Lagunenlyrik - Venedig im Spiegel der Dichtung. Eine Studie zur europäischen Literaturgeschichte

von: Pascal Cziborra

Diplomica Verlag GmbH, 2009

ISBN: 9783836619264 , 104 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 33,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Lagunenlyrik - Venedig im Spiegel der Dichtung. Eine Studie zur europäischen Literaturgeschichte


 

Kapitel 2.1.1, Personengebundene Motive: Falieri – Innenpolitischer Verrat mit Todesfolgen:

Da es sich bei lyrischen Verarbeitungen historischer Ereignisse, eben nicht um Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne handelt, halte ich es für notwendig den historischen Fall, um dessen literarische Gestaltung es hier geht, kurz zu skizzieren. Gemeint sind natürlich die Geschehnisse um den Dogen Marino Falieri, der im Jahre 1355, wegen Verrats an der Adelsrepublik, achtzigjährig verurteilt und hingerichtet wurde. Er hatte vermutlich beabsichtigt, die Republik in eine vererbbare Signoria umzuwandeln. Ein Vorhaben, das ihm auf der Treppe vor dem Dogenpalast den Kopf kostete. Eingehend beschreibt Petrarca, der Zeitgenosse Falieris war, in folgendem, ins Deutsche übertragenen Epigramm, wie es zu der Hinrichtung kam, und was insbesondere künftige Dogen daraus lernen sollten. Charakterisierend beginnt er:

„Stärker war sein Temperament als seine Einsicht/ sein Herz vermochte nicht in höchster Würde Genüge zu finden,/ denn mit dem linken Fuß hatte er den Dogenpalast betreten./ Eine Entschuldigung für ihn bringt niemand vor./ Alle sagen, er habe an der von den Vätern/ Überkommenen Verfassung der Republik etwas ändern wollen./ Er ersann, was niemand je ersonnen, und erlitt, was niemand je erlitten./ An der gefeiertsten berühmtesten und schönsten Stelle/ die ich je gesehen, dort wo seine Vorgänger oft in/ fröhlichem Jubel und im Triumph ehrenvolle Feste begangen,/ wurde er unter dem Zulauf des Volkes wie ein

niedriger/ Sklave herangeschleppt und seiner Dogeninsignien entkleidet./ Dort fiel sein Haupt und mit seinem Blut/ Besudelte er das Portal der Kirche, den Zugang zum/ Palast und die Marmorstufen./ Den Dogen, die nach ihm kommen, sei es gesagt, sie mögen/ Wissen, dass Dogen keine Herren sind, ja nicht einmal/ Herzöge, sondern mit Ehren angetane Sklaven der Republik.“.

Als Petrarca diese Verse schrieb, konnte er kaum ahnen, wie viele literarische Verarbeitungen dieser tragischen Figur seiner Epoche folgen sollten. Im 19. Jahrhundert kommt es zur Wiederentdeckung, wenn nicht sogar zu einem Falieri-Boom. E. T. A. Hoffmann schreibt 1819 die Novelle Doge und Dogaressa, Byron gestaltet die Geschehnisse 1821 zu einem Drama, und Donizetti wird von Falieri zu einer Oper inspiriert (1835). Auch in die Dichtung hält das Schicksal Falieris Einzug. So schreibt Emanuel Geibel mit historischen Anspielungen gespickt :

„Hier die bewimpelten Masten am Platz, sie zeugen noch immer,/ dass dem geflügelten Leu’n Zypern und Zante gehorcht,/ Diese Giganten erzählen vom blutigen Ende Marinos“.

Die Seemacht Venedigs und ihre vormalige Vorherrschaft im östlichen Mittelmeerraum wird in diesen Zeilen durch die Flaggen untergebener Monarchien und den Markuslöwen (Leu), dem Wahrzeichen Venedigs symbolisiert (vgl. Kapitel 2.4.6). Zudem genügt der zeitgenössischen Leserschaft offensichtlich allein die Nennung des Vornamens Marino, um die Ereignisse um die Person Falieri wieder in den Sinn zu rufen. Derartige Verdichtungen und Anspielungen stehen einer heutigen Lektüre hinderlich im Wege. Aufgrund der Verschiebungen des Allgemein- und Fachwissens, erschließen sich die Hintergründe nicht mehr sofort. Für eine moderne Leserschaft verlieren Gedichte dieser Art deshalb stark an Attraktivität und müssen in der Regel durch tiefergehende Recherchen ergründet werden. Ein Aufwand, der den allgemeinen Wert eines Gedichtes, der in erster Linie in seiner Intuitivität, Prägnanz, Sinnlichkeit und Kürze liegen sollte, schmälert. Aber auch solche Geschmacksfragen sind einem individuellen und kollektiven zeitlichen Wandel unterworfen.

