Der Drache erwacht - Roman

von: Miles Cameron

Heyne, 2016

ISBN: 9783641164881 , 992 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Der Drache erwacht - Roman


 

2

Albinkirk

Die Truppe, die in Albinkirk einritt, wirkte nüchtern, ernst, wachsam und voller Trauer. Die Fahnen waren eingerollt, und auf dem ersten Wagen befanden sich Leichen – das konnte jeder Beobachter schnell erkennen.

Ser John Crayford sah sie durch das Tor hereinkommen und ritt sofort zum Kopf der Kolonne, statt die Parade abzunehmen und zu salutieren.

Der junge Spross aus dem letzten Jahr war älter geworden. Viel älter. Er trug einen kleinen Spitzbart, seine Augen waren müde. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske aus Erschöpfung und unterdrückter Trauer.

»Wie kann ich helfen?«, fragte Ser John.

Ser Gabriel ergriff die ihm dargebotene Hand. »Heute mit Unterkünften. Und morgen …« Sein Blick glitt zur Seite. »Morgen mit einem Priester und einer Kirche. Wir haben ein ganzes Dutzend Tote.« In seinem Blick lag Trauer – echte Trauer.

Willkommen im Erwachsenenleben, mein Junge, dachte Ser John. Aber er empfand auch Zuneigung zu ihm, und innerhalb von fünfzig Herzschlägen ritt sein Knappe zum Bischof, während sein Diener die Reiter zur Kaserne führte. Die Burg war noch halb leer. Da die Truppe nur etwas mehr als ein Drittel ihrer üblichen Stärke aufwies, konnte er jedem Mann und jeder Frau eine Bettstatt zuweisen, auch wenn es sich bei einigen nur um ein Strohlager handelte.

Ser John erfuhr die Geschichte des Hinterhalts von Kit Foliak, den er noch aus früheren Tagen kannte, während die müden Knappen und Pagen die Wagen entluden, die Pferde losbanden und das Gepäck im Burghof sortierten, dessen unebene Pflasterung fünf Jahrhunderte alt war.

Nachdem er sich um die Grundbedürfnisse der Truppe gekümmert hatte, ging er mit Ser Ricard Fitzalan, einer dünneren und wendigeren Ausgabe des königlichen Hauptmanns, in die Halle und sandte einen Jungen aus, der den Roten Ritter holen sollte. Der Mann kam mit seinem berühmten Bruder und setzte sich auf einen breiten, mit Kissen ausgepolsterten Stuhl, während ihm seine Dienerin das Bein anhob und auf einen Schemel legte. Das junge Mädchen war schnell und behutsam und schien nichts auf die Brummigkeit ihres Herrn zu geben.

»Hör auf damit. Verdammt, du tust mir weh«, spuckte der Hauptmann aus. »Verflucht, Mädchen, nicht weiter. Nein, ich will kein Wasser. Nimm deine Hände von mir.«

Nell beachtete ihn nicht, sondern befolgte Megs Anweisungen.

Ser Gabriel hatte seine Rüstung abgelegt, und sein feiner samtiger Waffenrock war schmutzig.

Allmählich schien der Mann zu sich zu kommen. Er seufzte und sah Ser John an.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich bin nicht ganz ich selbst.«

Ser Gavin zuckte die Schultern und nahm einen Becher mit Wein entgegen. »Mir scheinst du aber ganz der Alte zu sein«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns schon vorgestellt wurden. Ich bin Ser Gavin Murien. Und das hier ist mein Bruder, Ser Gabriel.«

Ser John stand auf und verneigte sich. »Ser John Crayford. Ich kenne Euren Bruder von der Belagerung und alldem, was danach folgte.« Er sah den mürrischen Hauptmann an. »Und ich erinnere mich noch gut daran, dass er mir meine zwei besten Soldaten abgeworben hat, als er zum letzten Mal hier vorbeikam.«

Ser Ricard lachte laut. »Nun, zwar kenne ich Euch beide nicht, aber ich bin Ser Ricard Fitzalan, der Bastard des alten Königs. Und der Hauptmann der Leibwache.«

Ser Gavin verneigte sich. »Ich habe Euch nach Lissen Carrak gesehen. Wir lagen in der Krankenstube der Schwestern nur wenige Betten auseinander.«

Ser Ricard verneigte sich auf seinem Sitz. »Natürlich. Ich bitte um Verzeihung.«

»Ha! Der eine mit Leinen umwickelte Körper sieht aus wie der andere«, sagte Gavin. »Aber Schwester Amicia hatte mich auf Euch hingewiesen.«

Ser John beugte sich vor. »Kit Foliak sagt, Ihr seid in einen Hinterhalt geraten und konntet Euch daraus befreien, und ein gewisser früherer Zauberer des Königs habe versucht, sich einzumischen.«

Gabriel spielte mit seinem ungestutzten Bart. »Meister Foliak geht sehr freigiebig mit Informationen um. Aber ja, es stimmt.«

Ser John schüttelte den Kopf. »Ich möchte Euch nichts tun, und bei Gott, meine Herren, wir sind doch alle aus demselben Metall, nicht wahr? Wenn es unbedingt Parteien und Seiten geben muss, dann stehen wir alle auf der Seite des Königs, oder? Und wir alle sind Feinde von Plangere und seinesgleichen.«

Gabriels Lächeln wirkte nicht freundlich. Aber er seufzte – es war ein langes und langsames Ausstoßen der Luft. Er sah seinen Bruder an, der eine Braue hob.

