Was wir weitergeben

von: Margit Fischer

Christian Brandstätter Verlag, 2015

ISBN: 9783710600029 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 19,99 EUR

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Was wir weitergeben


 

I
MEINE FAMILIENGESCHICHTE – Was mich prägte


Wo anfangen? Wenn man über sich nachdenkt, taucht recht bald die Frage auf „Woher komme ich?“ Ich könnte darauf antworten: Meine Mutter stammt aus dem Pinzgau. Oder: Ich bin eine Österreicherin. Genauso gut: Ich bin am 28. Juni 1943 in Stockholm geboren. Vielleicht auch: Meine Familie väterlicherseits stammt ursprünglich aus Mähren und war jüdisch, meine Familie mütterlicherseits war eine Eisenbahnerfamilie aus Saalfelden.

All diese Aussagen sind richtig. Aber wenn ich über meine Familie und meine Wurzeln nachdenke, dann kommt mir vor allem ein Gedanke in den Sinn: Ich stamme aus einer sozialdemokratischen österreichischen Familie. Doch diese Sozialdemokratie und ihr spezielles Milieu, in dem mein Vater und meine Mutter in ihrer Jugendzeit für ihr Leben geprägt wurden und das später auch mich noch formte, gibt es heute in dieser Form nicht mehr.

Meine Familiengeschichte ist zugleich ein Stück mitteleuropäischer Geschichte, weil sich in ihr die Brüche und Kontinuitäten dieses Kontinents im 21. Jahrhundert spiegeln. Zwei Weltkriege, die Schrecken des Holocaust, die Armut und Aussichtslosigkeit dazwischen; aber auch der Glaube und die Hoffnung an eine bessere Zukunft, die meine Eltern in den Idealen der Sozialdemokratie suchten und letztlich fanden. Manchmal denke ich, das Leben meiner Vorfahren ist dermaßen dicht und voll von Schicksalen, dass man sich aus heutiger Sicht gar nicht mehr vorstellen kann, was alles an Leid, Glück, Zufällen, Angst, Mut und Hoffnung in nur wenigen Jahrzehnten möglich und zu verkraften war. Es war tatsächlich ein Zeitalter der Extreme, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm, das „kurze Jahrhundert“ von 1914 bis 1991 beschreibt. Wie privilegiert meine Generation und die unserer Kinder doch ist, dass sie in einem Zeitalter des Friedens aufwachsen dürfen – und das in Österreich seit mehr als sieben Jahrzehnten. Möge der Friede erhalten bleiben.

Im Fall meines Vaters Otto Binder führte dieses extreme Zeitalter dazu, dass – bis auf einen inzwischen verstorbenen Onkel in Kalifornien und eine ebenfalls schon verstorbene Tante in Buenos Aires – niemand außer ihm in seiner Familie den Holocaust überlebt hat. Seine Mutter, seine Schwester und alle Verwandten wurden ermordet. Sein Vater entging wohl nur deshalb der Ermordung durch die Nazis, weil sein Leben bereits im Ersten Weltkrieg ein Ende fand.

Mein Vater hat noch zu Lebzeiten die Gräber meiner Urgroßeltern in der israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofes mit Steinplatten decken und darauf „In Memoriam“ die Namen jener 14 Verwandten eingravieren lassen, die ihr Leben in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts verloren hatten. Zwei Tote waren es im Ersten Weltkrieg. Und 12 im Zweiten. Er und meine Mutter Anni liegen in einem anderen Grab beieinander, aus einem besonderen Grund, den ich später erzählen werde.

Gleichzeitig sorgte dieses extreme Zeitalter dafür, dass mein Vater – er war ein Nachfahre einer jüdischen Schneiderfamilie aus Mikulov, die in den 1850er Jahren wie viele tausende andere Juden auch in die Kaiserstadt Wien eingewandert waren – und meine Mutter – sie war die Tochter eines Eisenbahners und einer Gasthausköchin aus Saalfelden – sich in den 1930er Jahren in einem Jugendlager der sozialistischen Arbeiterjugend in Salzburg kennen lernten und ineinander verliebten. Der aus kleinbürgerlichen, jüdischen Verhältnissen stammende Versicherungsangestellte Otto Binder aus Wien und die knapp vier Jahre jüngere Kellnerin Anni Pusterer hätten sich wohl außerdem nicht kennen gelernt, wenn sie sich nicht so intensiv für die Sache der Sozialdemokratie begeistert hätten.

Wo genau sich meine Eltern kennen gelernt haben, ist in unserer Familiengeschichte nicht restlos geklärt. Es war jedenfalls 1931, aber ob das Treffen der Sozialistischen Arbeiterjugend in Schwarzach oder in St. Johann stattgefunden hat, ist nicht überliefert. Sehr oft hat mein Vater aber jenen besonderen Moment beschrieben, der ihn und meine Mutter für immer zusammenschweißte. Es war der 10. April 1938, der Tag der Volksabstimmung über den sogenannten Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich. Am Nachmittag dieses Tages verabschiedeten Otto und Anni sich am Westbahnhof in Wien in der festen Absicht, dennoch immer zusammenzubleiben. Sie gingen auf unbestimmte Zeit auseinander, weil zusammenzubleiben zu diesem Zeitpunkt bedeutet hätte, sich gegenseitig zu gefährden. Jemanden, den man liebt, zu verlassen, um sein Überleben zu sichern – wer von uns nach dem Krieg in Österreich Geborenen und Aufgewachsenen kann sich dieses Gefühl vorstellen? (Wenn ich jetzt allerdings über das Schicksal von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan oder Libyen lese, dann drängt sich wieder stark die Biographie meiner Eltern in mein Gedächtnis.)

