Die Sommer der Porters

von: Elizabeth Graver

mareverlag, 2016

ISBN: 9783866483262 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Die Sommer der Porters


 

Janes weltweite
KRIEGSSCHIFFE
und
-FLUGZEUGE


1942

 

I


Das Militär hatte die Straße befestigt. Es war das Erste, was Bea auffiel, als sie in jenem Sommer, in dem die meisten Familien wegblieben, mit den Porters zurückkehrte – dass die Schlammfurchen, die Grashubbel, das Rütteln und Schütteln verschwunden waren; stattdessen ein glattes graues Band. Mrs Porter beklagte sich darüber, die beiden älteren Mädchen auch. Jetzt werden die Leute rasen, die Armeelaster. Ein tiefer Riss durchs Land, sagte Helen theatralisch. Eine Wunde. Bea sah das anders. Bea, die mit Janie auf ihrem Schoß und einem von der langen Fahrt eingeschlafenen Bein ganz hinten saß, begrüßte die Veränderung. Wo sind die Soldaten?, fragten die älteren Mädchen und reckten angestrengt die Hälse. Wo sind die U-Boote, die feindlichen Flugzeuge? Wäre es nicht sicher, wären wir nicht hergekommen, sagte ihre Mutter, doch ihre Stimme klang vage. Dabei hielt sie die Hand aus dem Fenster und atmete gierig die Seeluft ein. Und selbst Bea, der es heimlich widerstrebte, jedes Jahr herzukommen – und ganz besonders in diesem –, inhalierte und spürte, wie die feuchte, salzige Luft in ihre Kehle strömte.

Noch andere Dinge hatten sich geändert; das sah man sofort, obwohl sich die großen Veränderungen, die ein Leben ins Schlingern bringen oder auf Kurs halten können, erst später zeigten. Wenn man auf die Landzunge fuhr, kam man an einem hohen hölzernen Wachturm vorbei, auf dem ehrenamtliche Zivilisten abwechselnd durch Ferngläser in den Himmel starrten. Ein Armeelaster parkte auf dem Feldweg neben dem Bootsanleger, und weiter unten – in Rufweite der Porters – versperrte ein hohes Holztor mit einem Drahtzaun zu beiden Seiten die Straße. Auf der einen Seite des Tores ein Soldat, rosiges Gesicht, Kindergesicht; auf der anderen Seite ein weiterer Soldat. Sitz ruhig, sagte Bea zu Janie, denn das Mädchen war aufgewacht und lehnte sich aus dem Autofenster. Wer ist das?, fragte Janie. Sie war acht; es war das Jahr 1942. Noch verstand sie nichts vom Krieg, wohl aber vom Leiden. Niemand, mit dem du reden solltest, sagte Beatrice.

Beim Haus angekommen, war es fast wie in jedem anderen Jahr. Stewart hob Mr Porter in seinen Rollstuhl, und drinnen tollten, tanzten, trabten die drei Mädchen herum, Janie hinter Helen und Dossy her, die Treppen rauf, die Treppen runter, kreischend wie angestochene Ferkel, während ihre Mutter mit den Dienstmädchen in die Küche ging. Die Koffer waren vorausgeschickt worden, ebenso die Dienstmädchen und Agnes und Blackie, Janies Hund, der jetzt kläffte und seine Schnauze in Handflächen schob. Bea ging nach oben auf ihr Zimmer, das sich neben Janies im ersten Stock befand. Dort, die weiße Noppenüberdecke, das Bett aus Ahornholz, das Aquarell von Mrs Porters Mutter, auf dem die Hagebutte weniger wie eine Blume als wie ein erschrocken aufgerissener Mund aussah. Dort, ihr Koffer. Sie öffnete ihn, hängte einige Kleider in den Eckschrank, stellte das Foto ihrer Mutter auf die Kommode, schob ihre Muschelvorräte unters Bett. Dann schloss sie ihr Fenster – die Vorhänge flatterten im Wind, der durchs Zimmer fegte –, ging kurz ins Bad, um sich zu erleichtern und Wasser ins Gesicht zu spritzen, spähte in Agnes’ Zimmer (nicht da) und ging wieder nach unten.

Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei, um sich einzurichten, hatte Mrs Porter gesagt, doch Bea wollte Janie holen, ihr etwas zu essen geben, die Haare bürsten, den Autoschmutz vom Gesicht schrubben. Überall im Haus waren die Fenster zum Lüften geöffnet. Die Korbmöbel standen auf der Veranda, auf der Wäscheleine hing Bettwäsche. Im Wohnzimmer rollte sich Mr Porter wie immer selbst zu seinem Platz am Panoramafenster. Draußen war das Meer, vom Fenster auf eine Weise umrahmt, die es eher wie ein Gemälde aussehen ließ als wie das echte Meer. Bea begegnete im Vorbeigehen Mr Porters Blick, und er lächelte sie an. Sie mochte ihn, wenn er nicht zornig war. Er war aufmerksamer als andere Männer, und im Gegensatz zu seiner Frau, die ihr das Kind gleichwohl überließ, nahm er Bea ihre Zuneigung zu Janie nicht übel. Und wie Bea war er weit entfernt vom Ausgangspunkt seines Lebens – für sie Schottland, für ihn ein Körper mit gesunden Gliedmaßen.

»Die Mädchen sind glücklich«, gestand sie ihm, während ihr Lachen durch das Haus schallte, als hätten die drei sich geteilt und vervielfacht, wobei Janies Stimme die schrillsten Laute hervorbrachte.