»Ser John, heute bin ich ein Grobian und nicht auf der Höhe. Dafür bitte ich um Entschuldigung.« Er verneigte sich knapp auf seinem Stuhl.

Ser John ahmte die Verneigung exakt nach.

Ser Gabriel schaute aus dem Fenster in den Frühlingsregen. Sie hatten einen ganzen Tag beim Überqueren des letzten Flusses vor Albinkirk verloren; es war der Nordarm des westlichen Kanatha gewesen. Er war durch das Schmelzwasser zu einem tosenden Strom angewachsen. Die müden Männer hatten sehr lange gebraucht, die Wagen hindurchzubringen.

Die Zunge des Hauptmanns war zu beweglich und zu bissig gewesen.

Er bedauerte es. Er sah weiter aus dem Fenster, und niemand sagte etwas. Schließlich meinte er: »Ich habe zu viele Männer verloren. Und … einen Freund.«

Ser John dachte: Aha.

Ser Ricard war entweder nicht empfindsam oder einfach nur dreist, denn er streckte den Becher nach mehr Wein aus und fragte: »Was ist Euch zugestoßen?«

Ser Gavins Stimme war kaum angestrengter als die seines Bruders. »Vier Lindwürmer«, sagte er. »Zwanzig Dämonen und ein Schamane. Etwas, das wir nie zuvor gesehen haben.« Gavin deutete vage über seine Schulter. »Zum Beweis haben wir zwei Leichen mitgebracht. Wir nennen sie Imps.« Er wandte den Blick ab. »Wir haben drei Männer an sie verloren.«

Ser John schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid um Eure Verluste, Hauptmann. Und es tut mir leid, dass Ihr angegriffen wurdet. Ich versuche, auf meinen Besitzungen Wache zu halten. Wo ist es geschehen?«

»Am Loch«, sagte Ser Gabriel. »Es war in keiner Weise unsere Schuld.«

Ser Ricard und Ser John tauschten einen raschen Blick. »So weit im Süden und Osten!«, sagte Ser Ricard.

»Thorn ist auf dem Anmarsch«, sagte Gabriel. Der Name war wie ein Fluch. »Ihr wisst, dass ich ihn bisher nicht ernst genommen habe. Wie ein Narr. Wie ein Narr. Ich habe ihm ein Jahr zur Erholung gegeben, und seht nur!« Gabriels Gesicht zeigte dieselbe Verärgerung wie das der Hausmutter. »Er ist zurückgekehrt.«

»Bruder …«, sagte Gavin und hob warnend die Hand.

Gabriel beachtete ihn nicht. »Ihr habt einen Rat einberufen«, sagte er zu Ser John. »Ich würde gern zusammen mit meinem Bruder daran teilnehmen. Und mit Tom Lachlan, der jetzt Viehtreiber ist.«

Ser John nickte. »Wir würden uns glücklich schätzen, Euch dabeizuhaben, Ritter. Die Äbtissin wird auch kommen, und die meisten Adligen aus dem Norden werden entweder persönlich erscheinen oder sich vertreten lassen.«

»Ich kann den Kaiser vertreten«, sagte Gabriel.

Ruckartig hob Ser John die Brauen, aber er hatte die Gerüchte bereits gehört.

»Und als Herzog von Thrake glaube ich, auch persönlich einen Platz am Tisch verdient zu haben«, fügte er hinzu.

»Oder auch gleich den ganzen Tisch«, murmelte Ser Gavin.

Ser John runzelte die Stirn. »Nun – Ihr Herren werdet meinen Rat dominieren – zusammen mit Eurer Mutter. Sie wird morgen aus Ticondaga erwartet.«

Ein schwieriges Schweigen setzte ein.

Ser John fragte sich, was er soeben gesagt hatte.

Schließlich gab Ser Gabriel ein Lachen von sich, das auch ein Schluchzen in sich barg. »Darf ich annehmen, dass die Äbtissin Schwester Amicia mitbringen wird?«, fragte er.

Ser John lächelte. »Natürlich. Für unsere Verteidigung ist sie wesentlich.«

Gabriel nickte. »Sehr gut«, sagte er und streckte seinen Becher aus. »Ich brauche noch ein wenig Wein.«

Eine Stunde später hatte Ser Gavin seinen Bruder ins Bett gesteckt, nachdem er ihm ein sauberes Nachthemd übergezogen hatte. Vom Wein und vom vielen Wasser waren sie beide ein wenig betrunken. »Bruder«, sagte er.

Gabriel lächelte wehmütig. »Es geht mir gut. Gut genug. Geh ruhig.«

Gavin schüttelte den Kopf. »Ich bleibe.«

Gabriel hob den Kopf. »Ich bin kein verdammter Schwächling, Bruder. Vertraue mir, ich werde das hier überstehen. Und du hast fast ein Jahr bis zu eurem Wiedersehen gewartet. Geh jetzt! Sie sollte wenigstens wissen, dass Mater bald hier sein wird und … was das bedeutet.«

»Gütiger Christus, ich habe noch nicht...