Die Stille vor dem Tod - Thriller

von: Cody Mcfadyen

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732531691 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Stille vor dem Tod - Thriller


 

KAPITEL 1


Es war einmal, geht es mir durch den Kopf, da wohnte hier eine Familie. Und wenn sie nicht gestorben ist …

Ich rümpfe die Nase, so scheußlich sind die Verwesungsgerüche. Sie sättigen die Luft, dick und schwer, und ich spüre (wie immer sehr lebhaft), dass ich mit jedem Atemzug den Tod inhaliere.

Es ist ein sinnloser Gedanke, aber wie üblich kann ich ihn nicht loswerden. So war es schon bei meiner allerersten Begegnung mit den Gerüchen des Todes gewesen; der abscheuliche Gestank hatte mir so zugesetzt, dass ich Hals über Kopf aus der Haustür in den Vorgarten geflüchtet war, die Hand vor dem Mund.

Ich hatte es gerade noch bis auf den Rasen geschafft, als mir die Kotze auch schon zwischen den gespreizten Fingern hindurchspritzte. Damit hatte ich zwar den Tatort unversehrt gelassen, war aber in die Fänge der Außenwelt geraten: Eine Gruppe von Cops und FBI-Leuten schaute zu, wie ich auf die Knie fiel und drei Viertel eines Cheeseburgers mit einer großen Portion Pommes herauswürgte. Von diesem Moment an hatte ich für ein paar Monate den Spitznamen »Kotzbrocken« weg.

Beim Schlucken habe ich das Gefühl, dass mir etwas Pelziges, Schleimiges durch die Kehle kriecht. Unwillkürlich schüttle ich mich. Der »Kotzbrocken« ist zwar Vergangenheit, aber die Erinnerungen sind noch wach, und sie sind so widerwärtig wie eh und je.

»Stinkt ganz schön«, meint Alan, der meine Gedanken gelesen hat. Er hat die Augen leicht zusammengekniffen, und seine Nasenflügel sind gebläht. Er schüttelt den Kopf. »Leichen sind eine verdammte Plage.«

»Sie sind lästig«, bestätige ich ihm.

Am lästigsten sind zweifellos die Mordopfer.

Ich stehe regungslos im Flur und sammle mich für das, was jetzt kommt. Es ist eine Sache, den Schauplatz eines Mordes zu betreten, eine ganz andere, der Realität des Todes zu begegnen, wenn man nicht richtig darauf vorbereitet ist. Dann möchte man am liebsten irgendwo anders sein; man wünscht es sich nicht nur, man sehnt es sich geradezu herbei.

Die Erinnerungen an den Anblick meines ersten Mordopfers sind frei von Regungen, welcher Art auch immer, und wenngleich es Erinnerungen an etwas sehr Reales sind, kommen sie mir jedes Mal unwirklich vor. Die Eindrücke, die ich mit dem Anblick der Leiche verbinde, sind Kompositionen aus verwaschenen Farben, völliger Stille und Tunnelblick. Ich weiß nicht mehr, welche Farbe der Teppich hatte, aber die Frauenleiche mit ihren unerträglichen Details steht mir noch heute deutlich vor Augen. Ich kann noch immer die Poren auf ihrer Nase sehen; ich erinnere mich an die Farbe ihres Nagellacks auf den Zehennägeln. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sogar die Knoten in dem dünnen Hanfseil zählen, das straff um ihren Hals lag und sich tief ins Fleisch gegraben hatte.

Deshalb weiß ich heute, dass es besser ist, wenn man eine Zeit lang wartet und sich wappnet, um auf den Angriff der Verleugnung vorbereitet zu sein. Auf diese Weise kann man die Wirklichkeit leichter ertragen, wenn es an der Zeit ist, sich ihr zu stellen.

»Okay«, sage ich zu Alan, vor allem aber zu mir selbst. »Gehen wir.«

Ich verlasse den kleinen Flur, in den die Haustür mich geführt hat, und gehe los, ohne einen Blick zurückzuwerfen. In der Mitte des Zimmers, in das ich komme, bleibe ich stehen. Ich kann die Leichen jetzt aus den Augenwinkeln sehen. Ich rühre mich nicht vom Fleck, schließe die Augen und tauche ein in das überwältigende Gefühl des Lebendigseins; ich zähle meine Herzschläge, meine Atemzüge und sage stumm ein Mantra auf: Ihr Tod ist nicht dein Tod. Du bist die Lebende. Du lebst.

Dann nehme ich einen tiefen Atemzug, mache die Augen auf und wende mich den Leichen zu. Ich höre das Pling!, das den Beginn jener kurzen Zeitspanne markiert, während der mein Verstand nicht wahrhaben will, was meine Augen mir zeigen. Dieser Moment ist wie das Blitzlicht einer Kamera, ein grelles weißes Nichts.

Letzte Chance, warnt mich mein Verstand. Wenn du das nicht sehen willst, schau weg. Letzte Chance!

Dann wieder das Pling!, und das grellweiße Licht ist verschwunden. Mein Blick schärft sich, ebenso mein Verstand, und ich bin am Ziel. Keine verwaschenen Farben, kein Tunnelblick. Nur die Leichen in ihrer ungeschminkten Wahrheit und ich.

Die Gesichter der Toten starren mich an. In ihren lautlosen Schreien liegt endloses Entsetzen. Worte, die ich vor langer Zeit gelesen habe, kommen mir in den Sinn: Manche Dinge kann man nicht begreifen, nur beschreiben.

