Und dann kommt der Tod herbei

von: Mary Higgins Clark

Heyne, 2016

ISBN: 9783641188702 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Und dann kommt der Tod herbei


 

Der blinde Passagier

Carol versuchte ihre zunehmende Nervosität zu verbergen und sah sich im Wartebereich des Terminals um. Die farbenfroh gekleideten Folklorepuppen in den Schaukästen wollten so gar nicht zu den grimmigen Polizisten passen, die davor auf und ab patrouillierten. Die Handvoll Passagiere, die darauf warteten, an Bord zu gehen, warfen ihnen hasserfüllte Blicke zu.

»Die Suche dauert schon zu lange«, sagte einer von ihnen, als sich Carol in ihrer rauchblauen Uniform der Gruppe näherte. »Die Schlächter sind sauer.« Er wandte sich an Carol. »Wie lange fliegen Sie schon, Stewardess?«

»Drei Jahre«, antwortete Carol.

»Dafür sehen Sie noch sehr jung aus. Sie hätten das Land vor der Besatzung erleben sollen. Damals war hier alles voller fröhlicher Menschen. Zwanzig Verwandte haben mich bei meinem letzten Besuch verabschiedet. Jetzt wagt es keiner mehr, sich blicken zu lassen. Es ist nicht klug, sich in der Öffentlichkeit mit Leuten zu zeigen, die Verbindungen nach Amerika haben.«

Carol senkte die Stimme. »Heute sind sehr viel mehr Polizisten als sonst hier. Kennen Sie den Grund dafür?«

»Ein Dissident ist ihnen entkommen«, flüsterte er. »Angeblich ist er vor einer Stunde irgendwo in der Nähe gesichtet worden. Sie werden ihn bestimmt schnappen. Ich hoffe nur, ich muss das nicht mit ansehen.«

»In einer Viertelstunde beginnt das Boarding«, entgegnete Carol. »Entschuldigen Sie mich, ich muss zum Kapitän.«

Tom kam soeben von der Zentralen Disposition. Als sich ihre Blicke trafen, nickte er ihr zu. Wie lang würde es ihr noch einen Stich versetzen, wenn sie ihn sah, diesen wunderbaren, groß gewachsenen Mann in seiner dunklen Uniform? Dabei wäre es längst an der Zeit, in ihm nichts weiter als einen Piloten zu sehen und nicht mehr den Mann, in den sie so verliebt gewesen war.

»Du wolltest mich sprechen, Kapitän?«, sagte sie so förmlich wie möglich.

»Hast du nach Paul gesehen?«, fragte Tom ebenso kühl wie sie.

Carol musste sich eingestehen, dass sie seit ihrer Landung in Danubia keinen Gedanken mehr an den Chefsteward verschwendet hatte. Aufgrund der Nebenwirkungen einer Auffrischimpfung war ihm nicht ganz wohl, deshalb war er im Ruheabteil der Crew geblieben, solange die Maschine für den Rückflug nach Frankfurt aufgetankt wurde.

»Nein, Kapitän. Das Räuber-und-Gendarmspiel unserer Freunde hier hat mich mehr interessiert.« Mit dem Kopf deutete sie in Richtung der Polizisten.

Tom nickte. »Ich möchte nicht in der Haut dieses armen Kerls stecken, wenn sie ihn erwischen. Sie gehen davon aus, dass er sich irgendwo auf dem Flughafen herumtreibt.«

Kurz spürte sie wieder die Vertrautheit zwischen ihnen. Gespannt sah sie auf, aber dann war er doch wieder nur der Kapitän, der sich mit der Stewardess unterhält. »Geh bitte an Bord und sieh nach, ob Paul irgendetwas braucht. Ich lasse die Passagiere vom Bodenpersonal rausbringen.«

Carol nickte und trat hinaus aufs Flugfeld.

