Die letzten Tage von Atlantis - Bericht des Kristallschädels Corazon de Luz

von: Karin Tag

AMRA Verlag, 2016

ISBN: 9783954472024 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Die letzten Tage von Atlantis - Bericht des Kristallschädels Corazon de Luz


 

Der Bauer und seine Schafe


An diesem Tag roch es nach frisch gemähtem Heu. Die Luft war erfüllt vom aufgeregten Summen der Bienen, die in den Mittagstunden ihren Pollen sammelten, während sich unter einem alten Olivenbaum ein junger Mann in der Sonne räkelte. Er kaute auf einem getrockneten Grashalm und träumte im Schatten des Baums vor sich hin. In seiner Nähe weideten seine Schafe friedlich auf den üppigen Kräuterwiesen.

Der blonde Hüne liebte es, in der Natur zu sein. Er verbrachte den ganzen Sommer hier draußen mit seinen Schafen und Ziegen. Erst im Herbst kehrte er zurück in sein Dorf, wenn die Regen der kalten Jahreszeit einsetzten und es ihn an den gemütlichen warmen Herd seines Elternhauses zog. Er hatte nicht viel bei sich, außer einem Bündel mit Schnitzzeug und einem Lederbeutel mit gutem Schnupftabak, den er von seinem Vater erhalten hatte. Alles, was er zum Leben brauchte, fand er im Sommer hier draußen.

Ziegenmilch und Schafmilch verleibte er sich zum Frühstück ein und braute sich auf einem kleinen Feuer morgens einen Kräutertee, den er tagsüber aus einem Tonkrug trank. Auf seiner Wanderroute in den Hängen der Berge hatte er sich verschiedene Lager eingerichtet, die er zum Schlafen in den Bäumen gebaut hatte. Dort hatte er allerlei Werkzeuge deponiert, mit denen er sich seine Nahrung beschaffte und zubereitete.

An diesem Tag hatte er in der Nähe eines klaren Bergsees das Lager bezogen. Eine alte Eiche stand hier, in deren Krone er vor vielen Jahren mit seinem Vater ein Baumhaus errichtet hatte. Es war einer seiner Lieblingsplätze, denn in der Krone des Baums zu schlafen und die Sterne funkeln zu sehen war einfach unbeschreiblich schön. Hier verwahrte er auch seine Angel und ein paar Gefäße mit getrocknetem Tee und gutem eingelegten Gemüse sowie etwas Trockenfleisch – und hier verbrachte er stets mehrere Monate, denn die Wiesen um den See waren feucht und die Tiere fanden üppig zu fressen.

Mit seinem Hund Wolf hatte der Jüngling einen treuen Gefährten, der die Schafe gerne im Zaum hielt und darauf achtete, dass keines verschwand. So konnte er die meiste Zeit mit Angeln oder Schnitzen verbringen, seinen beiden Lieblingsbeschäftigungen. Am liebsten saß er dabei in der Natur und sang seine Lieder, die er von der Großmutter gelernt hatte. Eine kleine Zitter war sein Instrument, das er perfekt beherrschte.

Er liebte es, in den Tag hineinzuleben und nur seiner Kunst nachzugehen. Seine Schnitzereien verkaufte er im Herbst und Winter im Dorf nicht weit weg. Wunderbar waren die Runen, die er in das Holz brachte. Er verstand es, dem Holz lebendige Formen zu geben, und die Runen schmiegten sich wie von selbst in die natürliche Struktur und Farbe der getrockneten Hölzer, die er den Sommer über in den Wäldern sammelte. In den Wintermonaten praktizierte er mit seinen Brüdern Kampfkünste. So war sein Körper trotz des sommerlichen Müßiggangs immer in einem trainierten Zustand.

Dabei gab es keinen Grund in diesen Tagen, zu kriegerischen Zwecken zu trainieren. Seit Menschengedenken gab es keinen Krieg und keine Auseinandersetzungen mehr. Alle lebten in Harmonie und Einklang mit der Natur. Die Atlanter hatten den Menschen bei der Strukturierung ihres Lebens geholfen, und Frieden war eine Selbstverständlichkeit. Sich in Kampfkünsten zu messen entsprach nur dem Übermut der jungen Gesellen, die sich gerne miteinander maßen. Sportlicher Wettkampf und gesunder Ehrgeiz, der Bessere zu sein, waren die einzigen Gründe, sich den alten Kampfkünsten zu widmen.

Jedes Jahr im Winter gab es eine Vielzahl von Wettkämpfen, in denen die Sportlichkeit und Geschicklichkeit der Männer auf die Probe gestellt wurde. Das war mit einer Menge Spaß verbunden, und überall in der kalten Jahreszeit wurden dann Feste gefeiert, zu denen die Menschen auch die alten Lieder sangen. Der junge blonde Hüne war ein häufiger Gast bei diesen Festen und gern gesehen, weil er sich mit den besten Kämpfern messen konnte, aber auch mit seinem Instrument diese Feste mit Freude belebte. Seine Brüder waren ihm nicht sehr ähnlich. Das Einzige, was sie mit ihm gemeinsam hatten, war die Freude an der Kampfkunst mit dem Schwert und der Axt. In diesen Disziplinen konnte ihnen kaum jemand den Rang ablaufen, darin waren sie meisterlich geschickt.

