Der Sommer der Sternschnuppen - Roman

von: Mary Simses

Blanvalet, 2016

ISBN: 9783641169251 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Der Sommer der Sternschnuppen - Roman


 

1

Ein Nomen ist eine Person, ein Ort oder ein Ding.

Ein Unglück kommt meistens zu dritt.

Ich werde von lautem Gehämmer auf dem Dach wach, und für einen Moment weiß ich nicht, wo ich bin. Ich blicke auf die weiße Bettdecke, die zarten Rosenknospen auf der Tapete, den Krug aus meergrünem mattiertem Glas auf der Kommode, und da fällt mir wieder ein, dass ich nicht in meiner Wohnung in Manhattan bin. Ich bin in meinem alten Jugendzimmer in Dorset, Connecticut, in einem Bett mit einer für meinen Geschmack viel zu harten Matratze.

Es ist Donnerstag, und wenn es ein normaler Donnerstag wäre, wäre ich gerade dabei aufzustehen und mich für die Arbeit fertig zu machen. Aber mein Arbeitsplatz der vergangenen vier Jahre wurde letzten Freitag im Zuge einer betrieblichen Umstrukturierung abgeschafft. Wenn es ein normaler Donnerstag wäre, würde ich mich darauf freuen, das Wochenende mit Scott zu verbringen, vielleicht in den Hamptons. Aber Scott ist auch weg. Er hat sich von mir entliebt und in eine Anwaltsgehilfin aus seinem Büro verliebt – eine weitere Umstrukturierung. Ich sollte eigentlich in meiner Wohnung sitzen und meine Wunden lecken, aber nicht einmal das kann ich. Gestern kam aufgrund eines Wasserschadens ein gutes Stück von der Decke runter, und ich musste die Wohnung räumen, wahrscheinlich für drei ganze Wochen. Also bin ich jetzt hier – arbeitslos, wohnungslos und Single. Alles, was ich vom Leben noch will, ist, den Rest meiner Tage verschlafen. Doch irgendwer prügelt auf das Dach ein.

Ich gehe über die Hintertreppe nach unten in die Küche, wo die kupfernen Töpfe und Pfannen über der Kochinsel hängen und das blau-weiße Staffordshire-Porzellan meiner Mutter in der Eckvitrine glänzt. Durch die Fensterfront sehe ich den weitläufigen Rasen, der sanft zu den Felsen und den buschigen Riedgräsern hin abfällt. Das Wasser des Long Island Sound blitzt und funkelt in der Sonne, und eine salzige Brise kommt durchs Fliegengitter. Ein einsamer Kajakfahrer gleitet vorbei und zieht rhythmisch sein Paddel durch die Wellen.

»Ist jemand da?«

Das Haus ist leer.

Ich werfe einen Blick auf die hölzerne Arbeitsplatte, wo sich das übliche Durcheinander aus Zeitungen, Magazinen und ungeöffneter Post stapelt. Am Toaster lehnt eine Notiz von Mom, in ihrer ausladenden, nach links geneigten Architektinnenhandschrift: Grace, bin schon los, will noch die Blumen und die Torte bestellen. Wir sehen uns nach der Arbeit. Die Blumen und die Torte sind für die Feier zum 65. Geburtstag meines Vaters, die hier in zwei Wochen stattfindet, und so wie es aussieht, wird es ein Großereignis.

Das Hämmern geht unterdessen weiter und treibt mich über die knarrenden alten Kieferndielen zum Vordereingang. Ein kleiner Stapel Bücher thront unten auf dem Treppengeländer, wo der Handlauf aus Mahagoni in einem geschnitzten Wirbel endet. Wallace Stevens, W. H. Auden, E. E. Cummings, Emily Dickinson. Dad gibt diesen Sommer offenbar wieder seinen Meisterkurs in Moderner Lyrik.

Jedes Jahr schwört er, dass es sein letztes an der Universität sein wird, aber dann lässt er sich doch wieder breitschlagen. Ich glaube nicht, dass die Uni ihn je wird gehen lassen. Schon vor fünf Jahren gab es ein Riesentheater, als er seine Stelle als Leiter des Instituts für Englische Philologie aufgeben und wieder ganz normal als Professor arbeiten wollte. Angesichts der schockierten Reaktionen hätte man meinen können, er hätte verkündet, einen Stripclub eröffnen zu wollen.

Der Junimorgen draußen ist warm, und als ich über den Rasen laufe, sind meine Fußsohlen feucht vom Tau. Die Luft riecht nach Seetang, Austern und Miesmuscheln, der typische Geruch der Küste Neuenglands.

Zwei Männer mit Werkzeuggürteln um die Hüften stehen auf dem Dach. »Entschuldigung!«, rufe ich hoch. Sie spähen zu mir runter, und mir fällt ein, dass ich noch nicht einmal mein Haar gebürstet habe. Ich winke verhalten.

»Hey«, grüßt der kleinere der beiden, winkt zurück und reibt sich über den Bart.

Ich zurre den Gürtel meines Morgenrocks fester. »Was machen Sie da? Das Dach neu decken?«

Er legt seinen Stapel Schindeln ab. »Ganz genau. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass es das alte Ding noch nicht runtergeweht hat.«

Ich blicke auf meine Uhr. »Ist Ihnen klar, dass es erst acht Uhr dreißig ist? Ist das nicht etwas früh?«

Die Männer blicken einander an. »Ähm, nun ja, wir fangen immer um acht an«, sagt der Größere der beiden und stopft sich sein grünes T-Shirt hinten in die Hose.

Womöglich würde ich mich in einer perfekten Welt, in der ich immer noch einen Job und einen Freund und, nicht zu vergessen, ein Dach über dem Kopf hätte, nicht so anstellen. Aber hier und heute will ich einfach nur schlafen.

