Störung des Sozialverhaltens bei Jugendlichen - Die Multisystemische Therapie in der Praxis

von: Rudolf Eigenheer, Bruno Rhiner, Marc Schmid, Edith Schramm

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783840925283 , 300 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

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Preis: 26,99 EUR

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Störung des Sozialverhaltens bei Jugendlichen - Die Multisystemische Therapie in der Praxis


 

3 Behandlungsstrategien bei der Störung des Sozialverhaltens (S. 41-42)

Die Störung des Sozialverhaltens (SSV) gilt als ein sehr schwer zu behandelndes Störungsbild mit hohem Chronifizierungsrisiko. Ein Problem bei der Beurteilung vieler Studien und Metaanalysen ist die sehr große Heterogenität des Störungsbildes mit unterschiedlichen Schweregraden. Die hohe Komorbidität, Altersabhängigkeit sowie die stark differierenden Wege des Zugangs zu Hilfen und unterschiedliche Interventionszeitpunkte erschweren es, vorhandene Studien zu vergleichen. Es ist weder seriös noch sinnvoll, Studien zu Gruppentherapieangeboten im Jugendstrafvollzug mit präventiven Elterntrainings in einer Erziehungsberatungsstelle zu vergleichen, auch wenn beide Therapiemodelle auf die Reduktion von aggressivem Verhalten abzielen. Ein großes Problem bei der Behandlung der SSV stellt die immens hohe Rate der Therapieabbrecher von bis zu 60 % dar (Scheithauer & Petermann, 2000; Kazdin, 2000a, 2000b). Eine Untersuchung an britischen Heimjugendlichen hat ergeben, dass nur 9 % psychotherapeutische Gespräche als hilfreich und entlastend einschätzten, obwohl 90 % unter psychischen Erkrankungen litten und Bezugspersonen sowie zuweisende Sozialarbeiter eine Therapie als indiziert erachteten (Mount et al., 2004). Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass sich im Vergleich zur hohen Prävalenz vergleichsweise wenig Jugendliche mit einer SSV in ambulanten Psychotherapien befinden (Sinzig et al., 2006). Deshalb drängt sich gerade im Bereich der aggressiv- dissozialen Verhaltensstörungen die Frage auf, ob man die Ergebnisse aus randomisierten kontrollierten Studien eins zu eins auf die klinische Praxis übertragen kann (Kazdin, 2000a; Heekerens, 2006). Selbst bei kritischer Betrachtung der Forschungslagen kann aber festgehalten werden, dass es sehr viele Interventionen und Wirksamkeitsnachweise für psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen bei SSV für alle Altersstufen und die unterschiedlichen Schweregrade gibt (Fonagy et al., 2002; Esser & Ballaschk, 2005).

Eine systematische Übersicht hinsichtlich der Evidenz vorliegender Behandlungsprogramme weist darauf hin, dass sowohl Elterntrainings und kognitiv- verhaltenstherapeutische Gruppentrainings zur Verbesserung der Problemlösestrategien als auch multisystemische und familientherapeutische Ansätze vielversprechende Ansätze sind (NICE Guidelines, 2012). Aber es gilt gleichermaßen als evidenzbasiert, dass die Effektivität der einzelnen Ansätze entscheidend sowohl vom Entwicklungsalter der Betroffenen als auch vom familiären und sozialen Kontext, in dem die Intervention angewendet wird, abhängt (Kazdin, 2000, 2011; Weisz & Kazdin, 2010). So sind Elternprogramme, die bei Kindern im Alter von 3 bis 11 Jahren als Methode der Wahl anzusehen sind (NICE, 2012), bei Jugendlichen mit SSV tematische Überprüfung von Behandlungsprogrammen; das gilt im Besonderen für Mädchen mit SSV (Stadler et al., 2012).

Im Jugendalter überwiegen oft sozialpädagogische Interventionen und intensive, sehr strukturierte Formen der Familientherapie, zumindest in wissenschaftlichen Untersuchungen. In der klinischen Praxis werden Jugendliche auch häufig einzeltherapeutisch behandelt, und es wurden Konzepte der deliktorientierten Psychotherapie für Kinder und Jugendliche adaptiert. Gerade bei schweren Verlaufsformen, schweren Delikten und chronifizierten Familienproblemen spielt die Heimerziehung, und bei schwereren Delikten auch der Jugendstrafvollzug, nach wie vor eine bedeutsame Rolle.

3.1 Stationäre und teilstationäre Jugendhilfemaßnahmen und Jugendstrafvollzug

Es besteht eine lange Tradition, delinquente Jugendliche im Rahmen der Heimerziehung nachzuerziehen und ihnen in einem solchen Milieu eine schulische und berufliche Perspektive zu ermöglichen. Die Beschreibungen von Adler und Furtmüller (1922), Aichhorn (2005) und Redl (1971) sind auch aus heutiger Perspektive noch gut lesbare Beschreibungen der inneren Konflikte von dissozialen, verwahrlosten Jugendlichen und deren pädagogischen Bedürfnissen. Schwer dissoziale Jugendliche stellen aber auch für die an und für sich sehr erfolgreiche Heimerziehung (Schmidt et al., 2002) eine besondere Herausforderung dar. Vor allem besteht natürlich die Gefahr von ungünstigen Verstärkungsbedingungen innerhalb der Gruppe der Betreuten, weshalb es wichtig ist, das Zusammenspiel der Jugendlichen untereinander pädagogisch zu beeinflussen, prosoziales Verhalten zu fördern und dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen dieses Verhalten untereinander verstärken (Dodge et al., 2006; Opp & Unger, 2006).

Bei stark delinquenten Jugendlichen ist die positive Wirkung der Heimerziehung deutlich geringer als bei Kindern und Jugendlichen mit weniger stark ausgeprägter Delinquenz (Hebborn-Brass, 1991). Metaanalysen über die Heimerziehung und den Jugendstrafvollzug von schwer delinquenten Jugendlichen berichten von vergleichsweise geringen Effektstärken für diese milieutherapeutischen Maßnahmen, insbesondere wenn man die Legalbewährung als alleiniges Zielkriterium heranzieht (Hellinckx & Grietens, 2003). Die Heimerziehung erzielt aber auch bei sehr delinquenten Jugendlichen häufig hoch signifikante Verbesserungen. Diese scheinen jedoch eher in einer Verbesserung des psychosozialen Funktionsniveaus (Ausbildung, Schule) zu liegen als in einer Vermeidung von zukünftigem delinquentem Verhalten (van Engeland & Matthys, 1998).