Ist Ostdeutschland ein Milliardengrab? Analyse der innerdeutschen und europäischen Fördergeldtransfers für die öffentlichen Haushalte bis zum Jahr 2019

von: Nicole Uhde

Diplomica Verlag GmbH, 2007

ISBN: 9783836604093 , 132 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: frei

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Preis: 43,00 EUR

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Ist Ostdeutschland ein Milliardengrab? Analyse der innerdeutschen und europäischen Fördergeldtransfers für die öffentlichen Haushalte bis zum Jahr 2019


 

Kapitel 3.3.2, Nutzen der Strukturfondsförderung für Ostdeutschland:

Zu den Zielen der europäischen Strukturpolitik zählen vorrangig die Entwicklung von Hu-manressourcen, die Verbesserung der Basisinfrastruktur, die Unterstützung produktiver Inves-titionen, die ländliche Entwicklung und die industrielle Umstrukturierung. Der Einsatz von Fördergeldern ist zielführend darauf ausgerichtet, überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten im Rahmen der Wirtschaftsleistung zu generieren, damit eine Annäherung an die ökonomisch starken Regionen erfolgen kann. Deutschland zahlt zur Umsetzung der Ziele einen Beitrag an den EU-Haushalt und hat finanzielle Verpflichtungen zur Kofinanzierung der genehmigten Programme.

Aufgrund der nicht unerheblichen Beteiligung stellt sich die Frage, welchen Nutzen Deutschland und insbesondere die ostdeutschen Bundesländer aus Regionalpolitik ziehen können und ob eine zukünftige Fortführung wünschenswert ist. Diese Frage stellt sich vor allem im Hinblick auf die Überlegung, dass die Osterweiterung in Zukunft zu einer ab-nehmenden Förderung führen könnte, wenn die Regionalpolitik zu Lasten der heutigen Empfängerländer auf die MOE-Länder konzentriert würde. In diesem Fall würden auch die positi-ven Wirkungen ausbleiben.

In ihren Kohäsionsberichten stellt die EUROPÄISCHE KOMMISSION die erzielten Wirkungen und Effekte vorangegangener Förderperioden dar und stützt sich dabei auf Gutachten, die von Wissenschaftlern angefertigt werden. Im Weiteren werden nun die Ergebnisse der Studie von BEUTEL dargestellt, welcher sich insbesondere mit den Auswirkungen der Ziel 1-Förderung in Ostdeutschland beschäftigt. Außerdem werden die mit den Auswirkungen verbundenen Be- und Entlastungen für die ostdeutschen Landeshaushalte skizziert.

BEUTEL untersucht die Effekte auf Wachstumsraten, Kapitalbildung, Beschäftigung, Arbeits-produktivität, Wirtschaftsstruktur und auftretende Versickerungseffekte. Die Analyse be-ruht auf einem Multiplikator-Akzelerator-Modell, welches zur Berechnung der Effekte nach-frageinduzierte multiplikative Wirkungsmechanismen im Sinne der Keynesianischen Nach-fragetheorie zugrunde legt. Herangezogen werden die von EUROSTAT veröffentlichten harmo-nisierten Input-Output-Tabellen sowie Prognosen des GENERALDIREKTORATES FÜR REGIO-NALPOLITIK. Die Grundannahme des Models beruht darauf, dass die regionale Nachfrage der Engpass für das Wirtschaftswachstum ist, und dass sich positive Effekte in einer Nachfrage-steigerung bemerkbar machen, welche dann wiederum zu mehr Investitionen, steigender Nachfrage nach Zwischen- und Vorleistungsgütern und gegebenenfalls zu mehr Beschäfti-gung und höherer Produktivität führen wird.

