Hardwired - verführt

von: Meredith Wild

LYX, 2016

ISBN: 9783736301252 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Hardwired - verführt


 

1. KAPITEL


»Was für ein herrlicher Tag«, sagte ich.

Der Winter war aus Boston gewichen und hatte dem Frühling Platz gemacht. Der Campus war zum Leben erwacht, es wimmelte nur so von Studenten, Touristen und Stadtbewohnern.

Viele trugen die Talare, die sie sich an diesem Nachmittag für die Abschlusszeremonie übergeworfen hatten, die noch immer im Gange war. Alles fühlte sich surreal an, vom bittersüßen Abschied unter Freunden bis hin zu der bangen Gewissheit, sich von jetzt an den Problemen der wirklichen Welt gegenüberzusehen. In meinem Inneren herrschte ein wahrer Tumult von Gefühlen. Stolz, Erleichterung, Furcht. Aber die Freude überwog. Diesen Moment zu erleben. Marie an meiner Seite zu haben.

»Das ist es, und niemand hat das mehr verdient als du, Erica.« Marie Martelly, beste Freundin meiner Mutter und meine stete Rettung in der Not, drückte leicht meine Hand und hakte sich bei mir unter.

Die große, schlanke Marie überragte meine zierliche Gestalt um einiges. Ihre Haut hatte die Farbe von Kakao, und ihr braunes Haar war zu Dutzenden kurzer Dreads eingedreht – eine Frisur, die sowohl ihre ewige Jugend als auch ihren vielseitigen Stil widerspiegelte. Auf den ersten Blick wäre niemand auf die Idee gekommen, dass sie mir seit beinahe zehn Jahren die Mutter ersetzte.

Über die Jahre war ich zu dem Schluss gekommen, dass es manchmal besser war, keine Eltern zu haben als die Art von Eltern, von denen ich hörte und denen ich ab und an auch begegnete. Die Erzeuger meiner Kommilitonen konnten sehr erdrückend sein. Körperlich da, aber emotional abwesend. Oder alt genug, um meine Großeltern zu sein, und mit einem ernsthaften Generationenkonflikt behaftet. Hervorragendes zu leisten war wesentlich einfacher, wenn ich mich allein unter Erfolgsdruck setzte.

Marie war anders. Über die Jahre hatte sie mir immer das perfekte Maß an Beistand geboten. Geduldig hatte sie sich meine Freundschaftsdramen und mein Gestöhne über die Arbeit und die Klausuren angehört, aber gedrängt hatte sie mich nie. Sie wusste, wie hart ich mich schon selbst forderte.

Wir spazierten die schmalen Wege entlang, die sich überall durch den Campus zogen. Eine sanfte Brise fuhr durch die dicht belaubten Bäume, die über uns leise rauschten.

»Danke, dass du heute für mich da bist«, sagte ich.

»Sei doch nicht albern, Erica! Das hätte ich um nichts in der Welt verpassen wollen. Das weißt du doch.« Sie lächelte zu mir herab und zwinkerte. »Außerdem schwelge ich immer gern ein bisschen in Erinnerungen. Ich weiß wirklich nicht, wann ich das letzte Mal auf dem Campus war. Da fühlt man sich gleich wieder jung!«

Ihre Begeisterung brachte mich zum Lachen. Nur jemand wie Marie konnte seine Alma Mater besuchen und sich dabei jünger fühlen, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen.

»Du bist doch noch jung, Marie.«

»Ach ja, schätze schon. Aber das Leben zieht viel zu schnell vorbei. Das wirst du schon noch früh genug mitkriegen.« Sie seufzte leise. »So, willst du feiern?«

Ich nickte. »Absolut. Gehen wir.«

Durch die Tore des Campusgeländes traten wir nach draußen und hielten ein Taxi an, das uns über den Charles River nach Boston hineinbrachte. Ein paar Minuten später stießen wir die schweren Holztüren eines der besten Steakhäuser der Stadt auf. Gegen die sonnigen Straßen war es im Restaurant dunkel und kühl, und über dem leisen Gemurmel der frühabendlichen Gäste schwebte eine Aura der Vornehmheit.

Wir machten es uns mit unseren Speisekarten bequem und bestellten Essen und Getränke. Kurz darauf brachte der Kellner zwei Gläser mit sechzehn Jahre altem Scotch on the rocks. Mehr als ein Abendessen dieser Art mit Marie hatte mich auf den Geschmack gebracht. Nach wochenlangen Überdosen von Kaffee und nächtlichem Fast Food gab es keine schönere Belohnung als ein kühles Glas Scotch zu einem anständigen Steak.

Ich zeichnete Spuren in das Kondenswasser, das sich auf meinem Glas bildete, und fragte mich, wie der heutige Tag wohl ausgesehen hätte, wenn meine Mutter noch am Leben wäre. Vielleicht wäre ich dann noch zu Hause in Chicago und würde ein völlig anderes Leben führen.

»Was beschäftigt dich, Kleines?«, riss Maries Stimme mich aus meinen Gedanken.

»Nichts. Ich wünschte nur, Mom könnte jetzt hier sein«, antwortete ich leise.

Über den Tisch hinweg ergriff Marie meine Hand. »Wir wissen beide, wie unheimlich stolz Patricia heute auf dich gewesen wäre. Mehr, als Worte ausdrücken könnten.«

Niemand hatte meine Mutter besser gekannt als Marie. Trotz der jahrelangen räumlichen Distanz nach dem Studium hatte ihre enge Freundschaft gehalten – bis zum bitteren Ende.

