Skin - Thriller

von: Veit Etzold

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732523108 , 415 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Skin - Thriller


 

1.


»Du hast in Witten studiert?«

Christian hörte die Frage gar nicht, als er mit Fabian, seinem Projektleiter, über den nicht enden wollenden Gang im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens ging. Ihnen folgte Katharina, die ziemlich laut mit einem offenbar begriffsstutzigen Kunden telefonierte. In fünfzehn Minuten begann das Boarding für ihren Flug nach Zürich. Wenn es jemals eine Zeit gegeben hatte, in der Christian Flughäfen mit Urlaub in Verbindung brachte – diese Zeit war jetzt endgültig vorbei.

Er schaute auf sein Smartphone, stolz auf die Gravur in der Metallhülle. Christian König, stand da. East Coast Consulting.

East Coast Consulting. ECC. So hieß die Firma, für die er jetzt arbeitete. Die führende Strategieberatung der Welt, hatte man ihm und den anderen eingehämmert. Erst in den Karriere-Magazinen, dann in den Recruiting-Workshops und schließlich bei ECC selbst.

Jetzt war Christian Teil dieser Firma. Was für jeden Hochschulabsolventen, der Karriere machen wollte, einem Ritterschlag gleichkam. Erst recht für jemanden, der Christians Fach studiert hatte.

»Schläfst du noch?«

Christian wurde aus seinen Gedanken gerissen. »Bitte?«

»Ob du in Witten studiert hast, habe ich dich gefragt«, sagte Fabian.

»Ja«, antwortete Christian knapp. »Witten Herdecke. Philosophie. Und dann noch ein bisschen Volkswirtschaft.«

»Okay.« Fabian schien nicht allzu begeistert zu sein. »Aber die BWL-Sachen sitzen auch, oder? Ihr wart doch alle auf dem Exotentraining?«

»Ja, klar«, beeilte sich Christian zu sagen, während er seine Tasche schulterte und einer dicken alten Dame auswich, die ohne Vorwarnung stehen geblieben war. Noch drei Schritte, und sie standen auf einem dieser horizontalen Förderbänder, auf denen man sich immer so vorkam wie die grauen Herren in Michael Endes Momo, wenn man schnell lief: Ein kleiner Schritt nach vorne, und die Außenwelt rauschte viel schneller an einem vorbei.

Katharina war noch immer ein paar Meter hinter ihnen, da ständig neue Kunden anriefen und sie des Öfteren gegen den Lärm im Terminal anschreien musste. Christian mochte Katharinas norddeutsche, pragmatische Art und ihren klassischschlichten Stil. Besonders ihre eleganten Schuhe waren ihm aufgefallen, zumal sie keine hohen Absätze hatten. Das kannst du vergessen, hatte Katharina ihm gesagt, mit hohen Absätzen kilometerweit zum Gate laufen. Fabian hatte Katharinas Schuhe scherzhaft »Carla-Bruni-Treter« genannt, da das italienische Model/Sängerin/Expräsidentengattin ebenfalls keine hochhackigen Schuhe mehr trug. Allerdings nur deshalb, damit sie ihren kleineren Ehemann Sarkozy nicht überragte.

Hoffentlich sitzen die BWL-Sachen wirklich, dachte Christian. Alles, was er beim Exotentraining gelernt hatte. Ein seltsamer Begriff, aber so nannte man das hier. Exotentraining. Alle, die keine BWLer waren, galten als Exoten: Philosophen, Literaturwissenschaftler, Physiker, Mediziner. Sie alle kamen irgendwann nach der Uni zu ECC, denn das Unternehmen zahlte sehr gut. Und ECC brauchte immer Nachwuchs. Wenn man dann rigoros herausfilterte, wer gut genug war, um ein Jobangebot zu bekommen, musste man halt ein umso größeres Netz auswerfen. Je kleiner der Filter, desto größer musste das Netz sein, wenn etwas hängen bleiben sollte. Und um all die Nicht-BWLer für die harte Business-Welt fit zu machen, gab es das Exotentraining.

Oh ja, Christian hatte daran teilgenommen. Zwei Wochen Druckbetankung im Münchner Büro der ECC. Kostenrechnung, Investitionsrechnung, Bilanzen, Buchhaltung, Barwert, Unternehmensbewertung, Operational Finance, Corporate Finance, International Finance – das volle Programm. Alles das, was normale Leute in einem ganzen BWL-Studium lernen, 52 wurde den Nicht-BWLern, die intelligent – oder auch ahnungslos – genug waren, um von ECC ein Angebot zu bekommen, innerhalb von zwei Wochen in gnadenloser Schlagzahl eingehämmert.

Christian war jetzt genau vier Wochen bei ECC. Zwei Wochen Exotentraining, zwei Wochen European Business Training. Mit anderen Beratern aus England, Spanien und Frankreich. Tagsüber Fallstudien lösen, um sie dann den Geschäftsführern oder Partnern von ECC vorzulegen, die extra mit einem Fahrservice von irgendeinem internationalen Flughafen aus in dieses bayerische Nest gekommen waren, wo die Trainings stattfanden und die hoffnungsvollen Talente in Klausur gingen. Dann gab es Feedback. Und am Abend hoch die Tassen.

Am letzten Abend schließlich wurde die große Überraschung präsentiert, wie bei einer Weihnachtsbescherung. Oder wie bei den Marines auf Paris Island, wenn sie erfuhren, in welches Krisengebiet man sie schickte. Passend dazu nannte man die letzte Woche des European Business Trainings »Bootcamp«.