Im trüben Licht des Oktobernachmittags vermittelte der Flughafen einen durch und durch trostlosen Eindruck. Sie sah, wie drei Polizisten an Bord des Flugzeugs neben ihnen gingen. Ein Schauer durchfuhr sie, bevor sie die Treppe hochstieg und in der Maschine zu Paul ging.

Er schlief noch. Fürsorglich breitete sie eine weitere Decke über ihn, kehrte in die Passagierkabine zurück und sah auf ihre Uhr. Noch zehn Minuten, bevor die Passagiere an Bord kamen. Sie zückte ihren Handspiegel und fuhr sich mit einem Kamm durch die kurzen blonden, sich unter dem Schiffchen ringelnden Haare.

In diesem Moment bemerkte sie im Spiegel eine schmale Hand, die die Stange im kleinen, offen stehenden Stauraum hinter ihrem Sitz umklammert hielt. Sie zuckte zusammen. Jemand will sich dort verstecken! Hektisch sah sie durch das Fenster neben ihrem Sitz. Die Polizisten hatten das Flugzeug nebenan verlassen und kamen nun zu ihnen.

»Legen Sie den Spiegel weg, Mademoiselle«, flüsterte er. Sein Englisch war klar verständlich, allerdings mit schwerem Akzent. Sie hörte, wie die Kleiderbügel zur Seite geschoben wurden. Sie fuhr herum. Vor ihr stand ein schmächtiger, etwa siebzehnjähriger Junge mit wuscheligen blonden Haaren und intelligenten blauen Augen.

»Bitte – haben Sie keine Angst. Ich tu Ihnen nichts.« Der Junge sah aus dem Fenster zu den näher kommenden Polizisten. »Gibt es noch einen anderen Weg aus diesem Flugzeug?«

Mit einem Mal hatte Carol nicht mehr nur um sich Angst, sondern auch um ihn. Die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben, er wich vom Fenster zurück und streckte ihr flehentlich die Hand entgegen. »Wenn sie mich finden, bringen sie mich um. Wo kann ich mich verstecken?«

»Ich kann dich nicht verstecken«, erwiderte Carol. »Sie werden dich finden, wenn sie die Maschine durchsuchen. Ich kann doch die Fluggesellschaft nicht in diese Sache mit hineinziehen.« Sie sah schon Toms Miene vor sich, wenn die Polizei den blinden Passagier an Bord entdecken sollte – noch dazu, wenn sie ihn versteckt hatte.

Auf der Gangway waren Schritte zu hören, schwere, auf dem Metall dröhnende Stiefel, dann laute Schläge gegen die noch geschlossene Tür.

Gebannt starrte Carol dem Jungen in die hellen Augen, in denen ein schwacher Hoffnungsschimmer lag. Verzweifelt sah sie sich um. Im Kleiderfach hing Pauls Uniformjacke. Sie griff danach und nahm auch die Mütze vom Regal. »Zieh das an, schnell.«

Der Junge reagierte sofort. Seine Finger flogen über die Knöpfe, er stopfte sich die Haare unter die Mütze. Erneutes Hämmern an der Tür.

Carol hatte jetzt feuchte Hände, ihre Finger fühlten sich taub an. Sie schob den Jungen in den Sitz am Fenster, fummelte am Verschluss der Formularmappe herum und warf ihm einen Packen Zollerklärungen auf den Schoß. »Mach ja nicht den Mund auf. Wenn ich nach deinem Namen gefragt werde, sage ich Joe Reynolds. Und bete zu Gott, dass sie nicht deinen Pass sehen wollen.«

Auf dem Weg zur Kabinentür glaubte sie, ihre Beine würden jeden Moment nachgeben. Sie legte den Hebel um, und erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie hier tat – und wie jämmerlich durchschaubar die Verkleidung des Jungen war. Ob sie es verhindern konnte, dass die Polizei die Maschine durchsuchte? Die Tür schwang auf. Sie stellte sich in die Öffnung und wandte sich in ungehaltenem Ton an die Polizisten. »Der Steward und ich gehen gerade die Papiere durch. Was wollen Sie denn?«

