Ratgeber Trichotillomanie - Informationen zum krankhaften Haareausreißen für Betroffene und Angehörige

von: Antje Hunger, Heidi Lüttmann

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783844423099 , 66 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ratgeber Trichotillomanie - Informationen zum krankhaften Haareausreißen für Betroffene und Angehörige


 

|9|1 Trichotillomanie – Was ist das?


Haben Sie die Angewohnheit, sich Haare auszureißen? Reißen Sie Ihre Haare nicht aus einem bestimmten Grund aus (z. B. aus Schönheitsgründen oder zur Körperpflege), sondern weil Sie es insgesamt als angenehm oder entspannend erleben, oder weil es Ihnen hilft, wenn Sie sich schlecht fühlen? Oder ist das Haareausreißen vielleicht eine automatische Angewohnheit, die Sie selbst gar nicht bemerken? Fällt es Ihnen schwer, mit dem Haareausreißen aufzuhören, obwohl Ihnen sichtbar Haare fehlen und zusätzliche Probleme auftreten (z. B. Hautschäden, Stimmungseinbrüche, Schwierigkeiten mit anderen Menschen)? Sind das Haareausreißen und seine Auswirkungen so stark, dass Sie darunter leiden? Hält es Sie davon ab, ein „normales“ und erfülltes Leben zu führen?

Wenn mehrere dieser Aussagen auf Sie zutreffen, dann könnte es sein, dass Sie an einer Trichotillomanie erkrankt sind.

Um herauszufinden, ob bei Ihnen der Verdacht auf eine Trichotillomanie besteht, können Sie auch den Selbsttest durchführen, der als Arbeitsblatt 1 im Anhang (vgl. Seite 63) zu finden ist.

Begriffsklärung: Trichotillomanie? Was für ein schwieriges Wort!

Die Bezeichnung stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus drei Wortbestandteilen zusammen: Tricho – tillo – manie. Dabei steht tricho für das Haar, tillo bedeutet so viel wie Rupfen oder Ausreißen und mania ist so etwas wie eine Sucht oder auch Liebhaberei. Die Bezeichnung Trichotillomanie beschreibt damit ziemlich genau das, was die meisten Betroffenen fühlen und berichten: Einen unwiderstehlichen Drang, sich die Haare auszureißen.

Ein bekannter amerikanischer Mediziner und Forscher, Dan J. Stein, hat 1999 mit zwei Kollegen eines der ersten Fachbücher zur Trichotillomanie herausgegeben. Auf dem Umschlag seines Buches befindet sich das Bild einer Frau mit zwölf Armen, die alle an ihr zupfen und Haare ausreißen: |10|Kopfhaare, Wimpern, Augenbrauen, Gesichtshaare und Körperhaare. Dieses Gefühl kennen viele Betroffene. In einem Dokumentationsfilm der amerikanischen Selbsthilfevereinigung „Trichotillomania Learning Center“ (Kontaktadresse im Anhang, vgl. Seite 58) heißt es: „Die Hände werden nahezu magnetisch von den Haaren angezogen“ (deutsche Untertitel wurden hinzugefügt durch die deutsche Selbsthilfevereinigung „Infostelle Trichotillomanie“; Kontaktadresse im Anhang, vgl. Seite 58).

Da die Bezeichnung Trichotillomanie den meisten Menschen wie ein Zungenbrecher erscheint und schwer im Gedächtnis bleibt, hat man sich dazu entschlossen einen neuen Begriff einzuführen: Das pathologische Haareausreißen (engl. „Hair Pulling Disorder“). Pathologisch bedeutet krankhaft. Als krankhaft bezeichnet man das Haareausreißen (aber auch andere Verhaltensweisen) dann, wenn es übermäßig auftritt, d. h. zu häufig, zu lange, nicht mehr kontrollierbar oder in unangemessenen Situationen, sodass die Betroffenen unter den Auswirkungen leiden oder stark in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sind. Manchmal spricht man auch vom „chronischen“ (dauerhaften) Haareausreißen oder vom „zwanghaften“ Haareausreißen, was allerdings missverständlich ist, da Trichotillomanie keine Zwangsstörung ist.

1.1 Woran erkennt man eine Trichotillomanie?


Bei der Trichotillomanie handelt es sich um eine Erkrankung, bei der die Angewohnheit besteht, sich die Haare auszureißen. Besonders häufig werden Kopfhaare, Wimpern und Augenbrauen ausgerissen. Aber auch alle anderen Körperhaare können betroffen sein: Gesichtshaare (Nase, Ohren, Bart), Haare an Armen und Beinen, Achselhaare, Schamhaare und auch Haare am Gesäß. Um als krankhaft zu gelten, muss das Haareausreißen zu einem sichtbaren Haarverlust führen. Es können kahle Stellen auftreten oder das Haar ist an der einen oder anderen Stelle dünner geworden oder etwas ausgelichtet. Für den sichtbaren Haarverlust schämen sich die meisten Betroffenen sehr. Sie versuchen ihn zu verstecken, in dem sie Kopfbedeckungen bzw. lange Kleidung tragen. Oder sie vertuschen die fehlenden Haare durch Make-up bzw. eine Rasur. Viele Betroffene sind sehr erfinderisch, wenn es um das Verstecken des Haarverlustes geht. Leider ist das jedoch oft sehr umständlich, aufwändig und zeitraubend. Das Verbergen des Haarverlusts kostet dann viel Kraft und wird selbst zum Problem.

|11|Merke: Sichtbar ist nicht unbedingt offensichtlich!