Am jenem letzten Abend wurde mitgeteilt, wer auf welchem Fall arbeiten würde. Diesen Job übernahmen die Mitarbeiter der Personalbeschaffung, die dafür zuständig waren, die richtigen Leute zu den richtigen Projekten zu bringen. Wenn ein Partner bei ECC einem Unternehmen ein Beratungsprojekt verkaufte, brauchte er dafür Berater, die die eigentliche Arbeit machten, den Job on the ground, wie es bei ECC hieß. Die Partner selbst schwebten oft nur zu den Lenkungsausschüssen ein, den sogenannten Steering Committees, und ließen sich vorher von den rangniedrigeren Chargen über den Projektfortschritt unterrichten, damit sie im Meeting nicht allzu ahnungslos wirkten. Was sie nicht davon abhielt, dem Kunden dennoch achttausend Euro in Rechnung zu stellen. Pro Tag, wohlgemerkt.

Christian hatte bereits davon gehört, was die Partner verdienten, was sie den Kunden kosteten und wer ein »Rainmaker« war, ein Regenmacher. Das waren diejenigen, die die größten Aufträge an Land zogen.

Das alles wurde hinter vorgehaltener Hand bei den beiden Trainingsveranstaltungen diskutiert. Denn es war so, wie es oft war: Einige der »Newies«, der Neueinsteiger, wussten mehr über die Firma als andere. Vielleicht, weil sie dort jemanden kannten, vielleicht, weil sie die richtigen Insiderseiten im Internet gelesen hatten, vielleicht auch nur deshalb, weil sie behaupteten, etwas zu wissen, in Wahrheit aber keine Ahnung hatten. Eine Fähigkeit, die in der Unternehmensberatung nicht ganz unwichtig war. SABVA kürzte man firmenintern die Begabung ab, auch bei einem Problem, von dem man nie zuvor gehört hatte, so zu erscheinen, als habe man die Lösung schon vor dem Gespräch in der Schublade. SABVA – Sicheres Auftreten bei vollständiger Ahnungslosigkeit.

Was beispielsweise zur Folge hatte, dass Berater an Versicherungsprojekten arbeiteten, obwohl sie von Versicherungen erst einmal keine Ahnung hatten. Das wiederum führte unter anderem dazu, dass auch Philosophen wie Christian von ECC eingestellt wurden, auch wenn sie sich die betriebswirtschaftlichen Details mühevoll innerhalb von zwei Wochen – und später an den Projekten – in den Kopf hämmern mussten und sich dann gänzlich unphilosophisch fragten, warum sie nicht gleich etwas Vernünftiges studiert hatten.

Genauso blöd kamen sich allerdings auch die studierten BWLer vor, wurde ihnen doch vor Augen geführt, dass man in schlappen zwei Wochen nachholen konnte, wofür sie sich fünf Jahre lang krumm gemacht hatten.

We don’t hire skills, we hire attitudes, hatte mal ein ECC-Partner an der Uni Witten Herdecke gesagt, als ECC dort ein so genanntes Recruiting durchgeführt hatte, um neue Mitarbeiter zu gewinnen, Häppchen und Sektempfang inklusive. »Wir schauen nicht auf die Fähigkeiten, sondern auf die Einstellung. Wer die richtige Einstellung hat und smart und schnell ist, kann alles lernen.«

Christian war mehr als zufrieden gewesen, als man ihn an jenem letzten Abend der BWG zugeteilt hatte, als die neuen Projekte für die Newies verkündet worden waren. BWG, die Bank für Wirtschaft und Gesellschaft. Er, Christian König, würde an einem Bankenprojekt arbeiten! Obendrein für eine große und bedeutende Bank, denn von der BWG hatte er zuvor schon gehört, sogar als Philosoph. Das machte ihn stolz, zeigte es doch, dass man ihm viel zutraute. Er hatte auch schon von Geisteswissenschaftlern gehört, die erst einmal bei einem so genannten Pro-Bono-Projekt landeten, wo ein Museum oder eine Uni gegen geringe oder gar keine Gebühr beraten wurde. Schön und gut, aber nicht besonders förderlich für die Karriere bei ECC. Denn wer nur »Schönwetterberatung« gewöhnt war, war für die »harten« Beratungsprojekte nicht geeignet – und mit denen verdiente ECC nun mal das große Geld.

Doch Christians anfängliche Hochstimmung verflog, als er feststellen musste, dass die Banking-Praxisgruppe der ECC so riesig und unersättlich war, dass sie immer wieder Nachschub brauchte und sich nicht groß darum kümmerte, ob die Newies etwas anderes machen wollten als Banking. Schließlich hatten die Banken nach wie vor eine Menge Geld und eine Menge ungelöste Probleme, bei denen sie Beratung brauchten. Bei den Newies war daher schon vom obligatorischen »Bankenjahr« die Rede, das jeder Neuling erst einmal hinter sich bringen musste.

»Ich glaube, Lars war vor Kurzem auf einem Recruiting Workshop in Witten«, sagte Fabian, als sie auf dem Laufband standen. »Kann das sein?«

Christian nickte. Lars war der ECC-Partner, der an der Uni Witten von »Skills und Attitudes« geredet hatte. Ihn würde er auch noch kennenlernen, denn Lars war der Partner bei dem Projekt, an dem Christian mit Fabian und Katharina arbeitete.

Kurz darauf stiegen sie vom Förderband, und die Welt bewegte sich wieder langsamer.

»Also, pass...