Sind wir Deutschland? Eine politikwissenschaftliche Erklärung für das Fußballmärchen 2006

von: Stefan Laetsch

Diplomica Verlag GmbH, 2008

ISBN: 9783836608497 , 107 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 33,00 EUR

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Sind wir Deutschland? Eine politikwissenschaftliche Erklärung für das Fußballmärchen 2006


 

Kapitel 4.2.1.2, Debatte um eine deutsche Leitkultur

Trotz der Verfolgung innenpolitischer Reformen und eines veränderten, selbstbewussten Auftretens der Regierung, nahm die Suche nach kollektiver Identität auch nach dem Regierungswechsel von 1998 ihren Lauf. Mit der Verwendung des Begriffs „Leitkultur“ löste der CDU-Politiker Friedrich Merz eine Debatte aus, die wie viele andere Auseinandersetzungen vorher das Selbstverständnis der vereinten Bundesrepublik berührten. Es wäre zu einfach, dieses Schlagwort auf rechte populistische Rhetorik zu reduzieren, denn die Debatte drehte sich insbesondere um Fragen der Integration von Ausländern und muss deswegen in ihrem Entstehungskontext gesehen werden.

Der Begriff geht zurück auf den Politologen Bassam Tibi, der sich allerdings weniger für eine deutsche, als vielmehr für eine „europäische Leitkultur“ stark gemacht hatte. Dabei ging es Tibi nicht um die Beschreibung einer ethnischen, sondern um eine zivilisatorische Identität der Gesellschaft. Diese sollte sich auf Europa als Werte- und Normengemeinschaft beziehen.

„Eben weil die vor allem aus der europäischen Aufklärung hervorgegangene kulturelle Moderne keinen ethnischen Charakter hat, ist sie dazu geeignet, kulturübergreifende Gültigkeit zu erlangen.“

Tibi bezog sich dabei auf die Konzepte des französischen Citoyen oder des angelsächsischen Citizen, die demokratisch offen seien und deren gesellschaftliche Identitäten an den Grundwerten der Verfassung festgemacht würden. In diesem Sinne plädierte Tibi also für einen europäischen Verfassungspatriotismus als Leitkultur. Mit dieser Vorgabe erhoffte sich der Autor „eine wildwüchsige Zuwanderung in eine an den Bedürfnissen des Landes orientierte Einwanderung zu verwandeln und diese Einwanderer im Rahmen einer europäischen Identität zu integrieren […].“

Für die Propagierung einer europäischen Leitkultur brauchte Tibi die Überzeugung, dass ohne eine solche ein gesellschaftliches Miteinander nicht funktionieren und die Herausbildung von Parallelgesellschaften ein großes Konfliktpotential bergen könnte. Eine Leitkultur sollte nach seinen Vorstellungen eine auf allgemeinen politischen Grundsätzen beruhende und erlernbare Verhaltensvorgabe sein, die Integration ermöglichte ohne kulturelle Vielfalt zu ersticken. Dabei ging er aber davon aus, dass nur in Europa Menschenrechte und Toleranz Elemente der politischen Systeme seien und in außereuropäischen Kulturen der Humanismus bzw. die Gültigkeit von Menschenrechten keine Bestandteile der jeweiligen Kultur darstellen würden. Zur europäischen Geschichte gehören mit den Kreuzzügen, der Inquisition, dem Sklavenhandel oder dem Holocaust auch fundamentale Missachtungen der Menschenrechte. Dadurch wäre ein Primat kultureller Werte in Europa gegenüber anderen Kulturen unbegründbar.

