Tod am Semmering - Historischer Kriminalroman

von: Beate Maly

Emons Verlag, 2016

ISBN: 9783960411208 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,49 EUR

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Tod am Semmering - Historischer Kriminalroman


 

EINS

Semmering, 1922

»Schade, dass wir die Landschaft nicht sehen können. Es heißt, dass man vom Zug aus einen atemberaubenden Ausblick auf die Berge hat.« Ernestine Kirsch, Lehrerin im Ruhestand, hielt ihr Gesicht so dicht an die Scheiben des Waggonfensters, dass ihr Atem sie beschlug und ihre spitze Nase darin einen Abdruck hinterließ. »Nicht einmal die Umrisse eines Berges. Nichts außer Dunkelheit«, seufzte sie enttäuscht und ließ sich in den weich gepolsterten weinroten Sitz des Erste-Klasse-Waggons plumpsen.

Trotz ihrer neunundfünfzig Jahre war sie eine neugierige und unternehmungslustige Frau geblieben. Weder die entbehrungsreichen Jahre des Krieges noch die schwere Lungenkrankheit, die sie kurz danach für Monate ans Bett gefesselt hatte und für ihre frühzeitige Pensionierung verantwortlich war, hatten ihre Lebenslust schmälern können. Jeder Tag war ein neues Abenteuer, dem sie voller Freude entgegenblickte, wie die Kinder, die sie jahrelang unterrichtet hatte.

»Sie werden noch genug Möglichkeiten haben, sich am Panorama der Berge zu erfreuen«, meinte Anton Böck. Er schaute aus dem Fenster, wo helle Flocken in rasend schnellem Tempo an den Scheiben vorbeizogen und sich am unteren Rand des Fensters in einer dicken Schicht sammelten. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er gerade mit der Südbahn, die vor dem Krieg noch Franz-Josefs-Bahn geheißen hatte, in Richtung Semmering unterwegs war, um dort in einem Luxushotel an einem Tangotanzkurs teilzunehmen. Er, der zwei linke Füße hatte, wenn es ums Tanzen ging, einen Walzer von einer Polka nicht unterscheiden konnte und sich sein ganzes Leben lang vor dem Tanzen gedrückt hatte.

Schuld an seinem Entschluss war Ernestine. Sie war die außergewöhnlichste Frau, der Anton in den letzten dreißig Jahren begegnet war. So lange war es nun schon her, dass seine Frau bei der Geburt ihrer einzigen Tochter gestorben war. Ernestines Talent, Menschen zu begeistern, und der plumpen Überrumpelung seiner Tochter und seiner Enkeltochter hatte er es zu verdanken, dass er nun zwei Tage lang seinen alten, steifen Körper zu argentinischen Rhythmen bewegen musste. Noch vor einer Woche hätte er jeden ausgelacht, der ihm davon erzählt hätte. Immer noch war ihm nicht ganz klar, wie es den drei Frauen gelungen war, ihn zu dieser unseligen Unternehmung zu überreden. Anton lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust, schloss die Augen und ließ den Nachmittag in seiner Apotheke noch einmal Revue passieren.

