Eskapaden - Der achte Fall für Bruno, Chef de police

von: Martin Walker

Diogenes, 2016

ISBN: 9783257607208 , 352 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Eskapaden - Der achte Fall für Bruno, Chef de police


 

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Benoît Courrèges, Chef de police der Kleinstadt Saint-Denis und allen bekannt als Bruno, hatte sich so sehr auf diesen Tag gefreut, dass er nie auf die Idee gekommen wäre, er könnte tragisch enden. Die Aussicht darauf, den Helden seiner Jugend zu treffen, von ihm auf sein Schloss eingeladen zu werden und die Hand eines der illustresten Söhne Frankreichs zu schütteln, ließ ihn vor Ehrfurcht erschauern. Was bei ihm nur selten der Fall war.

Bruno interessierte sich für den Patriarchen, seit er als Junge im Wartezimmer eines Zahnarztes in einer zerlesenen Paris Match auf einen Artikel über ihn gestoßen war und von seinen Heldentaten gelesen hatte, und zwar so brennend, dass er am liebsten ein Album über ihn angelegt hätte, um sämtliche Bilder und Reportagen über ihn darin zu sammeln. Aber weil er als Waisenkind und später als Mündel seiner Tante keinen direkten Zugriff auf Zeitungen oder gar Illustrierte hatte, musste er mit Büchereien vorliebnehmen, zuerst mit der des kirchlichen Waisenhauses und später mit der öffentlichen Bibliothek von Bergerac. Die Bilder waren ihm unauslöschlich im Gedächtnis haftengeblieben: sein Held vor einem Kampfflieger in Tarnfarben in hohem Schnee; in kurzen Hosen und mit einem schweren Bajonett bewaffnet in der Wüste; mit einem Drink in der Hand in einem {8}eleganten Schloss oder Salon. Auf seinem Lieblingsbild war er als Pilot zu sehen, mit zerzaustem Haar, den Fliegerhelm in der Hand, mit dem er einer Gruppe Mechaniker und Fliegerkameraden zuwinkte, die jubelnd auf ihn zuliefen, um ihn als ersten Franzosen zu feiern, der die Schallgrenze durchbrochen hatte.

Jetzt war der große Moment gekommen, und Bruno musste unwillkürlich grinsen, als ihm bewusst wurde, wie aufgeregt er war. Als ehemaliger Soldat kannte er das Durcheinander von Befehlen und Gegenbefehlen, all die aufreibenden Spannungen, die der Krieg mitbrachte, nur zu gut und wusste, dass im öffentlichen Bild des Patriarchen alle Makel, Misserfolge und gescheiterten Operationen einfach ausgeblendet waren. Und eigentlich hätte Bruno aus seiner Heldenverehrung mittlerweile herausgewachsen sein sollen. Aber ein Rest jugendlicher Schwärmerei für diesen Mann, den er für den letzten französischen Helden hielt, glühte wohl noch immer in ihm.

Als er sich in die Schlange der Gratulanten einreihte, die darauf warteten, dem Jubilar die Hand zu schütteln, wurde Bruno bewusst, dass er noch nie einem so prunkvollen und exklusiven Ereignis beigewohnt hatte. Das Château war zwar nicht besonders groß – nur dreigeschossig und mit jeweils vier Fenstern zu beiden Seiten des imposanten doppelflügeligen Portals –, dafür perfekt proportioniert und liebevoll restauriert. Der angrenzende Turm mit seiner trutzigen Brustwehr stammte aus dem Mittelalter, während das Schloss selbst die diskrete Eleganz des 18. Jahrhunderts ausstrahlte. Auf der breiten Terrasse mit Blick auf den französischen Garten spielte ein Streichquartett den {9}Herbstsatz aus Vivaldis ›Vier Jahreszeiten‹, der vor Brunos innerem Auge die bukolischen Gemälde von Fragonard erstehen ließ, die er sich sehr gut als Wandschmuck in den unteren Salons vorstellen konnte.

Am Fuß der Treppe in den Schlosspark hatten sich über hundert Gäste eingefunden, die an Champagnergläsern nippten, miteinander plauderten und über die Kieswege zwischen den symmetrisch angelegten Beeten schlenderten. Oben auf der Terrasse, wo Bruno stand, drängten sich fast ebenso viele Menschen, die sich von Kellnern in Luftwaffenuniformen mit Getränken bedienen ließen und sich auf Französisch, Englisch, Deutsch, Russisch und Arabisch unterhielten. Bruno zählte mindestens ein Dutzend unterschiedliche Paradeuniformen und erkannte Politiker aus Paris, Toulouse und Bordeaux wieder, fast ausschließlich Mitglieder der konservativen Partei, aber auch einige sozialistische Bürgermeister und Minister der aktuellen Regierung in Paris.

Alle Männer hatten nur Augen für eine blonde, überaus attraktive Frau, von der Bruno nun seit wenigen Minuten wusste, dass sie die Schwiegertochter des Patriarchen war, Madeleine hieß und seine, Brunos, Tischdame sein würde. Sie hatte ihn, als er ihr vorgestellt wurde, mit kühlem Lächeln taxiert und, kaum dass er ihr die Hand gegeben hatte, mit einstudierter Bewegung an ihren Gatten weitergereicht, der neben ihr stand.

Hinter dem Schlosspark erstreckten sich zur Rechten bis ans Dordogne-Ufer nichts als Felder und Wiesen, auf denen spielzeugkleine Charolais-Rinder grasten, während man zur Linken zwischen zwei Felsvorsprüngen die {10}Vézère im Sonnenlicht glitzern sah. Selbst das Wetter, dachte Bruno, spielte beim 90. Geburtstag des distinguierten Sohnes Frankreichs mit.