Neben Geibels anspielender Namensnennung, existieren auch einige Gedichte renommierter Literaten, die sich komplett dem Schicksal des Dogen widmen. So formuliert Theodor Fontane in Der Markuslöwe:

„’Was blickst du starr in die See hinaus,/ Dieweil Verderben im eigenen Haus?// Als ich am Palaste vorübergerauscht,/ Hab ich den grauen Falieri belauscht,/ Bedroht ist die Freiheit, bedroht ist der Staat,/ Im Herzen des Dogen brütet Verrat.// Was suchst du den Feind auf der Adria?/ Falieri heißt er, nicht Doria,/Nach Kron’ und Zepter trachtet sein Sinn, Leu, rette die Meereskönigin!’[...]Venedig ist wach, entdeckt der Verrat,/ Gefangen Falieri, gerettet der Staat. [...] Den Dogen findet das Morgenrot/ Auf dem Schafotte blutig und tot.“.

Bei Fontane personifiziert Falieri den inneren Feind und Doria, Admiral der Genueser Erzrivalen, die Gefahr von außen. Viele Flottenkommandanten Genuas entstammten dem Adelsgeschlecht Doria. Zur Zeit Falieris ist Paganino Doria der gefürchtete Feind, der am 4. November 1354 fast die ganze venezianische Flotte vernichtete. Die antithetische Gegenüberstellung emotional besetzter Namen, erhält die innere Spannung des Gedichtes aufrecht. Inhaltlich ist in der Essenz eine starke, explizit historische Orientierung zu erkennen, die die Geschehnisse weitestgehend chronologisch verarbeitet. Fontanes vorherrschende lyrische Technik ist hier jedoch die Personifikation, die sowohl in der sprechenden Woge als Spion, als auch in dem beseelten Markuslöwen (vgl. Kapitel 2.4.6), der durch sein sofortiges Handeln die Republik rettet, charakteristische Ausgestaltung findet. Durch das lyrische Kleid, in dem hier die Historie daherkommt, schützt sich das Gedicht vor einem raschen Werteverlust, und behält - auch ohne konkretes historisches Verständnis - für späte Leser seinen Reiz. Fontanes Produktion ist daher innerhalb der Stichprobe als das gelungenste Gedicht mit dieser Thematik zu bezeichnen.

Ganz in Falieri-Tradition steht auch Rainer Maria Rilkes Sonett Ein Doge, das eher als Negativbeispiel angeführt werden muss:

„Fremde Gesandte sahen, wie sie geizten/ mit ihm und allem was er tat,/ Während sie ihn zu seiner Größe reizten,/ umstellten sie das goldene Dogat// mit Spähern und Beschränkern immer mehr,/ bange, daß nicht die Macht sie

überfällt,/ die sie in ihm (so wie man Löwen hält)/ vorsichtig nährten. Aber er,// im Schutze seiner halbverhängten Sinne,/ ward dessen nicht gewahr und hielt nicht inne,/ größer zu werden. Was die Signorie// in seinem Innern zu bezwingen glaubte,/ bezwang er selbst. In seinem greisen Haupte/ war es besiegt. Sein Antlitz zeigte wie.“.

Literarisch ist das Sonett als eines der schwächeren Gedichte Rilkes einzustufen und mit der Qualität eines Spätherbst in Venedig oder anderer Produktionen nicht einmal ansatzweise zu vergleichen. Es zerfasert durch seine Enjambements mehr, als dass es Gestalt annimmt und hat, abgesehen von der vorliegenden Sonettform, annähernd epische Züge. Stellenweise unrhythmisch, wirkt es daher fast wie eine Formübung. Vermutlich ist man von Rilke einfach besseres gewohnt. Wenngleich er auf die Ereignisse um Falieri einen etwas anderen Fokus hat, als seine Vorgänger, und eine psychologische Ebene in seine literarische Gestaltung mit einbezieht, ist dem Gedicht bei bestem Willen weder eine sinnreiche Lehre noch ein sprachlicher Genuss ab-zugewinnen. Um Größenwahn oder eine gewisse Senilität einer historischen Person auszudrücken, gibt es definitiv weit bessere literarische Möglichkeiten. Insbesondere scheint dafür eine epische oder dramatische Form deutlich besser geeignet. Möglicher-weise wurde hier zwanghaft versucht sich in eine bestehende literarische Tradition zu stellen.

"