Die Volksabstimmung vom April 1938 war natürlich eine von den Nazis inszenierte Farce. Trotzdem wurde sie zur Tragödie. Mit „Nein“, also gegen den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland zu stimmen, hätte unabsehbare Konsequenzen gehabt. Die Stimmzettel wurden nicht in eine verschlossene Urne geworfen, sondern daneben gestapelt, in der Reihenfolge der Stimmabgabe. Meine Mutter Anni musste abstimmen, sie war katholisch und keine Jüdin. Mein Vater Otto durfte nicht abstimmen, er war jüdisch. Immer wieder hatte meine Mutter meinem Vater in den Tagen davor erklärt, sie werde ganz sicherlich mit „Nein“ stimmen, egal, was komme, weil sie könne und wolle nicht lügen. „Du musst“, hatte mein Vater sie immer wieder gebeten, „du darfst diesmal nicht die Wahrheit offenlegen“. Meine Mutter war immer offen und gerade heraus. Ihre Aufrichtigkeit und ihre herzliche Direktheit sind zwei Eigenschaften, die sich später im schwedischen Exil noch verstärken sollten, passten sie doch so gut zur Kultur dieses nordischen Landes.

Das Wahllokal, das meine Mutter im Frühjahr 1938 also aufsuchen musste, war in der Polizeistelle in der Viriotgasse eingerichtet worden. Sie hatte seit dem Winter 1937 bei einer Gymnasiallehrerfamilie in der Latschkagasse am Alsergrund als Köchin eine Anstellung gefunden. Ihre Erinnerungen an diesen Job sind nicht ungetrübt, weil es zu ihren Aufgaben auch gehörte, einen langhaarigen, weißen Windhund zu bürsten, der sich oft im Kot anderer Hunde wälzte. Sie stand Hunden danach Zeit ihres Lebens „sehr reserviert“ gegenüber. Das hat sie oft erzählt, als wäre das in diesen schrecklichen Zeiten damals das größte Problem gewesen …

Mein Vater Otto begleitete sie am Tag der Volksabstimmung bis direkt vor die Tür des Wahllokals, aus Angst, sie würde ihre Ankündigung wirklich wahr machen. „Hast Du mit Ja gestimmt?“, war das erste, was er sie fragte, als sie herauskam. „Ja, habe ich“, sagte sie deprimiert und niedergeschlagen. Am Nachmittag fuhren sie zum Westbahnhof, um Abschied zu nehmen. Meine Mutter reiste danach zurück nach Salzburg, mein Vater wurde zwei Wochen später, am 24. April 1938, verhaftet und mit einem der ersten Transporte als politischer Häftling und Jude zuerst ins Konzentrationslager Dachau und dann nach Buchenwald gebracht. Er betonte später immer wieder, er hätte das KZ nicht überlebt, hätte er nicht gewusst, dass seine Freundin Anni – verheiratet waren sie noch nicht – auf ihn wartet. Komme, was wolle.

Für die Nazis war er zum Feind geworden, weil er Jude und obendrein Sozialdemokrat war. Aber dass das eine – jüdisch zu sein – mit dem anderen – nämlich Sozialdemokrat zu sein – in seiner Biographie eng miteinander verwoben war, wusste er nur zu genau. Mein Vater war eine Persönlichkeit aus einer anderen Zeit. Er stammte von jener Schicht jüdischer Einwanderer ab, die sich im Wien der Kaiserzeit sehr bald zu einem intellektuell interessierten Kleinbürgertum entwickelte. Hätten die Nationalsozialisten diese tausenden Menschen nicht ermordet, wie anders hätte sich Österreich dann entwickelt? Niemand kann diese Frage beantworten. Ich habe sie mir oft gestellt.

Wobei: Jüdisch-Sein bedeutete für die Familie meines Vaters nicht vorrangig, religiös zu leben, sondern vor allem, in ihrer neuen Heimat Wien sozial aufzusteigen und Akzeptanz zu finden. Deswegen assimilierte man sich schnell. In der ersten Zuwanderergeneration brachte es Josef Binder, mein Urgroßvater, zum Zuschneider der Offiziersschneiderei Tiller in der Mariahilfer Straße. Er war mit seiner Cousine Regina verheiratet. Verwandtenehen dieser Art waren damals noch üblich. Von ihren neun Kindern – sie hatten durch und durch gut österreichische Vornamen: Wilhelm, Fanny, Julius, Moritz, Isidor, Max, Gisela, Hans und Karl – waren zwei vermutlich aus diesem Grund „taubstumm“, wie man damals sagte. Josef und Regina wohnten, wie die meisten jüdischen Zuwanderer dieser Epoche, in der damals als kleinbürgerlich, aber durchaus solide geltenden Leopoldstadt nahe dem Karmeliterplatz. Hier gingen die Kinder auch zur Schule, hier spielte...