Ich wich ihrem Blick aus, denn ich wollte mich nicht von der Woge der Gefühle mitreißen lassen, die mich jedes Mal bei wichtigen Ereignissen wie diesem zu überrollen drohte. Heute würde ich nicht weinen. Heute war ein freudiger Tag, komme, was wolle. Einer, den ich nie vergessen würde.

Marie ließ meine Hand los und erhob mit aufleuchtenden Augen ihr Glas. »Wie wäre es mit einem Toast? Auf das nächste Kapitel.«

Auch ich erhob mein Glas, lächelte trotz der Traurigkeit und ließ Erleichterung und Dankbarkeit die leere Stelle in meinem Herzen füllen.

»Cheers.« Ich tippte mit meinem Glas an das von Marie und nahm einen kräftigen Schluck. Genießerisch spürte ich dem Brennen des Alkohols auf dem Weg nach unten nach.

»Wo wir gerade dabei sind, was steht als Nächstes an, Erica?«

Ich wanderte mit den Gedanken zu meinem Leben und seinen realen Herausforderungen zurück. »Na ja, diese Woche ist der große Pitch bei Angelcom, und dann muss ich mir irgendwann auch noch eine Wohnung suchen.«

»Du kannst jederzeit gern bei mir unterschlüpfen.«

»Ich weiß, aber ich muss auch mal allein zurechtkommen. Um ehrlich zu sein, freue ich mich sogar drauf.«

»Schon irgendwelche Pläne?«

»Nicht wirklich, aber ich muss mal raus aus Cambridge.« Harvard war toll gewesen, aber es war an der Zeit, dass die akademische Welt und ich getrennte Wege gingen. Das vergangene Jahr über war ich zu einer richtigen Streberin mutiert und hatte gleichzeitig meine Diplomarbeit, eine Firmengründung und die üblichen Burn-out-Momente gemanagt, die jeden Studenten kurz vor dem Ende überkamen. Ich war sehr erpicht darauf, das nächste Kapitel meines Lebens weit weg vom Campus zu beginnen.

»Nicht, dass ich auch nur im Geringsten wollen würde, dass du hier wegziehst, aber bist du dir sicher, dass du in Boston bleiben möchtest?«

Ich nickte. »Bin ich. Vielleicht verschlägt es mich irgendwann aus geschäftlichen Gründen nach New York oder Kalifornien, aber im Augenblick bin ich hier ganz zufrieden.«

Boston konnte eine harte Stadt sein. Die Winter waren die Hölle, aber die Menschen hier waren stark, leidenschaftlich und oft schmerzhaft direkt. Mit der Zeit war ich eine von ihnen geworden. Ich konnte mir nicht vorstellen, ohne einen guten Grund irgendwo anders hinzuziehen. Außerdem hatte ich keine Eltern, zu denen ich hätte zurückkehren können, also war dies meine Heimat geworden.

»Hast du je in Erwägung gezogen, wieder nach Chicago zu ziehen?«

»Nein.« Einen Augenblick kaute ich schweigend meinen Salat und versuchte, nicht an all die Menschen zu denken, die heute für mich hätten da sein können. »Da wartet niemand mehr auf mich. Elliot ist wieder verheiratet und hat jetzt eigene Kinder. Und Moms Familie war immer … du weißt schon, distanziert.«

Seit meine Mutter vor einundzwanzig Jahren vom College nach Hause gekommen war, frisch geschwängert und ohne Heiratsabsichten, war das Verhältnis zu ihren Eltern schwierig gewesen – um es milde auszudrücken. Selbst als Kind, soweit ich mich noch erinnerte, fühlte ich mich in Gegenwart meiner Großeltern immer unbehaglich – die Art und Weise, wie ich in ihr Leben getreten war, überschattete alles. Von meinem Vater hatte Mom mir nie erzählt, aber wenn sie so Schlimmes erlebt hatte, dass sie nicht darüber sprechen wollte, war ich vermutlich so besser dran. Zumindest redete ich mir das ein, wenn die Neugier mich zu übermannen drohte.

Die Traurigkeit in Maries mitfühlendem Blick spiegelte meine eigene wider. »Bist du noch in Kontakt mit Elliot?«

»Meistens so um die Feiertage. Mit den beiden Kleinen hat er alle Hände voll zu tun.«

Elliot war der einzige Vater gewesen, den ich je gehabt hatte. Er hatte meine Mutter geheiratet, als ich noch ein Kleinkind gewesen war, und wir waren viele Jahre eine glückliche Familie gewesen. Aber kein Jahr nach dem Tod meiner Mutter hatte er sich von der Aussicht, allein einen Teenager großzuziehen, überfordert gefühlt und mich dank meines Erbes in ein Internat im Osten geschickt.

»Er fehlt dir«, bemerkte Marie leise, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

»Manchmal«, gestand ich. »Wir hatten nie eine Chance, ohne sie zu einer Familie zusammenzuwachsen.« Ich wusste noch, wie hilflos und verloren wir plötzlich gewesen waren, nachdem sie gestorben war. Heute verband uns nur noch die Erinnerung an ihre Liebe, eine Erinnerung, die mit jedem Jahr ein wenig mehr verblasste.

»Er hat es nur gut gemeint, Erica.«

»Das weiß ich doch. Ich mache ihm auch gar keinen Vorwurf. Wir sind beide zufrieden, das ist doch alles, was jetzt noch eine Rolle spielt.« Nun, mit einem Diplom in der Tasche und einer eigenen Firma, empfand ich keinerlei Bedauern mehr angesichts Elliots Entscheidung. Letztendlich hatte er mich damit auf den Weg gebracht, der mich...