Der Studie zufolge konnten positive Effekte auf der Angebots- und Nachfrageseite festgestellt werden. Kurzfristig steigt die Nachfrage direkt durch die laufenden Programme, weil für die Dauer des Projektes Maschinen gekauft werden, Arbeitskräfte eingestellt werden müssen usw. Weitaus wichtiger aber sind die langfristigen positiven Effekte, welche angebotsseitig entste-hen. Zu nennen sind die Vergrößerung der Produktionskapazität, bessere Qualifikationen der Arbeitnehmer und die Erschließung von Regionen durch infrastrukturellen Ausbau. Alle Ef-fekte führen tendenziell zu mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in den betroffenen Regionen.

Die Untersuchungen bezüglich Ostdeutschlands ergeben ein uneinheitliches Bild förderinduzierter Auswirkungen. Im Zeitraum 2000 – 2006 wuchs die ostdeutsche Wirtschaft im Durchschnitt stärker als die EU (3,2 Prozent gegenüber 2,6 Prozent). Ohne die EU-Gemeinschaftsmittel hätte das Wachstum nur bei etwa 3 Prozent gelegen und abzüglich aller Fördergelder (EU, Bund, Private) sogar nur bei 2,7 Prozent. Der Konvergenzprozess wäre ohne den Einsatz der Regionalpolitik zum Stillstand gekommen. Der Abbau wirtschaftlicher Disparitäten dürfte langfristig der beste Weg sein, die ostdeutschen Haushalte zu entlasten. Mehr Wirtschaftswachstum bedeutet eine Steigerung des Wohlstandes, der sich in höherer Kaufkraft und größeren Unternehmensgewinnen manifestieren dürfte. Die Steuereinnahmen steigen langfristig, was in Hinsicht auf die derzeitigen unterdurchschnittlichen Steuerdeckungsquoten von Vorteil wäre. Demographiebedingt ist mit steigenden Ausgaben für Sozialtransfers und einer Belastung öffentlicher Haushalte zu rechnen. Ein kräftiges Wirtschaftswachstum kann den Ausgabenanstieg aber zumindest teilweise kompensieren und ist für die Länder dringend erforderlich.

Positive Einflüsse der Ziel 1-Förderung bestehen auch auf den Kapitalstock. Etwa 1,7 Prozent des gesamten ostdeutschen Kapitalstockes entstanden im Rahmen der EU-Förderung. Bei Betrachtung aller Fördermittel sind es 4,1 Prozent. Der Kapitalstock ist für die zukünftige Entwicklung eines Landes von großer Bedeutung, da sein Wachstum die Produktionsmöglichkeiten der Zukunft determiniert. Die Investitionen der EU wirken auf das Anlagevermögen tendenziell modernisierend und ermöglichen die Produktion innovativer Güter. Typischerweise investieren die Landeshaushalte nicht direkt in das Anlagevermögen der Unternehmen, sie können jedoch besondere Abschreibungsregeln oder Steuervergünstigungen erlassen, um die Investitionen der Unternehmen in Anlagevermögen zu fördern. Eine solche Industriepolitik wirkt einnahmenmindernd und belastet die öffentlichen Haushalte.

In seiner Studie legt BEUTEL dar, dass ein nicht unbedeutender Teil der Beschäftigung Ostdeutschlands von der europäischen Förderung abhängig ist. Durch die laufenden Programme konnten etwa 101.000 Personen beschäftigt werden. Allerdings kann hier kritisch eingewendet werden, dass ein Teil der Stellen auch ohne die Intervention der EU bestünde und nicht gänzlich wegfallen würde. Der europäische Sozialfonds hat aber dazu beigetragen, die Situation am Arbeitsmarkt zu verbessern. Die Bemühungen waren besonders erfolgreich, wenn Ausrichtung, Fortbildung und Stellensuche von einer Institution begleitet und aus einer Hand gefördert wurden. Je mehr Menschen einen Arbeitsplatz finden, desto weniger Sozialleistungen müssen von Seiten der öffentlichen Haushalte gezahlt werden. Die Effekte der europäischen Strukturpolitik sind auch in dieser Hinsicht positiv zu bewerten.