Er nickte. Er war ein kräftiger Mann mit breitem Oberkörper, seine Beine dünn wie Streichhölzer. »Ohne Zeit«, sagte er.

Sie wusste nicht, ob er meinte, dass die Mädchen die Zeit vergessen hatten oder dass sie ihnen davonlief, und sie fragte nicht nach. Manchmal kam ihr, selbst nach all den Jahren, die Sprache hier immer noch fremd vor, als wäre es kein richtiges Englisch, obwohl die Familie selbst mit all ihren Spitznamen, Abkürzungen und Codes eine zweite Muttersprache für sie geworden war.

»Tee?«, fragte sie.

»Gern, Bea. Danke.«

»Die Mädchen müssen hungrig sein. Ich gehe sie holen.«

Auf Ashaunt waren sie immer außer Rand und Band. Bea musste gleich einen Zeitplan aufstellen, damit sie nicht vergaßen, wie man es in Grace Park hielt. Tee um drei, Abendessen um sechs. Janie hörte auf sie, meistens jedenfalls. Bei den anderen beiden hatte Bea mehr oder weniger aufgegeben, und sowieso war eigentlich Agnes für sie zuständig und nicht sie.

Draußen vor dem Haus plötzlich ein gewaltiges Rumpeln, ein fürchterliches, walzendes, knirschendes Geräusch, und das Gelächter der Kinder verstummte. Durch das Fenster sah Bea zwei Lastwagen vorbeifahren, hintendrauf und auf den Seitenplanken Soldaten. Einen Moment lang wallte etwas in ihr auf – Angst oder Patriotismus, Begeisterung oder Gewissensbisse. Ihr Bruder Callum, dessen rechtes Bein kürzer war als das linke, war Luftschutzwart in Glasgow. Zwei ihrer Cousins waren im Krieg. Dennoch war das alles bis zu diesem Moment weit weg erschienen, ja gewesen, ziemlich weit weg.

»Was zum Teufel …«, sagte Mr Porter, doch bis Bea seinen Rollstuhl umgedreht hatte, waren die Laster schon fort.

»Wäre es nicht sicher, wären wir nicht hergekommen«, doch es war nicht sicher, nicht sicher genug, oder warum sonst ließen die meisten anderen Familien ihre Häuser leer stehen? Ashaunt war nur ein Viertel so voll wie normalerweise, bis auf die Spitze, die überfüllt war von Männern, Ausrüstung und Waffen. Den Leuten missfalle der Lärm, behauptete Mrs P., aber die Porters – da war sich Bea einigermaßen sicher – kamen nicht her, weil sie meinten, dass es sicher sei, sondern weil sie Charlie nah sein wollten, der die Heeresfliegerschule in Texas besuchte; sobald seine Ausbildung abgeschlossen war, würde er in den Krieg geschickt werden. Er war in New Jersey aufgewachsen, außer zur Schulzeit und im Sommer, doch wenn man ihn fragte, woher er kam, antwortete er: Ashaunt. Charlies Beetlecat liegt noch in der Werft und muss abgeholt werden; nicht wegräumen – das ist Charlies Lieblingspuzzle, und sein Zimmer blieb ungenutzt und für ihn bereit, seine Angeln in einer Ecke, sein Yale-Wimpel und ein Foto von seiner Freundin Suky an der Wand. Er war ihr Erstgeborener und einziger Sohn, gut aussehend, charmant, wortgewandt und witzig, und er liebte diesen Ort wie keinen anderen. Bea mochte ihn nicht besonders – er stiftete die Mädchen zu Unfug an und schenkte ihr kaum Beachtung, außer um sie zu ärgern –, doch selbst sie stutzte, wenn sie in einem Schrank auf seine verwaisten Strandschuhe stieß; selbst sie sah in den Gesichtern der jüngsten Soldaten Charlies Gesicht.

Jeden Tag, wenn der Postbote kam, stand Mrs Porter am Briefkasten. Oft kam ein Brief und etwa einmal in der Woche ein Anruf. Wenn Mrs P. einen Brief erhielt, zog sie sich zum Lesen zurück, bevor sie ihn mit ihrem Mann und ihren Töchtern teilte. Eines Tages begegnete sie Bea und Janie auf der Treppe – die beiden liefen herunter, sie ging hoch. Ihre Hände waren leer; der Postbote war gerade da gewesen. Sie begegnete Beas Blick. »Seien Sie dankbar, dass Sie keine haben«, murmelte sie. Es war ein schrecklicher Moment, einer, den Bea ihr nie ganz verzieh, obwohl sie im Lauf der Jahre auf ihre Weise enge Freundinnen wurden.

Hüte deine Zunge, hätte Bea am liebsten erwidert. Das hatte ihre Großmutter immer gesagt. Aber sie schwieg. Janie schwieg. Darin waren sie sich ähnlich. Es war fast Mittagszeit, doch Bea nahm ein Stück Brot, zwei Äpfel und etwas Käse mit hinunter an den Strand und schimpfte nicht mit Janie, als diese den Saum ihres Kleides in die Gezeitentümpel hängen ließ. Der Himmel über ihnen war leer. In der Ferne lagen die grünen flachen Elisabeth-Inseln. Spiel Steinehüpfen mit mir, sagte Janie. Ihr Bruder konnte es, ihre Schwestern auch. Beas Bruder hatte es...