Es war einer jener eiskalten grauen Januartage gewesen, die man am liebsten mit einem guten Buch und einer Tasse Tee hinter dem Ofen verbrachte. Aber statt einen ruhigen Nachmittag zu genießen, hatte Anton in seiner Apotheke gestanden, die er seit vielen Jahren gemeinsam mit seiner Tochter Heide führte. Heide war im vorletzten Kriegsjahr schwanger und in den letzten Kriegstagen Witwe geworden. Nun war sie, wie viele andere junge Frauen, eine Mutter, die ihr Kind ohne Vater großziehen musste. An diesem Nachmittag war sie mit Rosa, Antons geliebter Enkeltochter, beim Friseur gewesen. Anton hatte allein im Verkaufsraum gearbeitet. Er hatte Unmengen von Lutschtabletten und Hustensaft verkauft, was in dieser Jahreszeit ganz normal war. Dabei hatte er nicht bemerkt, dass es draußen bereits dunkel geworden war. Als er auf seine alte Wanduhr schaute, stellte er überrascht fest, dass es kurz vor sechs war und er bald Feierabend machen konnte. Aber dann öffnete sich noch einmal die Eingangstür. Wie immer läutete die helle Glocke, und Ernestine Kirsch, seine Untermieterin, trat mit rosigen Wangen und Begeisterung in den Augen ein. Ungefragt nahm Anton die Dose mit den Pfefferminzbonbons vom Regal, öffnete sie, leerte die weißen Bonbons auf seine präzise Apothekerwaage und füllte zehn Dekagramm in eines der gestreiften Papiersäckchen, die er seit Kriegsende von einem befreundeten Papierwarenhersteller bezog. Seit fünfzehn Jahren wohnte Ernestine in der kleinen Mansardenwohnung über seiner Apotheke, und genauso lang kaufte sie bei ihm Pfefferminzbonbons. Bis auf die Zeit ihrer Lungenkrankheit konnte Anton sich nicht daran erinnern, dass sie jemals etwas anderes gekauft hätte.

Ernestine zog ihre braunen Lederhandschuhe aus, nahm ihren kleinen gefütterten Hut ab und legte beides auf die hölzerne Theke vor sich. Ihre gelockte Kurzhaarfrisur stand ihr wirr vom Kopf ab, aber so etwas kümmerte die pensionierte Lehrerin nicht.

»Sie können sich nicht vorstellen, was mir gerade passiert ist«, sagte sie aufgeregt. Ihre hellblauen Augen strahlten ihn an, und wie immer, wenn sie das taten, fühlte Anton, wie sein Herz eine Spur schneller schlug. So als hätte es vergessen, dass es mit seinen sechzig Jahren zu alt für romantische Schwärmereien war.

»Sie wissen doch, dass ich die Kinder des Süßwarenherstellers Rosenstein unterrichte«, sagte Ernestine.

Natürlich wusste Anton davon. Die winzige Pension, die Ernestine vom Staat bekam, reichte kaum für die Miete, die sie ihm jeden Monat bezahlte, auch wenn er bloß eine lächerlich kleine Summe verlangte. Deshalb verdiente sie Geld mit Nachhilfestunden.

Bevor Anton die Dose mit den Bonbons wieder verschloss, hielt er sie Ernestine entgegen. Sie griff dankend hinein, steckte ein weißes Bonbon in den Mund und redete etwas undeutlicher weiter.

»Das Ehepaar hat eine Einladung zu einem Tangotanzkurs erhalten, der unter dem Motto ›Wir tanzen für die gute Sache‹ steht. Ein Teil der Einnahmen soll einer Wohltätigkeitseinrichtung zugutekommen, die Kriegswaisen unterstützt.«

Anton hatte davon gehört. Die Bankierswitwe Rosalia Schwarz hatte die Veranstaltung organisiert. Sie war bekannt für ihr soziales Engagement, das sie jedoch immer mit eigenen Interessen und guter Unterhaltung kombinierte.

»Frau Rosenstein hat sich gestern den Knöchel gebrochen und liegt jetzt mit einem dicken Verband im Bett.«

»Die Arme«, sagte Anton mitfühlend. Er selbst hatte sich als Kind das Schienbein gebrochen und wochenlang furchtbare Schmerzen gelitten.

»Ja, das ist traurig.« Ernestine nickte. Aber ihre emphatischen Worte passten so ganz und gar nicht zu ihrem glücklichen Gesichtsausdruck. Sie hatte noch mehr zu erzählen. »Damit die Karten nicht verfallen, hat Frau Rosenstein sie mir geschenkt.«

Vertraulich beugte sie sich über die Theke. Ihr Atem roch nach Pfefferminz. »Herr Rosenstein ist über die Entwicklung nicht unglücklich. Er wollte nicht an dem Tanzkurs teilnehmen und wirkte richtig erleichtert, als er mir die Karten überreichte.«

Falls Ernestine Unverständnis und Betroffenheit erwartete, musste Anton sie enttäuschen. Er konnte den Mann sehr gut verstehen. Wer wollte schon freiwillig ein ganzes Wochenende tanzen? Doch er bemühte sich, seine Gefühle zu verbergen, und schwieg.