Wachstumserfolge stellen sich langfristig ebenso durch die Modernisierung der Wirtschaftssektoren ein. Je mehr innovative und wettbewerbsfähige Industrien angesiedelt sind, desto eher hat der Wirtschaftsstandort Ostdeutschland eine Chance im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Festgestellt wurde in der zitierten Studie, dass eine Tendenz zur Tertiarisierung besteht. Der ländliche Sektor verliert an Bedeutung, während der Dienstleistungssektor um etwa 1,9 Prozent gewachsen ist. Da Dienstleistungen weniger kapitalbindend sind, ist die Entwicklung in Hinsicht auf die Arbeitsmarktsituation wünschenswert. Wettbewerbsfähige Branchen implizieren sowohl Wachstum als auch Beschäftigung, deshalb gelten für die öffentlichen Haushalte dieselben Wirkungen, wie bereits weiter oben beschrieben. Die Arbeitsproduktivität stieg im Untersuchungszeitraum um etwa 2 Prozent. Laut Studie lässt sich jedoch nicht ermitteln, welcher Anteil auf die europäische Strukturpolitik zurückzuführen ist. Der tendenziell positive Einfluss kann nur vermutet werden.

Die recht eindeutigen Ergebnisse der Studie lassen sich durch folgende kritische Einwände relativieren. Trotz der positiven Wirkungen der Strukturpolitik auf Wachstum und Beschäftigung konnte in den letzten Jahren keine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsmarktsituation festgestellt werden. Das Wachstum Ostdeutschlands hinkt seit einigen Jahren dem Wachstum in Westdeutschland hinterher, so dass von Konvergenz keine Rede sein kann. Es ist daher fraglich, ob die in der Studie festgestellten positiven Aspekte nicht vielmehr von der gesamt-wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands begünstigt werden und ob sie überhaupt stark genug sind, um Nachfrage und Wachstum langfristig zu steigern.

Zudem existieren erhebliche Versickerungseffekte durch induzierte Importe. Etwa ein fünftel aller Gelder wird für Importe von Maschinen oder Vorleistungsgüter eingesetzt und versickert in der EU. Immerhin kommt davon der größte Geldbetrag Westdeutschland zugute, weil es der Haupthandelspartner Ostdeutschlands ist. Dennoch könnte die Effizienz der eingesetzten Mittel ohne die Versickerungseffekte größer sein.

Trotz aller Bemühungen, die Infrastruktur aufzubauen und Arbeitskräfte zu mobilisieren, gelang es nicht in ausreichendem Maße, ausländische Direktinvestitionen zu attrahieren. Diese sind für Ostdeutschland aber besonders wichtig, weil sie Finanzmittel, Technologie und Know-how bereitstellen und die Unternehmenslandschaft modernisieren. Außerdem wirken ausländische Unternehmen als Steuerzahler und Arbeitsplatzgeber doppelt positiv auf die Landeshaushalte: zum einen bewirken sie wachsende Steuereinnahmen, zum anderen könnten bei nachhaltigem Beschäftigungsanstieg die Staatskassen durch abnehmende Sozialtransfers entlastet werden. Die Osterweiterung erschwert jedoch die Ansiedlung neuer Investoren in Ostdeutschland und strapaziert in dieser Hinsicht die Landeshaushalte zusätzlich. Mit der Wahl Ostdeutschlands als Unternehmensstandort gelingt den Unternehmen keine Gewinnmaximierung, wenn in den Nachbarstaaten die Löhne, Steuern und Preise spürbar geringer sind und sich die Ausbildung der Fachkräfte stetig verbessert. Um so wichtiger ist die Attrahierung humankapitalintensiv-produzierender Unternehmen mit Bedarf an geschulten Fachkräften oder Unternehmen zur Erbringung personennaher Dienstleistungen. Von der europäischen Strukturpolitik profitieren hingegen vorrangig der Maschinenbau, die Elektronikindustrie und das Baugewerbe, was für Ostdeutschland zwar wichtig ist, jedoch auch in Polen und Tschechien zunehmend an Bedeutung gewinnt.