»Ist das nicht das schönste Panorama, das man sich vorstellen kann?«, schwärmte neben ihm eine alte Dame, genannt die Rote Komtesse, und sah verschmitzt lächelnd aus ihrem Rollstuhl zu Bruno auf. »Besonders mit dem Kirchturm auf dem einen Flussufer und der Schlossruine auf dem anderen. Marco hat das alles hier sehr günstig erstanden. Es war ein Spontankauf, wobei«, fuhr sie mit einem zufriedenen Lächeln fort, »der Umstand, dass mein eigenes Château ganz in der Nähe liegt, durchaus eine gewisse Rolle gespielt haben mag.«

»Wo hast du ihn eigentlich kennengelernt, grand-mère?«, fragte Marie-Françoise, ihre Urenkelin, die in ihrem farblich auf ihre blauen Augen abgestimmten schlichten Seidenkleid einfach bezaubernd aussah, in fast akzentfreiem, flüssigem Französisch. Seit sie vor kurzem aus ihrem Geburtsland Amerika nach Frankreich gekommen war und besonders seit sie an der Universität in Bordeaux studierte, hatten sich ihre Sprachkenntnisse deutlich verbessert.

»In Moskau. Es war nach Stalins Beisetzung während eines Empfangs im Kreml. Er sah einfach umwerfend aus in seiner Uniform, am Revers den Goldenen Stern am roten Band, das ihn als Helden der Sowjetunion auswies. Jeder kannte ihn, und unser Botschafter war ziemlich echauffiert, weil er neben Marco kaum beachtet wurde. Chruschtschow ging auf Marco zu und nahm ihn in den Arm – es heißt, sie waren sich nach der Schlacht um Stalingrad persönlich begegnet, irgendwo an der Front in der Ukraine.«

{11}Die Komtesse lachte fröhlich, was sie um Jahrzehnte jünger aussehen ließ. »Ich werde die frostigen Blicke der anderen Frauen nie vergessen, als Marco auf mich zukam und mir seinen Arm reichte. Was für ein bemerkenswerter Mann! Ist er ja irgendwie immer noch.«

Bruno folgte ihrem Blick zur Flügeltür, die von der Terrasse ins Schloss führte und wo der alte Herr mit der weißen Löwenmähne und dem markanten Kinn kerzengerade in dunkelblauem Anzug und zum Band der Ehrenlegion passender roter Krawatte die Honneurs machte. Als Bruno und die Rote Komtesse in ihrem Rollstuhl mit Gratulieren an der Reihe gewesen waren, hatten sich Marcos braune Augen, denen nichts entging, neugierig auf Bruno gerichtet, doch kaum hatte die alte Dame ihn als den hiesigen Chef de police vorgestellt, dem sie ihr Leben verdankte, war ein warmes, anerkennendes Lächeln in sein Gesicht getreten.

»Das ist das Magische an dieser Frau«, hatte er mit überraschend jugendlicher Stimme gesagt und sich zu einem Kuss über ihre Hand gebeugt. »Sie wird immer einen Ritter finden, wenn sie Hilfe braucht.«

Colonel Jean-Marc Desaix wurde von seinen Fliegerkameraden und den Frauen, die er geliebt hatte, Marco genannt. Für das übrige Frankreich war er der Patriarch, ein Kriegsheld zweier Länder, Träger des Großkreuzes der Légion d’honneur und als Held der Sowjetunion ausgezeichnet mit dem goldenen Stern am roten Band. Die Ehrenlegion war ihm von seinem Freund Charles de Gaulle verliehen worden, der Stern von Stalin während einer glanzvollen Zeremonie im Kreml.

Wie die meisten französischen Jungen hatte Bruno schon {12}als Kind gewusst, dass das Jagdfliegergeschwader Normandie-Njemen, das während des Zweiten Weltkriegs auf Seiten der Roten Armee der Sowjetunion gegen die Achsenmächte kämpf‌te, aus französischen Piloten bestand, die in ihren sowjetischen Jak-3-Jagdfliegern mehr feindliche Flugzeuge abgeschossen hatten als jede andere französische Fliegerstaffel. Nach den sowjetischen Luftstreitkräften, die 273 Abschüsse vorzuweisen hatten, war es das erfolgreichste Geschwader überhaupt.

22 feindliche Flugzeuge waren allein von Marco Desaix vom Himmel geholt worden, damals ein blendend aussehender junger Mann, der ständig in sowjetischen Wochenschauen und Zeitungen zu sehen war. Im besetzten Frankreich, das von seinen Husarenstücken in den Rundfunknachrichten der BBC hörte, wurde Marco in einer Zeit zum Helden, als Frankreich diese bitter nötig hatte.

Bruno hatte in den illustrierten Geschichtsbüchern im Waisenhaus die exotischen Namen der Etappen des jungen Fliegers in Syrien und Persien auszusprechen versucht und sich die lange Zugreise von der Wüstenhitze in die russische Kälte vorgestellt. Bis heute wusste er auswendig, dass die französischen Flieger am 5. April 1943 den ersten Treffer gelandet hatten, und zwar auf ein deutsches Jagdflugzeug vom Typ Focke-Wulf. Gegen Ende des Sommers hatten sie siebzig weitere Maschinen abgeschossen und selbst nur noch sieben überlebende Piloten in den eigenen Reihen. Trotzdem hatten sie mehr gewonnen als nur ihre Kurvenkämpfe. Feldmarschall Wilhelm Keitel, der diese Männer als Aufrührer und Verräter an ihrer von Vichy aus regierten Heimat anprangerte, hatte den Befehl erlassen, die {13}gefangengenommenen französischen Piloten standrechtlich zu...