Das Erbe der Tuchvilla - Roman

von: Anne Jacobs

Blanvalet, 2016

ISBN: 9783641183264 , 672 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Das Erbe der Tuchvilla - Roman


 

1

September 1923

Leo hatte es eilig. Auf der Treppe drängte er die Erstklässler zur Seite und schob sich an einer Gruppe schwatzender Mädchen vorbei – dann musste er stehenbleiben, weil hinter ihm jemand seinen Tornister festhielt.

»Immer schön der Reihe nach«, sagte Willi Abele hämisch. »Raffkes und Judenfreunde nach hinten.«

Das ging gegen seinen Papa. Und auf Walter, seinen besten und einzigen Freund. Der war heute krank und konnte sich nicht verteidigen.

»Lass los, sonst setzt es was!«, warnte er.

»Komm schon, Schlappohr … Trau dich …«

Leo versuchte sich zu befreien, aber der andere hielt eisern fest. Rechts und links brandete der Strom der Volksschüler an ihnen vorbei die Treppe hinunter auf den Schulhof und ergoss sich von dort in die Straße am Roten Torwall. Leo gelang es, seinen Widersacher mit sich bis in den Hof zu zerren, bevor ein Riemen des Tornisters riss. Er musste sich rasch umdrehen und zupacken, sonst würde sich Willi Schulranzen samt Büchern und Heften unter den Nagel reißen.

»Melzer – Stelzer – Hundekackewälzer …«, höhnte Willi und versuchte, die Schnalle an Leos Tornister zu öffnen.

Leo sah jetzt rot. Er kannte diesen Spruch, vor allem die Kinder aus den Arbeitervierteln riefen ihm gern solche Gemeinheiten hinterher. Weil er besser angezogen war und Julius ihn manchmal mit dem Automobil von der Schule abholte. Der Abele Willi war gut einen Kopf größer als Leo und zwei Jahre älter. Aber das zählte jetzt nicht. Ein fester Tritt gegen Willis Knie, Willi heulte auf und gab die Beute frei. Leo konnte seinen zurückeroberten Ranzen noch auf den Boden stellen, da hatte sich der andere schon auf ihn gestürzt. Beide gingen zu Boden. Schläge prasselten auf Leo ein, sein Jackenstoff riss, er hörte seinen Gegner keuchen und kämpfte verbissen gegen den Stärkeren an.

»Was ist hier los? Abele! Melzer! Auseinander!«

Es bewahrheitete sich der Spruch, dass die Ersten die Letzten sein werden, denn Willi, der als überlegener Kämpfer oben lag, bekam die strafende Hand von Lehrer Urban als Erster zu spüren. Leo hingegen wurde nur am Kragen gepackt und auf die Füße gestellt – seine blutende Nase bewahrte ihn vor der fälligen Maulschelle. Schweigend und mit verkniffenen Gesichtern hörten sich die beiden Knaben die Strafrede des Lehrers an, viel schlimmer war das hämische Grinsen und Flüstern der Mitschüler, die einen dichten Zuschauerkreis um die Streithähne gebildet hatten. Vor allem die Mädchen.

»Der hat’s ihm feste gegeben …«

»Wer die Kleinen haut, ist ein Feigling …«

»Geschieht dem Leo recht – eingebildet ist der …«

»Der Abele Willi ist doch ein Hundsfott …«

Lehrer Urbans Predigt rauschte indessen ungehört an ihnen vorbei. Er sagte sowieso immer das Gleiche. Jetzt musste Leo sein Taschentuch herausnehmen und sich die Nase putzen, dabei stellte er fest, dass der Saum des Jackenärmels ein Stück herausgerissen war. Während er sich das Gesicht abwischte, erntete er mitleidige und bewundernde Mädchenblicke, was ihm ausgesprochen peinlich war. Willi hingegen behauptete, der Melzer würde sich »anstellen« und wurde dafür von Lehrer Urban mit einer zweiten Maulschelle bedacht. Gut so.

»Und jetzt reicht euch die Hände …«

Sie kannten das Ritual, das nach jeder Prügelei fällig war und nicht das Mindeste bewirkte. Trotzdem nickten sie zu den Ermahnungen und versprachen, sich ab sofort zu vertragen. Das so arg gebeutelte deutsche Heimatland brauchte besonnene, fleißige junge Menschen und keine Raufbolde.

»Ab nach Hause!«

Das war die Erlösung. Leo hing sich den lädierten Tornister über die Schulter und wäre gern losgerannt, doch er durfte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, vor seinem Widersacher zu flüchten, daher ging er gemessenen Schrittes bis zum Schultor. Erst dann begann er zu laufen. In der Remboldstraße blieb er kurz stehen und blickte hasserfüllt auf das große Backsteingebäude zurück. Warum musste er auf die blöde Volksschule am Roten Torwall gehen? Papa hatte erzählt, dass er damals gleich ins Gymnasium Sankt Stephan gekommen sei. In eine Vorklasse. Da hatte es nur Knaben aus guten Familien gegeben, die bunte Mützen tragen durften. Es gab dort auch keine Mädchen. Aber die Republik wollte, dass alle Kinder zuerst in eine Volksschule gingen. Die Republik war ganz großer Mist. Alle schimpften darauf, besonders die Großmama. Die sagte immer, unter dem Kaiser sei alles viel besser gewesen.