»Tut mir leid, falls wir Sie geweckt haben«, sagt der mit dem grünen Shirt. Er starrt die Hosenbeine meines Pyjamas an und grinst. »Was haben Sie da eigentlich auf der Hose? Hunde?«

Ich blicke an mir herab. »Nein, das sind Rentiere. Und Weihnachtsmänner.« Ich schiebe die Hände in die Taschen meines Morgenrocks. »Ich pflege den Geist von Weihnachten eben gerne das ganze Jahr über.« Ich werde jetzt nicht erklären, wie ich praktisch nur mit dem, was ich am Leib hatte, aus meiner Wohnung gerannt und hergefahren bin, und wie glücklich ich mich schätzen kann, dass ich diesen Pyjama überhaupt hier hatte.

»Ach so«, sagt er. »Gute Idee.«

»Und? Wird das hier länger dauern?«, will ich wissen.

Der bärtige Mann wirft einen prüfenden Blick auf das Dach. »Zwei Wochen, vielleicht länger, kommt aufs Wetter an.«

Ich werde mir Ohrstöpsel kaufen müssen. »Dann lasse ich Sie mal lieber weiterarbeiten.«

Zurück in der Küche, gehe ich wütend die Post durch, miste den Müll aus und sortiere den Rest in ordentlichen Stapeln – Einladungen, Rechnungen, Zeitschriften. Ordnung hat etwas so Tröstliches an sich. Die Arbeitsplatte sieht schon viel aufgeräumter aus. Ich sammle die Papierschnipsel auf – Abholscheine für die Reinigung, Klebezettel mit Telefonnummern drauf und einen Briefumschlag, auf dem mein Vater einen Satz notiert hat, wahrscheinlich den Vers eines Gedichts. Sie lässt sie hinter sich zurück.

Ich wende mich einem kleinen Stapel Fotos zu. Das Bild ganz oben zeigt eine Hütte, deren Holz zu einem matten Kastanienbraun verwittert ist. Auf einem anderen ist das Innere zu sehen, eine Leiter führt zum Heuboden hinauf. Neben den Fotos liegt eine handgefertigte Zeichnung der Hütte – eine kleine illustrative Veranschaulichung von Mom. Jemand muss sie beauftragt haben, den Raum zu einem Künstleratelier umzugestalten. Sie hat einige Fenster hinzugefügt, und der Großteil des Obergeschosses ist verschwunden, wodurch das Licht ungehindert einfallen und die schrullige Gestalt beleuchten kann, die sie neben eine Staffelei gezeichnet hat. Dieses kleine Detail, das so typisch ist für Mom, entlockt mir ein Lächeln.

Der verbliebene Teil des Heubodens scheint gerade die richtige Größe zu haben, um einen Schlafboden oder eine Leseecke zu beherbergen. Meine Mutter hat auch dort oben ein Fenster eingefügt und die Leiter durch eine Treppe ersetzt. Unweigerlich frage ich mich, ob diese kleine Galerie nicht ein Schrein für meine Schwester Renny ist, die es immer geliebt hat, sich irgendwo mit einem Buch zu verkriechen.

Es klingelt an der Tür, und ich lege die Zeichnung beiseite. Als ich durch den Flur eile, kann ich durch das Fenster den roten Jeep von Cluny sehen, meiner besten Freundin seit unserem ersten Schultag. Sie lebt immer noch in Dorset, mit ihrem Ehemann, ihren zwei kleinen Töchtern und sechs adoptierten Haustieren – drei Hunde, zwei Katzen und ein Kanarienvogel.

»Grace!«, begrüßt sie mich mit einem breiten Lächeln.

Ich ziehe sie in die Eingangshalle und drücke sie an mich. »Es ist so schön, dich zu sehen. Ich hab dich erst später erwartet.«

»Ich weiß, aber mein Termin in der Druckerei wurde auf heute Nachmittag verschoben. Wir gehen die Probedrucke für die neuen Karten durch.«

Cluny gestaltet und vertreibt Glückwunschkarten mit Tusche- oder Aquarellzeichnungen von Hunden und Katzen und allerlei anderen Tieren, die so Dinge tun wie Kerzen auf Geburtstagstorten ausblasen, Segelboote steuern, Cocktails auf Partys schlürfen oder am Meer entspannen. Ich bin extrem stolz auf ihren Erfolg und dass die Karten mittlerweile in Geschenkboutiquen im ganzen Land verkauft werden.

»Und da ich heute Morgen Zeit hatte, habe ich gedacht, ich komme vorbei und schaue, ob du schon wach bist«, sagt sie.

Ich lehne mich gegen die Chippendale-Kommode. »Oh, und wie ich wach bin. Die Dachdecker haben mich geweckt. Die haben Nagelpistolen, die sind so laut wie Kalaschnikows. Und sie werden noch mindestens zwei Wochen bleiben.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagt sie. »Wir haben sowieso einiges vor. Du wirst jeden Tag außer Haus sein.«

»Ich will aber nicht außer Haus sein. Ich will niemanden sehen. Ich will daheimbleiben und schlafen.«

»Wie bitte? Jetzt, wo du endlich mal länger als einen Tag da bist! Wie viele Jahre ist es her, dass du so richtig zu Besuch warst? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern.« Sie streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ihre Stimme wird sanfter. »Du bist jetzt hier, das ist gut, aber du kannst dich nicht die ganze Zeit einigeln.«

»Ich hab jedes Recht mich einzuigeln. Erst verliere ich meinen Job, dann lässt Scott mich sitzen, und dann kracht mir noch die halbe Zimmerdecke runter.« Ich merke, dass ich...