Muskelkater mit Zuckerguss

Muskelkater mit Zuckerguss

von: Ruth Rigoni

mcpublish ltd., 2015

ISBN: 9783902797353 , 91 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

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Muskelkater mit Zuckerguss


 

EINE TANKFÜLLUNG VOLLER TRÄNEN

Vor zehn Jahren habe ich mich für den Falschen entschieden, das ist mir leider erst vor drei Wochen klar geworden, als er unsere Nachbarin an unserem fünften Hochzeitstag vögelte. Unsere arme Nachbarin! Die zwei Monate lang jeden Abend in unserer Küche saß und Rotz und Wasser heulte, weil sie ihr Ehemann mit ihrer besten Freundin betrogen hatte. Eines Tages saß sie plötzlich nicht mehr in unserer Küche und ich dachte: Na, Gott sei Dank! Mit der armen Frau geht es wieder bergauf! Dass es zur gleichen Zeit mit mir bergab ging, war mir natürlich nicht klar.

Mir war auch nicht bewusst, dass so eine Geschichte in meinem Leben auch passieren kann.

Meine Eltern sind seit 35 Jahren skandalfrei verheiratet, mein Bruder hat drei Kinder und ist seit 15 Jahren mit seiner bildhübschen Frau glücklich, meine beste Freundin ist, seit ich denken kann, Single und das ganz offen und ehrlich. Sie sagt den Männern, dass sie nur Sex will, und die nehmen das meistens ziemlich gelassen auf.

Ich kenne solche Betrugsgeschichten nur aus Filmen – oder …

Dicke Tränen rinnen über meine Wangen und ich versuche, die letzten Reste aus der Chipspackung zu angeln.

Wie konnte ich nur so tief sinken? Meine Wohnung ist eine Müllhalde, meine Haare stehen in alle Richtungen und ich vermute schwer, dass ich das erste Mal in meinem Leben richtig miefe. Denn ich kann mich nicht mehr an meine letzte Dusche erinnern. Wie konnte er mir das antun, nach all dem, was wir zusammen durchgemacht haben? Was bewegt Menschen dazu, andere so zu verletzten? Animalische Sexgier? Nein, das kann mir keiner weismachen!

Wir fliegen zum Mond, haben Autos und, noch viel wichtiger, den Strom erfunden. Da kann man mir nicht erzählen, dass der Mensch seinen Sexualtrieb nicht so weit im Griff hat … Ich ziehe meine Aussage zurück, Männer haben ihre Triebe nicht unter Kontrolle! Das wurde mir vor genau 21 Tagen schmerzlich bewusst.

»Aber, hey!«, hat mir meine Freundin gesagt, »Wenn sich sogar der Präsident von seiner Praktikantin den Schwanz lutschen lässt, wie kommst du auf die Idee, dass dich dein Mann nicht betrügt?« Wie bitte? Was ist das für eine Aussage? Und so jemanden nenne ich beste Freundin?

Ich habe jetzt andere beste Freunde, ohne die ich die letzten drei Wochen sicher nicht überlebt hätte: Pizza, Chips, Schokoladentorte mit Zitronenzuckerguss, und einer meiner neuen wichtigsten Freunde ist der Alkohol. Je hochprozentiger, desto besser!

Nachts schleiche ich die Straße hinunter zu Nemeck, einer Diskonttankstelle, und hole mir Nachschub. Da bekommt man alles, was ungesund, alkohol- oder zuckerhaltig ist. Ding dong! Irgendwer bearbeitet meine Türglocke. Aber wen interessiert das schon? Ich schlecke meine salzigen Finger sauber und widme mich der nächsten Nachmittags-Soap.

Ding dong!

Wenn man die Lautstärke am Fernseher bis zum Anschlag aufdreht, übertönt sie fast die Klingel. Das habe ich in den letzten Wochen herausgefunden und auch, dass man, wenn man nur auf dem Sofa liegt und sich von Fast Food und Alkohol ernährt, schnell an die sieben Kilo zunehmen kann. Aber wen interessiert das schon? Mich nicht! Und ein Mann wird sowieso nie wieder in mein Leben dürfen.

Seit dieser Nacht, als ich den Fußspuren im Schnee gefolgt bin, bin ich ausgestiegen. Ausgestiegen aus dem Alltag. Ich habe meine Familie und Freunde nicht mehr gesehen und gehe nicht mehr zur Arbeit.

Ding dong! Ganz weit in der Ferne kann ich eine Glocke hören, aber wen interessiert das schon? Ich nehme einen Schluck Rum, pur, und muss mich fast übergeben. Dann starre ich wieder auf den Fernseher und leide mit Carlos mit, in dessen Arme gerade seine große Liebe Sofia stirbt.

»Wach auf!« Ich muss eingenickt sein, irgendjemand rüttelt recht unsanft an mir. »Verschwinde und lass mich weiterschlafen, ich war schon fast im Jenseits!«

»Du hast jetzt drei Wochen getrauert, es reicht! Steh auf, wir gehen duschen!« Ich erkenne die Stimme meiner Auch-der-Präsident-wird-mal-schwach-Freundin.

»Wie bist du reingekommen?«, keife ich sie an.

»Mit dem Schlüsseldienst, du schuldest mir 260 Euro!«

»Du kannst mich mal! Verschwinde!« Ich halte meine Augen geschlossen. Ich habe Angst, wenn ich sie öffne, wird diese Furie in meinem Wohnzimmer Realität.

Plötzlich atme ich eiskalte Luft ein, und obwohl ich meine Augen noch immer fest zusammenpresse, blendet mich grelles Sonnenlicht. Ich habe seit 21 Tagen kein Tageslicht mehr gesehen. Die Hexe hat die Vorhänge weggezogen und die Fenster aufgerissen.