Er schnäuzte sich noch einmal in sein Taschentuch und stellte fest, dass die Nase zum Glück nicht mehr blutete. Jetzt aber los, die warteten bestimmt schon. An Sankt Ulrich und Afra vorbei bergauf, durch ein paar Gässchen zum Milchberg und dann auf die Maximilianstra…

Wie angewurzelt blieb er stehen. Klaviermusik. Da spielte einer ein Stück, das er kannte. Leos Augen wanderten an den grau verputzten Wänden des Miethauses hinauf. Die Melodie erklang aus dem zweiten Stock, da stand ein Fensterflügel offen. Sehen konnte er nichts, eine weiße Tüllgardine war vorgezogen, aber wer immer da Klavier spielte, es klang famos. Wo hatte er diese Musik schon einmal gehört? Vielleicht bei einem Konzert des Kunstvereins, zu dem Mama ihn oft mitgenommen hatte? Es war so großartig und zugleich auch traurig. Und dann wieder durchzuckte es einen förmlich, wenn die Akkorde loshämmerten. Er hätte stundenlang dort stehen und zuhören können, aber jetzt unterbrach der Pianist sein Spiel, um sich eine Passage genauer vorzunehmen. Die wiederholte er immer wieder, es wurde einem ganz fad dabei.

»Da ist er ja!«

Leo fuhr zusammen. Das war unverkennbar Hennys helles, durchdringendes Organ. Aha, sie waren ihm entgegengekommen. Da hatten sie aber Glück gehabt, er hätte genauso gut eine andere Gasse nehmen können. Hand in Hand rannten die Mädels jetzt das Trottoir entlang auf ihn zu, Dodo mit fliegenden blonden Zöpfen, Henny im rosafarbigen Hängekleid, das Mama für sie genäht hatte. An ihrem Tornister baumelte noch ein Schwämmchen, denn Henny war erst in diesem Jahr in die Schule gekommen und lernte das Schreiben noch auf der Schiefertafel.

»Wieso starrst du in die Luft?«, wollte Dodo wissen, als sie keuchend vor ihm standen.

»Wir haben Hundert Jahre auf dich gewartet!«, rief Henny vorwurfsvoll.

»Hundert Jahre? Dann wärst du ja schon längst tot!«

Henny ließ den Einwand nicht gelten. Sie hörte sowieso nur das, was ihr passte.

»Das nächste Mal gehen wir ohne dich …«

Leo zuckte die Schultern und schielte vorsichtig zu Dodo hinüber, doch die war nicht bereit, ihn zu verteidigen. Dabei wussten sie alle drei, dass er sie nur abholte, weil die Großmama es so wollte. Ihrer Ansicht nach gingen zwei siebenjährige Mädel nicht ohne Begleitung durch die Stadt, schon gar nicht in diesen unruhigen Zeiten. Daher hatte Leo den Auftrag, gleich nach Schulschluss hinüber zu St. Anna zu laufen, um Schwester und Cousine sicher zurück in die Tuchvilla zu bringen.

»Wie siehst du denn aus?« Dodo hatte jetzt den abgerissenen Ärmel entdeckt. Und auch das Blut, das auf seinen Kragen getröpfelt war.

»Ich? Wieso?«

»Du hast dich wieder geprügelt, Leo!«

»Ihhh! Ist das Blut?« Henny berührte mit ausgestrecktem Zeigefinger seinen Hemdkragen. Ob sie die roten Punkte eklig oder aufregend fand, war nicht so recht auszumachen. Leo schob ihre Hand weg.

»Lass das. Wir müssen jetzt los.«

Dodo musterte ihn immer noch eingehend, dabei machte sie schmale Augen und schob die Lippen vor. »Wieder der Abele Willi, was?«

Er nickte verdrossen.

»Wär ich doch nur dabei gewesen. Erst feste an den Haaren ziehen und dann … anspucken!«

Sie sagte das mit großem Ernst und nickte zweimal. Leo war gerührt, zugleich war es ihm aber auch peinlich. Dodo war seine Schwester, sie war mutig und stand immer zu ihm. Aber trotzdem war sie nur ein Mädchen.

»Jetzt kommt endlich«, rief Henny, für die die Prügelei längst abgehakt war. »Ich muss noch zu Merkle.«

Das war ein Umweg, den konnten sie sich jetzt schon gar nicht mehr leisten.

»Nicht heute. Wir sind spät dran …«

»Mama hat mir extra Geld gegeben, weil ich Kaffee kaufen soll.«

Immer wollte Henny herumkommandieren. Leo hatte sich vorgenommen, ganz genau aufzupassen, damit er ihr nicht mehr in die Falle ging. Aber es war nicht einfach, denn Henny fand immer einen vernünftig klingenden Grund. Wie heute: Kaffee kaufen!

»Ohne Kaffee kann Mama nicht leben, hat sie gesagt!«

»Willst du, dass wir zu spät zum Mittagessen kommen?«

»Willst du, dass meine Mama totgeht?«, fragte Henny empört zurück.

Sie hatte es wieder geschafft. Man steuerte die Karolinenstraße an, in der Frau Merkle ›Kaffee, Konfitüren und Tee‹ in einem kleinen Laden anbot. Solche Leckereien konnte sich nicht jeder leisten, Leo wusste, dass viele seiner Klassenkameraden nur einen Teller Graupensuppe zu Mittag bekamen; ein Schulfrühstück brachten sie schon gar nicht mit. Es tat ihm oft leid, ein paarmal hatte er sein Leberwurstbrot mit anderen geteilt. Meist mit Walter Ginsberg, seinem besten Freund. Seine Mutter hatte auch einen Laden, hinten in der Karlstraße, sie verkaufte Notenblätter und Musikinstrumente. Aber die Geschäfte gingen schlecht. Walters Papa war in Russland gefallen, zudem die Inflation. Weil alles immer teurer wurde und – wie Mama sagte – das Geld nichts mehr wert war. Gestern hatte die Köchin Frau Brunnenmayer gejammert,...