Ich zucke zusammen, als ich mir die Sauciere neben der Hand der toten Mutter genauer anschaue. »Ist das Blut?«

Alan beugt sich vor, schaut ebenfalls genauer hin. Er verzieht das Gesicht, nickt. »Sieht so aus.«

Wir sind in Colorado, im Norden von Denver. Es ist die erste Oktoberwoche und ein lausiges Stück kälter als in Südkalifornien. Und trockener. Die Leichen verfärben sich bereits, aber der Geruch ist längst nicht so schlimm, wie es im feuchtwarmen Kalifornien der Fall wäre.

Ich lese die Worte an der gegenüberliegenden Wand, geschrieben mit Blut. Zweifler müssen büßen, steht da. Hilf uns, Gerechtigkeit zu finden. Komm und lerne, Smoky Barrett.

Ein Frösteln durchläuft mich; kleine Füße aus Eis trippeln mein Rückgrat hinunter. Es muss mir anzusehen sein, denn Alan beobachtet mich aufmerksam. »Macht einen unruhig, den eigenen Namen in Blut geschrieben zu sehen«, sagt er.

»Halb so wild.« Mein Lächeln ist verkrampft. »Keine Bange, Mister Schwarzseher, mir fehlt nichts. Konzentrieren wir uns darauf, den Täter zu fassen.«

Er mustert mich, sucht nach Rissen in meiner Fassade. Als er keine findet, hebt er eine Braue. »Mister Schwarzseher?«

»Genau. Pessimist.«

»Hmmm. Schätze, es stimmt, was man so sagt.«

»Was sagt man denn?«

»Die Schwangerschaft macht eine Frau nicht gerade lustiger.«

»Sie sieht nur lustiger aus.«

»Kein Kommentar«, sagt er. »So dumm bin ich nun auch nicht.« Er zieht das kleine zerfledderte Notizbuch hervor, das er stets bei sich trägt, und blättert es durch. »Es ist das einzige von den drei Häusern mit einer Botschaft an der Wand, sagt Ned.«

Alan nennt sein Notizbuch »Ned«, weil er ein Notizbuch für den besten Freund eines Ermittlers hält, und ein bester Freund müsse nun mal einen Namen haben. Mir ist es egal, wie er das Ding nennt. Ich weiß nur, dass Alan jeder Kleinigkeit nachgeht, die in Ned festgehalten wird, und Ned vergisst nichts.

»Ich muss dieses Wort nachschlagen«, sagt er, mehr zu sich selbst. »Zweifler. Irgendwie kommt es mir bekannt vor.«

Ich schaue auf die Wand, auf das Wort, sorgfältig ausgeschrieben in sechzig Zentimeter hohem, klebrigem Rotbraun. »Ich habe es auch schon irgendwo gehört.« Ich krame in meinem Gedächtnis, jedoch vergebens. »Bin mir allerdings nicht sicher. Nur so ein Gefühl.«

»Nein, mehr als nur ein Gefühl«, meint Alan, wobei er sich Notizen macht. Er sieht mich an, lächelt und wedelt mit Ned. »Ned zufolge – und allen Neds vor ihm – hast du ein ziemlich gutes Gedächtnis.«

»Tatsache?«

»Klar. Ned lügt nicht.« Alan reckt sich, dass es knackt und knirscht. Dabei stöhnt er leise. Es ist, als würde man einen Berg dabei beobachten, wie er es sich bequem macht. Er ist ein großer Mann, mein Freund und Kollege. Nicht fett, nicht athletisch, sondern massig, respekteinflößend. Mir ist vor langer Zeit klar geworden, dass seine schiere Größe meine Wahrnehmung von allem, was er tut, beeinflusst. Alan denkt nicht, Alan grübelt. Er geht nicht, er stampft. Er steht nicht vor einem, er ragt vor einem auf. Wäre Alan Profi-Footballer gewesen, hätte er garantiert einen dieser typischen Spitznamen wie »Rammbock« oder etwas in der Art.

Er ist Afroamerikaner. »Groß und schwarz zu sein, ist keine Garantie, einen guten Vernehmungsbeamten abzugeben«, hat er mal zu mir gesagt, »aber schaden kann es auch nicht.« Da ist was dran, aber es ist bei Weitem nicht die ganze Wahrheit. Alans Größe ist trügerisch. Seine schärfste Waffe ist sein Verstand. Er war bereits zehn Jahre Mordermittler, bevor das FBI ihn sich an Land zog, und bekannt für seine Fähigkeit, Geständnisse erwirken zu können, die vor Gericht Bestand haben. Wir arbeiten seit mehr als zehn Jahren zusammen, und ich vertraue ihm blind.

Alan steht kurz vor dem FBI-Ruhestandsalter. Sein Gesicht sieht im Profil immer noch jung aus, trotz der ergrauenden Haare, aber in seinen Augen zeigt sich in letzter Zeit eine Müdigkeit, die ich zuvor nicht gesehen habe. Ich muss mich an den Gedanken gewöhnen, dass Alan sich bald verabschieden und das ruhige Leben führen wird, das er sich verdient hat.

Doch im Moment bin ich heilfroh, dass er hier ist. Ich bin das erste Mal in meiner neuen Rolle, in diesem neuen Scheinwerferlicht, und ich bin nervös. Ich reite ein neues Pferd, kaum anders als mein altes, aber größer, stärker und gefährlicher.

Ich habe den größten Teil meiner FBI-Laufbahn im Los Angeles Field Office des NCAVC verbracht, dem Bundesamt für die Analyse von Gewaltverbrechen. Die NCAVC-Zentrale befindet sich in Quantico, aber in jedem FBI-Büro gibt es einen Agenten, der für die Aktivitäten des NCAVC in seinem Bereich zuständig ist. In L.A. hatten wir genug zu tun, um ein Vier-Mann-Team zu beschäftigen. Wir jagen Serienkiller, Vergewaltiger und ganz allgemein Personen, die Dinge tun, über die Sie garantiert nichts erfahren wollen.

Vor...