Ein sichtbarer Haarverlust muss nicht unbedingt für andere offensichtlich sein. Wenn z. B. Schamhaare gerissen werden, wird der Haarverlust kaum jemand anderem als dem Betroffenen selbst auffallen. Aber auch sonst fällt der Haarverlust anderen Menschen oftmals viel weniger ins Auge als die Betroffenen befürchten. Oder fällt Ihnen auf Anhieb eine weltbekannte Person ein, die weder Augenbrauen noch Wimpern zu besitzen scheint, und täglich von Tausenden bewundert wird? – Nein?

Dann sollten Sie sich die Mona Lisa mal genauer ansehen! Das Gemälde von Leonardo da Vinci ist im Louvre von Paris (oder im Internet: http://de.wikipedia.org/wiki/Mona_Lisa) zu bestaunen.

Das Kernproblem bei einer Trichotillomanie ist also zunächst einmal das Ausreißen von Haaren bzw. der dadurch entstandene Haarverlust. Aber warum lässt man es dann nicht einfach sein? Das denken viele Außenstehende und Angehörige, aber auch Betroffene. Vermutlich haben Sie auch schon versucht „einfach aufzuhören“. Sie haben möglicherweise Phasen erlebt, in denen es Ihnen tatsächlich gelungen ist, gar nicht oder nur wenige Haare zu reißen. Und dann gab es doch wieder Phasen, in denen Sie erneut gerissen haben und der mühsam erkämpfte Fortschritt war wieder vernichtet. Wie frustrierend! Dauerhaft auf das Reißen zu verzichten, gelingt nur wenigen Betroffenen ohne professionelle Hilfe. Der Drang zum Haareausreißen ist so stark, dass es kaum gelingt ihm zu widerstehen.

Dem unwiderstehlichen Drang widerstehen?

Außenstehende können sich einen unwiderstehlichen Drang meist nicht gut vorstellen. Dabei haben wir alle Erfahrung mit einem unwiderstehlichen Drang: dem Juckreiz. Wenn es Sie juckt, wie oft schaffen Sie es dann, sich nicht zu kratzen? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie sich nicht kratzen können? Wie lange halten Sie es durch, sich nicht zu kratzen? Und wie oft haben Sie sich am Ende doch wieder gekratzt? Am Beispiel des Juckreizes wird deutlich, dass das Widerstehen gar nicht so einfach ist, wie man es sich vorstellt, wenn man keinen Juckreiz hat. Und genauso ist es mit der Trichotillomanie: Der Drang zum Reißen tritt auf wie ein |12|Juckreiz und es ist gar nicht einfach, dem zu widerstehen. Nicht einfach, aber möglich! Es gibt nämlich gute Mittel und Wege, um zu lernen, einem scheinbar unwiderstehlichen Drang zu widerstehen.

Wir werden Ihnen später im Kapitel 3 erläutern, wie Sie es schaffen können, langfristig mit dem Reißen aufzuhören. Und wenn Sie sich jetzt nicht vorstellen können, dass Sie das Reißen jemals aufgeben können, dann hilft Ihnen an dieser Stelle vielleicht erst einmal der Hinweis, dass wir alle irgendwann gelernt haben, das Daumenlutschen bzw. den Schnuller aufzugeben. Können Sie sich noch daran erinnern, wie schwer Ihnen das zunächst gefallen ist? (Fragen Sie Ihre Eltern!) Und – vermissen Sie das Daumenlutschen heute noch? Wie gesagt: So etwas aufzugeben ist nicht einfach, aber möglich!

Der starke Drang zum Haareausreißen verbunden mit der Schwierigkeit, diesem zu widerstehen, ist also eine weitere Eigenschaft der Trichotillomanie. Darüber hinaus teilen alle Betroffenen das Leid, das mit dem Haareausreißen bzw. seinen Folgen verbunden ist. Das Haareausreißen selbst wird meist als angenehm erlebt. Es hilft dabei, sich zu entspannen, Langeweile zu vertreiben, sich abzulenken oder besser zu fühlen, wenn es einem nicht gut geht. Manche Betroffene sehen das nicht ganz so. Bei ihnen ist das Haareausreißen anscheinend nicht mit einem besonderen Gefühl verbunden, sondern tritt nahezu automatisch in bestimmten Situationen auf. So wie wir beispielsweise beim Lesen in Gedanken an einem Stift kauen, ohne es wirklich zu bemerken. Es ist zunächst einmal nicht entscheidend, welche Gefühle das Haareausreißen auslöst oder auch nicht, ob es bewusst erfolgt oder unbewusst. Entscheidend ist zunächst einmal, dass es auf lange Sicht viele Nachteile mit sich bringt. Und diese Nachteile sind zumeist der entscheidende Grund dafür, dass man mit dem...