»Zwei der berühmtesten Tanzlehrer aus Argentinien reisen an. Ist das nicht wunderbar?«

»Hm.«

Offenbar entging Ernestine die steile Falte auf seiner Stirn, denn sie fuhr unbeirrt fort: »Jetzt habe ich diese wertvollen Karten für ein luxuriöses Wochenende im feinsten Hotel in den Bergen und brauche einen Tanzpartner.«

»Ich bin sicher, Sie werden jemanden finden«, sagte Anton voller Zuversicht. Er sah sich selbst nicht als potenziellen Tanzpartner. Nie im Leben hätte er gedacht, dass sie ihn meinen könnte.

Aber genau in dem Moment betraten Heide und Rosa den Verkaufsraum. Wieder ertönte die Glocke. Die beiden hatten die letzten Sätze mitgehört.

»Papa, das ist doch eine wunderbare Gelegenheit für einen Urlaub im Schnee«, sagte Heide. Sie schüttelte den gefrorenen Regen von ihrem Mantel und nahm den Hut ab. In den letzten zwei Jahren hatte sie einen Teil ihrer Traurigkeit abgelegt und ihre alte Lebensfreude wiedergefunden. Sie war eine sehr attraktive Frau mit dem dichtesten blonden Haar, das Anton je gesehen hatte.

Rosa und sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Auch Rosa hatte eine wilde blonde Mähne, die selbst die allerkräftigsten Haarspangen nicht bändigen konnten. Mit jedem Tag, den Rosa älter wurde, wuchsen ihre Neugier und ihre Energie. Beides hatte eine ansteckende Wirkung auf alle, die sich in ihrer Nähe aufhielten.

»Opa, lernst du dort tanzen?«, fragte die Fünfjährige, umarmte Anton und versuchte ihn dazu zu bewegen, sich mit ihr zu drehen.

»Nun ja. Ich weiß nicht …«

»Wir haben hier alles im Griff. Du brauchst dir keine Gedanken um die Apotheke zu machen und kannst einfach nur ausspannen«, erklärte Heide.

Anton runzelte die Stirn. Hatte er eben etwas überhört? Soweit er sich erinnern konnte, hatte Ernestine ihn nicht gefragt, ob er sie begleiten wollte. Außerdem passten die Worte »tanzen« und »ausspannen« nicht zusammen. Sie schlossen einander aus.

Nun schlüpfte Heide aus ihrem Mantel. »Das Panhans ist berühmt für gutes Essen. Angeblich kocht dort einer der berühmtesten Köche Europas. Er hat jahrelang in Paris gelebt und versteht sich auf die Haute Cuisine. Der Tanzkurs findet doch im Panhans statt? Habe ich recht, Fräulein Kirsch?«

Sie nahm auch ihrer Tochter den Mantel ab und trug nun beide Kleidungsstücke zur Garderobe im hinteren Teil der Apotheke. Als sie zurückkehrte, blinzelte sie Ernestine verschwörerisch zu. Wieder hatte Anton das Gefühl, etwas verpasst zu haben.

»Ja, das stimmt«, sagte Ernestine rasch. »Der Koch im Hotel Panhans am Semmering soll wahre Wunder in der Küche vollbringen. Jeden Abend bereitet er ein fünfgängiges Menü zu und kredenzt die erlesensten Weine.«

Es war kein Geheimnis, dass Anton ein leidenschaftlicher Koch und Genießer war. Anzusehen war es ihm nicht. Er war sein ganzes Leben lang groß und hager gewesen. Seit über...