Die Brüder ähnelten sich zwar in ihrem Äußeren, doch in ihrem Wesen waren sie grundverschieden. Er war der jüngste der drei, und als Einziger hatte er zum Leidwesen seiner Mutter noch keine Familie gegründet. Er hatte es nicht so mit dem Verlieben und erst recht nicht mit der Sesshaftigkeit. Er wollte auf seine Sommer in den Bergen nicht verzichten. Er liebte es viel zu sehr, frei in den Wäldern umherzustreifen und in der Natur zu leben.

Sein Vater sorgte sich bisweilen um den jüngsten Sohn, denn außer Schafehüten hatte er noch nicht viel zum Broterwerb gelernt in seinem Leben. Eine Familie zu gründen würde dem letzten Sohn nicht leicht fallen, wenn er nicht langsam einen Beruf erlernte. Die Schnitzereien brachten ihm zwar im Winter ordentlich etwas ein, aber es genügte lange nicht, um Frau und Kinder zu ernähren. Er wusste schon, was der Vater ihm im Winter wieder vorhalten würde. Doch im Augenblick genoss er es, im Schatten des Baums zu liegen. Niemand störte ihn in seinen Gedanken, und er konnte mit den Tieren in den Tag hinein leben.

Gerade kaute er genüsslich an seinem Grashalm, als er aus der Ferne das Singen von Elfen vernahm. Er hatte schon viel von ihnen gehört, denn seine Großmutter erzählte den Kindern immer wieder Geschichten über die Heilkraft und Magie der Elfen. Sie war wohl in Kindertagen einmal im Wald vom Pferd gestürzt. Eine Elfin hatte sie dort gefunden und gesund gepflegt. Seitdem hatte Großmutter ihnen in den Wintermonaten vieles über die Elfen erzählt. Auch die Runen und die Elfensprache hatte sie ihnen beigebracht.

Er selbst hatte noch niemals Elfen gesehen, weshalb er neugierig aufhorchte, als er die sanften Stimmen hörte. Neugierig schlich er sich in den Wald, den Stimmen entgegen, hatte er doch Hoffnung, vielleicht ein einziges Mal in seinem Leben einen Elf zu sehen. Er vergaß seine Schafe und Ziegen und machte sich auf. Irritiert folgte ihm sein Hund Wolf. So leise wie nur irgend möglich lief er den Klängen entgegen auf einen nahen Hügel. Vorsichtig bog er die Zweige eines Buchenstrauchs zur Seite, um den Blick auf die Musik frei zu bekommen, die nun ganz deutlich dicht vor ihm zu hören war.

Was er zu sehen bekam, übertraf alles, was er erwartet hatte.

Eine ganze Prozession Elfen zog majestätisch durch den Wald. Sie sahen wundervoll und erhaben aus. Sie leuchteten aus sich selbst heraus und schienen eher zu gleiten statt zu gehen. Elfenmänner und Elfenfrauen, sogar Elfenkinder nahmen teil an diesem Zug durch den Wald. Singend und lächelnd zogen sie im Klang ihrer Melodien auf einen nahe gelegenen Berg. Manche ritten auf Einhörnern, und manche flogen auf Drachen.

Siegmund wollte seinen Augen nicht trauen. Er hatte kaum zu hoffen gewagt, in seinem Leben jemals einen einzigen Elf zu Gesicht zu bekommen. Aber was er nun sah, ließ seinen Atem stocken. Selbst sein Hund Wolf nahm reglos neben ihm Platz. Siegmund kniff die Augen zusammen und öffnete sie schnell wieder. Aber in der Tat: Es waren wirklich Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Elfen, die da an ihm vorüberzogen.

Fast wäre er durch die Büsche gestürzt vor Erstaunen, doch er konnte sich gerade noch fangen. Wunderschön waren die Elfen, genau, wie seine Großmutter sie beschrieben hatte. Ihre Gewänder waren verziert mit eben jenen Runen, die er immer in die Hölzer schnitzte. Sie trugen lange Gewänder, anscheinend aus feinstem Metall gewoben. Jugendlich schön wirkten ihre Gesichter. Ihre Gestalt war anmutig. Die Männer gingen stolz und aufrecht, während die Frauen und Kinder Edelmut ausstrahlten. Ihre Haut war hell und leuchtend, ihr Schritt anmutig und hoheitsvoll. Es lag etwas Magisches in ihrer Erscheinung.

Immer wieder tauchten silberne Wagen auf, von wunderschönen Pferden gezogen. Sie waren über und über mit Runen geschmückt. Elfenpriester begleiteten den Tross und fächelten aus güldenen Gefäßen geweihten Rauch auf die Wagen. Es schien, als würden die Elfen ihre wichtigsten magischen Gegenstände und Ritualien mit sich führen. Er wunderte sich immer mehr über das Aufgebot, denn die Wagen schienen schwer beladen zu sein. Da er die Elfensprache verstand, konnte er heraushören, was sie lächelnd sangen:

»Elfenkind, nun zieh mit uns

im Licht der Sterne weiter.

Die Zeit im Licht, sie schwindet nie,

sie gibt uns Raum und Klang.

Elfenkind, nun zieh mit uns,

die Erde wir verlassen.

Die Zeit im Licht, sie schwindet nie,

sie gibt uns Heim und Liebe.

Elfenkind, nun zieh mit uns,

dem Klang der Liebe nach.

Die Zeit im Licht, sie schwindet nie,

sie gibt uns ewiges Leben.«

Siegmund war berührt...