angesichts der Zeit, die sie hier wahrscheinlich eingesperrt waren, war das auch nötig. Er hatte beim Frühstück die italienischen Zeitungen gelesen. Zum letzten Mal, bis die Wahl vorüber war. Die Vatikanbeobachter waren sich in ihrer Voraussage eines langen und kontroversen Konklaves einig. Er betete, dass es nicht so kommen, dass der Heilige Geist sich früh in der Sixtinischen Kapelle einfinden und ihnen einen Namen eingeben möge. Wenn der Heilige Geist jedoch ausbleiben sollte, dann könnten sie hier tagelang festsitzen. Bei den vierzehn Generalkongregationen war jedenfalls noch kein Hinweis auf seine Anwesenheit erkennbar gewesen.

Er schaute an den Tischen entlang in die Sixtinische Kapelle. Seltsam, wie eine nur um einen Meter über dem Mosaikboden erhöhte Sitzposition die Perspektive des Ortes veränderte. In dem Hohlraum unter ihren Füßen hatten die Sicherheitsexperten Störgeräte installiert, die jeden elektronischen Lauschangriff abwehren sollten. Eine konkurrierende Beraterfirma hatte allerdings behauptet, die Vorkehrungen seien unzureichend. Laserstrahlen, die auf die sechs Fenster in der oberen Galerie zielten, könnten die durch gesprochene Worte ausgelösten Vibrationen im Glas abtasten, die dann wieder in Sprache übertragen werden könnten. Sie hatten empfohlen, jedes Fenster zu verbarrikadieren, aber Lomeli hatte dagegen entschieden. Der Mangel an Sonnenlicht und die klaustrophobische Atmosphäre wären unerträglich geworden.

Mit einer höflichen Handbewegung lehnte er Mandorffs Angebot ab, ihm beim Aufstehen zu helfen. Er erhob sich und ging weiter in die Kapelle hinein. Der frisch verlegte Teppich roch wie Gerste auf einem Dreschboden. Die Arbeiter traten zur Seite, um ihn durchzulassen. Der Sekretär des Kollegiums und der Zeremonienmeister folgten ihm. Er konnte immer noch kaum glauben, was hier geschah und dass er der verantwortliche Mann war. Es war wie ein Traum.

»Achtundfünfzig«, sagte er und musste fast brüllen, um sich gegen den Lärm einer Bohrmaschine Gehör zu verschaffen. »Da war ich noch ein junger Bursche, im Priesterseminar in Genua, und dann wieder dreiundsechzig, noch vor der Priesterweihe, da habe ich mir gern die Bilder von den beiden Konklaven damals angeschaut. In allen Zeitungen waren künstlerische Zeichnungen abgedruckt. Ich erinnere mich, dass die Kardinäle die Wände entlang auf kleinen Thronsesseln mit Baldachinen saßen. Und nach der Wahl zog einer nach dem anderen an einem Hebel und klappte so seinen Baldachin nach unten, nur der gewählte Kardinal nicht. Können Sie sich das vorstellen? Der alte Kardinal Roncalli, der sich nie erträumt hatte, Kardinal geschweige denn Papst zu werden. Und Montini, der in der alten Garde so verhasst war, dass man sich während der Abstimmung in der Kapelle tatsächlich angebrüllt hatte. Stellen Sie sich das vor: Die auf ihren Sesseln thronenden Männer, die noch wenige Minuten zuvor alle gleichgestellt waren, standen dann Schlange, um sich vor einem zu verbeugen!«

Lomeli war sich bewusst, dass O’Malley und Mandorff artig zuhörten. Er machte sich Vorwürfe. Er redete wie ein alter Mann. Und dennoch rührten ihn die Erinnerungen. Die Thronsessel waren wie so vieles andere der alten Kirchentradition nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 abgeschafft worden. Man war der Meinung gewesen, das Kardinalskollegium sei zu groß und zu international geworden für solchen Renaissancefirlefanz. Trotzdem sehnte er sich irgendwie nach diesem Renaissancefirlefanz. Insgeheim dachte er, dass der verstorbene Papst mit seiner ewigen Leier von Einfachheit und Demut gelegentlich zu weit gegangen sei. Exzessive Einfachheit war schließlich auch nur eine Form von Pomp, und Stolz auf die eigene Demut Sünde.

Lomeli stieg über die Stromkabel und stand dann mit in die Hüften gestemmten Armen unter dem Jüngsten Gericht. Er betrachtete das Durcheinander. Hobelspäne, Sägemehl, Kisten, Kartons, Teppichstreifen. Der süße Geruch nach frisch gesägtem Holz und der nach Getreide riechende Teppichboden. In den Lichtstrahlen herumwirbelnde Holz- und Stoffpartikel. Hämmern. Sägen. Bohren.

Chaos. Gottloses Chaos. Wie auf einem Bauplatz. Und das in der Sixtinischen Kapelle!

Wieder musste er brüllen, um den Heidenlärm zu übertönen: »Wir sind doch in der Zeit,...