Portugiesisches Erbe - Ein Lissabon-Krimi

von: Luis Sellano

Heyne, 2016

ISBN: 9783641178543 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Portugiesisches Erbe - Ein Lissabon-Krimi


 

2

Die Luft in der Gasse war noch stickiger geworden. Oder es fühlte sich nur so an, weil er überhastet aus dem klimatisierten Büro geflüchtet war. Die Hitze hüllte ihn ein, aber das spielte keine Rolle mehr. Die Verwirrung in seinem Kopf reduzierte seine Umgebung zu einem vagen Bild, das ihm nichts anhaben konnte. Wusste er nun mehr als vor seinem Besuch bei Pinho?

Ins Licht?

Sein Puls schlug heftig. Wie nach einem seiner Waldläufe. Nach der großen Runde mit den zwei Anstiegen und den dreißig Liegestützen zum Abschluss. Dabei hatte er nur dagesessen, gelauscht und zwischendurch genickt, um dem Notar zu vermitteln, dass er noch anwesend war. Körperlich zumindest.

Er brauchte etwas zu trinken. Sofort, bevor er umkippte. An einem der Tische des kleinen Straßenausschanks saß nun ein Mann. Ein Glatzkopf, der seine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verbarg und den unteren Teil seines Gesichts hinter einem wuchernden Vollbart versteckte. Eine Mode, die man immer öfter sah. Das Haupthaar, das oben auf dem Kopf keinen Halt mehr fand, war runter ans Kinn gerutscht. Der Mann bemerkte, dass Henrik ihn musterte, und schob die Zeitung höher. Die Schlagzeile auf dem Titel war so fett gedruckt, dass er sie sogar auf die Entfernung lesen konnte.

BANCARROTA – VIEIRA DESISTIR?

Plötzlich verspürte er den Wunsch, unbemerkt zu bleiben. Es mochte an seinem Job liegen, der ihn gelehrt hatte, eine Situation sensibler zu erfassen oder auf andere Art zu interpretieren, als gewöhnliche Leute es taten. Sein Instinkt drängte ihm den Verdacht auf, dass der Mann nur vorgab, die Zeitung zu lesen. Eine Vermutung, die allerdings keinen Sinn machte. Niemand außer Pinho und dessen Sekretärin wussten, dass er in Lissabon war. Und schon gar nicht, weshalb. Aber der Polizist in ihm ließ sich nicht von seiner Wahrnehmung abbringen. Er fühlte sich durch den Bärtigen beobachtet.

Durst hin oder her, er entschied, vor bis ins Baixa-Viertel zu gehen, um dort in der anonymen Menschenmasse unterzutauchen. So schnell es die Hitze erlaubte, marschierte er die Rua Nova do Carvalho entlang, bis andere Gedanken das Gefühl der unerklärbaren Anspannung ablösten. Ja, es gab weiß Gott wichtigere Dinge, mit denen er sich beschäftigen sollte!

Er besaß nun ein Haus, mitten in Lissabon.

Nein, korrigierte er sich. Er konnte ein Haus in Besitz nehmen. Noch hatte er nichts unterzeichnet. Vor allem wegen der Klausel. Dieser eigenwilligen Auflage, auf die sein Onkel so großen Wert legte. Gewissermaßen aus dem Jenseits heraus diktierte Martin seine Bedingungen, die der Notar bei der Verlesung des Testaments mehrfach wiederholt hatte. Henrik wusste nicht, was er davon halten sollte. Er kam sich hilflos vor.

Von Pinhos Monolog waren ihm nur ein paar Brocken im Gedächtnis geblieben. Unter anderem den steuerlichen Kram betreffend. Begrifflichkeiten, die für gedankliche Wirren gesorgt hatten, ohne dass er sich an Details erinnerte. Dazu hatte ihm die Konzentration gefehlt. Einziges Fazit: Er fühlte sich mit allem überfordert und brauchte Zeit zum Nachdenken. So hatte er es dem Notar gesagt. Drei Worte. Ich muss nachdenken!