Auf die politische Tagesordnung kam die Debatte um die Leitkultur durch das Vorhaben der rot-grünen Bundesregierung, ein Einwanderungsgesetz zu erarbeiten. Da die Integrationspolitik insbesondere von konservativen Parteien gerne thematisiert wird, sah sich die CDU gezwungen, auf diese Ankündigung zu reagieren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Beschäftigung mit „Ausländerpolitik“ auch „im Zusammenhang mit der Entwicklung eines neuen deutschen Selbstbewusstseins“ analysiert werden muss, welches das politische Handeln der neuen Generation beeinflusste. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch hatte im März 1999 die Landtagswahlen mithilfe einer Unterschriftenkampagne „Ja zur Integration – Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“ gewonnen. Der nordrhein-westfälische CDU Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers hatte mit seinem Slogan „Kinder statt Inder“, der sich gegen die Anwerbung von Spitzenkräfte mit der Green Card richtete, ebenfalls ein zweifelhaftes Statement abgegeben. So scheute sich auch die Bundes- CDU nicht, das Thema „Ausländerpolitik“ in ihren Themenkatalog aufzunehmen. Im Herbst 2000 erklärte Friedrich Merz, der Fraktionsvorsitzende der CDU im Bundestag, seine Partei werde in anstehenden Wahlkämpfen die Themen Einwanderung und Integration herausstellen. Eine Leitkultur bedeutete für Merz insbesondere eine starke Orientierung am Grundgesetz. In seinen Äußerungen zur Leitkultur bezog er sich dabei nicht auf völkische Argumente oder spezifisch deutsche Gepflogenheiten, sondern vielmehr auf einen deutschen Verfassungspatriotismus. Dennoch sprach die Verwendung des Begriffs „deutsche Leitkultur“ für die „Forderung nach einem Primat der deutschen Kultur über andere Identitäten.“

Die Debatte um eine Leitkultur entstand vor dem Hintergrund einer sich verstärkenden Migration aus osteuropäischen Ländern sowie dem ehemaligen Jugoslawien. Damit einhergehend wurden Ängste vor Überfremdung geschürt, welche das Bedürfnis nach einem verbindenden „Wir-Gefühl“ in Deutschland verstärkten. Mit der möglichen Herausbildung von Parallelgesellschaften wurde außerdem eine größere terroristische Bedrohung befürchtet. Nicht zuletzt hatten die sozialen Umwälzungen sowie die notwendige Reduzierung staatlicher Hilfeleistungen ebenfalls dazu geführt, dass der Wunsch nach einer kontrollierten Einwanderung nach Deutschland vermehrt geäußert wurde. Die Propagierung einer deutschen Leitkultur sollte dazu beitragen, eine auf homogenen Merkmalen beruhende Gesellschaft zu konstruieren, die sich leichter gegenüber Fremden abgrenzen könnte. Langfristig sollte nicht nur eine mögliche Ausgrenzung legitimiert werden können, sondern die Integration von Ausländern sollte sich auch an Zweckmäßigkeitskriterien messen lassen. Die Debatte drehte sich um die kollektive Identität in Deutschland, wies aber eine starke Tendenz zu neorassistischen Elementen auf. Aus diesem Grund verschwand sie relativ schnell wieder von der politischen Agenda. Dennoch verdeutlichte die Debatte auch die „Unsicherheit gegenüber der eigenen kulturellen Identität“ in Deutschland.

In Anlehnung an einen Verfassungspatriotismus sollte das Grundgesetz der Bundesrepublik das kulturelle Leben in Deutschland bestimmen, weil es die rechtlichen Vorgaben gibt, nach denen sich das friedliche Zusammenleben einer multikulturellen Gesellschaft richten muss. Durch die Grundrechte, die Gewaltenteilung sowie die Rechtsstaatlichkeit wird die individuelle Freiheit geschützt, wodurch auch der Schutz einer kulturellen Vielfalt gewährleistet ist. So schützt das Grundgesetz zahlreiche individuelle Freiheiten, welche die Herausbildung einer eigenen Kultur innerhalb von verschiedenen Gruppen erlauben. In einem demokratischen Verfassungsstaat kann eine Kultur nicht zu einer nationalen oder europäischen Leitkultur deklariert werden. Deswegen kann es für Fremde nur eine politisch-rechtliche, aber keine kulturelle Integration geben. Ein gesellschaftlicher Pluralismus besitzt seine kulturellen Klammern in der Gültigkeit der Menschenrechte für alle Individuen sowie in der Akzeptanz des demokratischen Systems. Er erfährt seine Grenzen in den politischen und rechtlichen Schranken der jeweiligen Verfassung.

In Deutschland besteht durch die zahlreichen Gastarbeiter, die im Zuge des Wirtschaftaufschwunges in den 60er Jahren in die Bundesrepublik kamen, schon seit Jahrzehnten eine multikulturelle und damit auch eine multiethnische Gesellschaft. Deswegen ist der Wunsch nach einer „deutschen Leitkultur“ paradox. Bei der Suche nach einer kollektiven Identität stellt diese Forderung keine Lösung dar. Das Grundgesetz regelt ein friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen und muss deswegen als Orientierungsmaßstab respektiert werden. Glücklicherweise hatte dies auch eine neue, selbstbewusst auftretende, politische Generation erkannt...