»Es tut mir leid! Ich war vielleicht ein wenig unsensibel mit meiner Aussage … Aber du weißt, ich liebe dich … Und ich mache mir langsam ernsthafte Sorgen um dich!«

»Mir geht’s gut, danke! Du kannst wieder verschwinden!«

»Ja, das kann ich sehen!« Ihr süffisanter Unterton ist nicht zu überhören.

Sie zieht mich von der Couch hoch und schiebt mich in Richtung Badezimmer, entsetzt reiße ich jetzt doch die Augen auf. Und was ich da zu sehen bekomme, versetzt mir einen ordentlichen Schreck. Im dämmrigen Licht der letzten Tage hatte das Chaos in meiner Wohnung irgendwie etwas Heimeliges, aber jetzt bei Tageslicht ist der Anblick einfach nur ekelhaft und abstoßend.

Ohne weiteren Widerstand lasse ich mich von Vivi ins Badezimmer schleifen. Sie schält mich Schicht für Schicht aus meinen Klamotten, und das sind recht viele Schichten, denn mit jedem weiteren Kleidungsstück, das ich übergezogen habe, fühlte ich mich geborgener.

Sie schüttelt den Kopf, und als ich fast nackt vor ihr stehe, rümpft sie die Nase und meint: »Du hast auch schon mal besser gerochen.«

Als ich dann endlich ganz nackt vor ihr stehe, bildet sich eine tiefe Denkerfalte auf ihrer Stirn: »Ich mache uns am besten einen Termin im Fitnessstudio aus.«

Ich sage gar nichts und lasse mich von ihr unter die Dusche stellen.

Das Wasser erweckt mich zu neuem Leben. Die dunkle, düstere Macht, die in den letzten Wochen von mir Besitz ergriffen hat, bricht aus mir heraus und plötzlich rinnen Millionen Tränen über meine Wangen. Ich spüre Seife auf meiner Haut und meine Haare werden gewaschen, aber ich kann die Tränen nicht abstellen.

»Komm heraus, Süße! Du bist ja schon ganz aufgeweicht!« Vivi wickelt mich in ein Handtuch und rubbelt mich trocken. Meine Tränen sind versiegt, als hätte man sie mit dem Wasserhahn mit abgedreht.

»So, jetzt siehst du wieder wie ein halbwegs normaler Mensch aus.« Ihr Blick lässt keinen Zweifel daran, dass es von Herzen kommt, aber gelogen ist.

Mit ein paar flinken Bewegungen macht sie das Sofa sauber und platziert mich dort. Ich bin unendlich erschöpft.

»Und morgen machen wir einen Spaziergang an der frischen Luft.«

»Ja, genau. Und übermorgen gehe ich auf eine Party mit Elyas M’Barek!«

»Nein! Keine Party, aber ins Fitnessstudio … Wer ist Elyas? Hast du den im Internet kennengelernt? Lass die Finger davon, das sind alles Psychos!«

Sie klopft sorgfältig meinen Polster auf, ich strecke erleichtert meine Beine von mir und schließe die Augen. In weiter Ferne höre ich den Staubsauger durchs Zimmer wandern, in der Küche klopfen Töpfe gegeneinander und …

Warum bin ich damals den Spuren im Schnee gefolgt? Warum habe ich genau an diesem Abend einen anderen Weg genommen?

Würde mein altes Leben … meine Ehe … noch existieren, wenn ich all die Zeichen ignoriert hätte? Man kann mir viel nachsagen, dass ich überheblich, arrogant, vielleicht auch ein wenig oberflächlich bin, aber nicht, dass ich blind durchs Leben gehe!

Seit dem frühen Morgen waren dicke Schneeflocken vom Himmel gefallen. Als ich am Abend vom Büro nach Hause fuhr, war die ganze Stadt unter einer zuckerweißen Decke begraben. Alles war ungewohnt friedlich und langsam. Die Autos krochen im Schneckentempo dahin und ich sang viel zu laut einen Text im Radio mit, der eigentlich so gar nicht zu mir und meinem durchgeplanten Leben passte:

Bye (bye), ich fühl mich so frei (frei)

Ich will nicht mehr heim

Und mir is scheißegal, was morgen kommt

Ich heb mein Glas und schrei:

Bye (bye), ich fühl mich so frei (frei)

Und ich grölte total falsch diesen Song mit. Ich! Die normalerweise Jazz hört und dazu ein gutes Glas Rotwein trinkt.

Ich konnte mich noch an ein paar Tage zuvor erinnern, als ich mit Carsten – ja, mein verfluchter Ex – bei meinem Bruder zu Hause vor dem Fernseher saß und ich das erste Mal das Video dazu sah. Ein schmächtiger Junge mit Pandabär-Maske und ein rosa Riesenbunny mit Sonnenbrille flimmerten über den Bildschirm.

Meine Neffen und Nichten sind aufgesprungen und total ausgeflippt.

Sie sangen lauthals mit:

Und mir is scheißegal, was morgen kommt.

Carsten hatte sich furchtbar aufgeregt, weil er meinte, man kann Kindern doch nicht schon in jungen Jahren so einen Schwachsinn servieren. Das hat die Kids natürlich überhaupt nicht beeindruckt. Sie haben weitergebrüllt:

Bye (bye), ich fühl mich so frei (frei).

Okay! Sie sind erst drei, vier und sechs Jahre alt und es ist vermutlich nicht ganz die richtige Textauswahl für dieses Alter. Aber es hat irgendwie gepasst: Die Kleinen tobten durchs Wohnzimmer, draußen schneite es und Cro und seine Jungs zerlegten im Video ein altes Auto und...