Mehr war nach der Testamentsverlesung nicht über seine trockenen Lippen gekommen. Artur Pinho hatte verständnisvoll gelächelt und ihm eine Zigarre angeboten, die er kopfschüttelnd ablehnte.

»Melden Sie sich, wenn Sie so weit sind, aber zögern Sie nicht zu lange!«, hatte Pinho ihm mit auf den Weg gegeben.

Zögern Sie nicht zu lange.

Nach fünf Minuten Fußmarsch erreichte Henrik die Praça do Comércio, den prächtigen Exerzierplatz, direkt am Fluss gelegen, von wo man durch den Arco da Rua Augusta, den pompösen Triumphbogen, in das weltberühmte Einkaufsviertel gelangte. In der Mitte des sonnenüberfluteten Karrees ragte die Reiterstatue Josés I. in den wolkenlosen Himmel. Dahinter brandete der Tejo gegen die Kaimauer, der an dieser Stelle bereits zu einem breiten Delta angewachsen war und sich mit dem Salzwasser des Atlantiks mischte.

Henrik kaufte eine Flasche Mineralwasser an einer der Buden, wo Trauben von Touristen auf die historischen Straßenbahnen der Linie 28 oder einen der Doppelstockbusse für ihre Stadtrundfahrt warteten. Der Trubel ließ ihn unberührt, hatte sogar etwas Beruhigendes an sich. Gierig leerte er die Hälfte der Flasche noch an der Bude. Dann wandte er sich in Richtung Fluss, überquerte den trotz mangelndem Schatten belebten Platz und setzte sich auf eine der Steinstufen, die direkt hinein ins braune Wasser führten. Die Entfernung zum Südufer schätzte er auf mehrere Kilometer. Drüben säumten Industrieanlagen den Tejo. Rechts von ihm, gut drei Kilometer flussabwärts, wurde das mächtige Gewässer von der Brücke des 25. April überspannt, die in Form und Farbe an die Golden Gate Bridge in San Francisco erinnerte. Unweit von dort, wo sie wieder auf Land traf, ragte auf einer Anhöhe Cristo Rei in den Himmel. Die knapp dreißig Meter hohe Jesusstatue, die wiederum mit weit ausgebreiteten Armen auf einem fünfundsiebzig Meter hohen Sockel steht, ähnelte der in Rio de Janeiro.

Henrik trank den Rest des Wassers, während seine Augen die Umgebung studierten. Er war nicht unvoreingenommen hierhergekommen, dennoch gefiel ihm, was er sah. Er fühlte Erleichterung, auch wenn er sich das nicht zu erklären vermochte. Genau so wenig wusste er, ob er sich in seinem psychischen Zustand überhaupt darauf einlassen konnte. Wie gerne hätte er diesen Augenblick, diese Aussicht auf die Stadt, die Gerüche und Geräusche, die Wärme und die Leichtigkeit dieses südländischen Sommers mit Nina geteilt. Wie befreiend wäre es gewesen, wenn sie hier auf dieser grob gehauenen Steinstufe neben ihm gesessen hätte und er den Arm um ihre Schulter hätte legen können. Wie beruhigend für ihn, hätte er sie jetzt und hier nur an sich ziehen und den Duft ihres Haares atmen können, so wie er es in vertrauten Momenten immer getan hatte.

Nina …

Er betrachtete seinen Ehering, den die Sonne Portugals zum Funkeln brachte. Selbst nach zwei Jahren überrannte ihn die Trauer noch immer ungebremst. Hinterrücks und mit Gewalt. Eine Flutwelle, die aus dem Mittelpunkt seiner Seele quoll und sich seiner bemächtigte, ihn mitriss in die ewige Schwärze der Verzweiflung. Seine Hand zerdrückte die leere Plastikflasche, ohne dass er es bewusst wahrnahm. Und die Trauer hatte grundsätzlich den Hass im Gepäck. Viel heftiger als kurz nach ihrem Tod. Da war es die Ohnmacht über den Verlust gewesen, die den Hass überdeckte. Doch mit dem Verstreichen der Zeit kamen immer mehr Kontrast und Schärfe hinzu, und aus Verbitterung wurden Zorn und Feindseligkeit.