»Sie haben sicherlich mitbekommen, dass wir einen flüchtigen Landesverräter suchen. Sie haben kein Recht, die Polizei bei ihrer Arbeit zu behindern.«

»Sie behindern mich in meiner Arbeit. Ich werde das dem Kapitän melden. Sie haben kein Recht, ein amerikanisches Flugzeug zu betreten.«

»Wir durchsuchen jede Maschine auf dem Rollfeld«, blaffte der Anführer. »Treten Sie jetzt zur Seite? Es wäre sehr unerfreulich, wenn wir uns mit Gewalt Zutritt verschaffen müssten.«

Carol sah ein, dass es zwecklos war, mit ihnen zu reden. Sie ließ sich auf dem Sitz neben dem Jungen nieder und schirmte ihn mit dem Rücken von den Polizisten ab. Er hatte sich über die Papiere gebeugt. Im fahlen Licht ging die Uniform gerade so durch; dass er keine Krawatte trug, fiel in seiner kauernden Haltung kaum auf.

Carol griff sich von ihm einige Zollerklärungen. »Okay, Joe«, sagte sie, »machen wir das fertig. ›Kralik, Walter, sechs Flaschen Cognac, Wert dreißig Dollar. Eine Uhr, Wert …‹«

»Wer ist noch an Bord?«, platzte der Anführer der Polizisten dazwischen.

»Der Chefsteward. Er schläft im Ruheabteil«, antwortete Carol nervös. »Er ist sehr krank.«

Der Blick des Polizisten fiel auf »Joe«, aber er schien ihn kaum wahrzunehmen. »Sonst niemand? Das ist die einzige amerikanische Maschine. Wir müssen davon ausgehen, dass der Verräter es auf sie abgesehen hat.«

Der zweite Polizist hatte die Toiletten und den Garderobenstauraum durchsucht und unter den Sitzen nachgesehen. Der Dritte kam vom Cockpit zurück. »Da vorn ist nur einer, der schläft. Der ist zu alt für unseren Mann.«

»Er wurde vor einer Viertelstunde ganz in der Nähe gesehen«, sagte der Anführer. »Er muss sich hier irgendwo aufhalten.«

Carol sah auf die Uhr. Eine Minute vor sechs. Die Passagiere dürften bereits über das Flugfeld kommen. Sie musste die Polizisten loswerden, den Jungen verstecken – und das alles in einer Minute.

Sie erhob sich und achtete darauf, direkt vor Joe zu stehen. Bei einem Blick durchs Fenster an der gegenüberliegenden Seite sah sie, wie die Tür zum Wartebereich im Terminal aufging. »Sie haben die Maschine durchsucht«, sagte sie zum Anführer. »Die Passagiere kommen gleich an Bord. Würden Sie jetzt bitte gehen.«

»Es scheint Ihnen ja eine Menge daran zu liegen, uns loszuwerden, Stewardess.«

»Ich muss noch den Papierkram erledigen. Und während des Flugs ist das nur schwer zu schaffen.«

Schritte eilten die Gangway herauf. Ein Bote erschien. »Der Polizeichef erwartet umgehend Ihren Bericht«, meldete er dem Anführer der Gruppe.

Zu Carols Erleichterung eilten die drei Polizisten sofort nach draußen.

Jemand vom Bodenpersonal und die Passagiere standen bereits am Fuß der Gangway, als die Polizisten nach unten gingen. Die Crew betrat die Maschine über die vordere Tür.

»Joe!«, rief Carol. Der Junge kauerte im Gang. Sie zog ihn mit ins Heck und deutete auf die Herrentoilette. »Da rein. Zieh die Uniform aus und mach keinem auf außer mir.«

Sie eilte zur...