Jemand berührte ihn an der Schulter.

Er zuckte zusammen.

Aus einem runden Gesicht blickten ihm zwei große, tiefbraune Augen neugierig entgegen. Schnell zwang er sich zu einem Lächeln, obwohl er ahnte, dass es nur zu einer gezwungenen Grimasse reichte. Der Junge, der nicht älter als vier Jahre sein konnte und dessen kleine Hand immer noch auf seiner Schulter lag, machte es ihm nach und lachte seinerseits. Verglichen mit dem seinen war es ein Lachen direkt aus dem Herzen, ehrlich und offen, wie nur Kinder es zustande brachten.

Der Junge hatte sich unbedarft an Henrik festgehalten, um die für seine kurzen Beine zu hohen Treppenstufen zu meistern, und nicht damit gerechnet, einen Mann zu erschrecken, der in einen inneren Abgrund starrte.

Henrik griff nach der Hand des Jungen und verlieh ihm die nötige Balance, damit der Kleine unbeschadet die verbliebenen drei Stufen bis hinunter zur Wasserkante bewältigen konnte.

»Rodrigo!«, hörte er eine Frauenstimme in seinem Rücken. Er wandte sich um, ohne das Kind loszulassen, und blinzelte zur Kaimauer hinauf. Die Frau, ohne Zweifel die Mutter, stöckelte bereits die Treppe hinunter, während eine Flut von Worten aus ihrem Mund strömte. Henrik konnte nicht unterscheiden, ob sie ihm oder dem Jungen galten. Er versuchte es erneut mit einem Lächeln. Erst als die Frau mit ihm auf gleicher Höhe war, erfasste sie die Situation. Der fremde Mann hielt ihr Kind davon ab, ins Wasser zu fallen. Mit einem knappen Nicken in seine Richtung nahm sie den Kleinen hoch und drückte ihn fest an sich. Eine Reaktion, die dem Jungen nicht gefiel, doch der Beschützerinstinkt der Mutter duldete keinen Widerspruch.

»Obrigada!«, sagte die Frau, nachdem sie ihn noch einmal durchdringend gemustert hatte, und mühte sich dann zusammen mit ihrem zappelnden Sprössling die Treppe hoch. Rodrigos Protest erstarb schnell. Der Junge warf Henrik über die Schulter der Mutter hinweg einen enttäuschten Blick zu. Der Kleine hatte nicht geschafft, seine Finger in das kühle Wasser zu tauchen, aber Henrik konnte in den dunklen Kulleraugen schon jetzt die feste Absicht erkennen, einen erneuten Versuch zu starten, sobald er sich von der Mutter unbeobachtet wusste.

Auch er hätte ein Kind in diesem Alter haben können, schoss es ihm durch den Kopf, und dieser Gedanke war eine weitere mannshohe Welle, die Trümmer von Trauer mit sich spülte.

Für unbestimmte Zeit saß er auf der Treppe und starrte ins Wasser. Die Geräusche der Stadt, die tausend Stimmen um ihn herum, verschmolzen mit dem Plätschern der Wellen. Unter dem Brennen der Sonne in seinem Nacken holte ihn die Müdigkeit ein. In Erwartung eines motivierenden Schubs schlug er sich mit den flachen Händen kräftig auf die Oberschenkel. Der Stimulationseffekt war mäßig, reichte aber, um nach dem Brief zu tasten, den er in die Reisetasche gesteckt hatte. Mit zitternden Fingern riss er den Umschlag auf, fischte das einzelne Blatt heraus und faltete es auseinander. Die gleiche saubere Handschrift...