Bis ans Ende der Geschichte - Roman

von: Jodi Picoult

C. Bertelsmann, 2015

ISBN: 9783641159399 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Bis ans Ende der Geschichte - Roman


 

SAGE

Wir haben den zweiten Dienstag im Monat, und Mrs. Dombrowski bringt ihren toten Ehemann mit in unsere Therapiegruppe.

Es ist gerade erst fünfzehn Uhr, und die meisten von uns sind noch damit beschäftigt, den mehr oder weniger ungenießbaren Kaffee in Pappbecher zu füllen. Ich habe einen Teller Gebäck mitgebracht – Stuart hatte mir letzte Woche erzählt, er komme nicht mehr wegen der Trauerarbeit zu Helping Hands, sondern nur noch wegen meiner Butterscotch-Pekan-Muffins –, und als ich den Teller gerade hinstellen will, deutet Mrs. Dombrowski mit einem scheuen Nicken auf die Urne, die sie in Händen hält. »Das«, teilt sie mir mit, »ist Herb. Herbie, das ist Sage. Sie ist die, von der ich dir erzählt habe – die Bäckerin.«

Ich bleibe wie erstarrt stehen und neige wie üblich meinen Kopf, sodass meine Haare die linke Seite meines Gesichts bedecken. Sicherlich gibt es ein Protokoll dafür, wie man einem eingeäscherten Ehepartner zu begegnen hat, aber ich bin ziemlich verloren. Soll ich Hallo sagen? Den Griff der Urne schütteln?

»Na so was«, sage ich schließlich, denn wir haben in dieser Gruppe zwar nicht viele Regeln, diese wenigen sind dafür aber strengstens zu befolgen: Sei ein guter Zuhörer, urteile nicht und setze der Trauer anderer keine Grenzen. Und wer kannte diese Regeln besser als ich? Schließlich kam ich seit fast drei Jahren hierher.

»Was haben Sie mitgebracht?«, will Mrs. Dombrowski von mir wissen, und da erst wird mir klar, warum sie die Urne ihres Ehemanns mit sich herumschleppt. Bei unserem letzten Treffen hat unsere Moderatorin – Marge – vorgeschlagen, für die anderen ein Erinnerungsstück an das mitzubringen, was wir verloren haben. Und jetzt sehe ich auch, dass Shayla ein paar rosa Strickschühchen so fest umklammert hält, dass ihre Knöchel ganz weiß sind. Ethel hält eine Fernbedienung in der Hand. Stuart hat – wieder – die bronzene Totenmaske seiner ersten Frau dabei. Die Maske ist schon mehrmals in unserer Gruppe aufgetaucht und war das Gruseligste, was ich je gesehen habe – bis jetzt, da Mrs. Dombrowski Herb mitgebracht hat.

Bevor ich eine Antwort stottern kann, ruft Marge unsere kleine Gruppe zur Ordnung. Wir bilden mit unseren Klappstühlen einen Kreis, dicht genug beieinander, damit wir jemandem auf die Schulter klopfen oder eine tröstende Hand ausstrecken können. In der Mitte steht eine Schachtel Papiertaschentücher, die Marge zu jeder Sitzung für alle Fälle mitbringt.

Marge beginnt häufig mit einer allgemeinen Frage: Wo wart ihr während der Ereignisse von 9/11? Durch eine gemeinsame Tragödie kommen die Leute ins Gespräch, und dies macht es oft einfacher, über das persönliche Unglück zu sprechen. Aber dennoch gibt es immer Leute, die gar nichts sagen. Manchmal vergehen Monate, bevor man überhaupt erfährt, wie sich die Stimme eines neuen Teilnehmers anhört.

Heute jedoch erkundigt Marge sich gleich nach den Erinnerungsstücken, die wir mitgebracht haben. Ethel hebt die Hand. »Die hat Bernard gehört«, sagt sie und streicht mit dem Daumen über die Fernbedienung. »Ich wollte nicht, dass er sie hat – ich habe weiß Gott wie oft versucht, sie ihm aus der Hand zu nehmen. Ich habe nicht mal mehr den Fernseher, für den sie gedacht ist. Aber irgendwie bringe ich es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen.«

Ethels Ehemann lebt noch, aber er hat Alzheimer und keine Ahnung mehr, wer sie ist. Die Verluste, die die Leute betrauern, sind mannigfach – von klein bis groß. Man kann seine Schlüssel, seine Brille, seine Jungfräulichkeit verlieren. Man kann den Kopf verlieren, sein Herz oder auch den Verstand. Man kann sein Zuhause aufgeben, um ins betreute Wohnen zu ziehen, oder muss ein Kind auf einen anderen Kontinent ziehen lassen, oder man muss mit ansehen, wie der Ehepartner in der Demenz versinkt. Verlust ist nicht allein auf den Tod beschränkt, und Trauer ist mit Grauschleiern überzogenes Gefühl.

»Mein Ehemann nimmt die Fernbedienung in Beschlag«, sagt Shayla. »Und er sagt, er tue dies, weil die Frauen alles andere kontrollieren.«

»Eigentlich ist es ein Instinkt«, wirft Stuart ein. »Der Teil des Gehirns, der für territoriale Ansprüche zuständig ist, ist bei Männern größer als bei Frauen. Das habe ich in der Sendung von John Tesh gehört.«

»Und dadurch wird es zur unumstößlichen Wahrheit?« Jocelyn verdreht die Augen. Wie ich ist sie in den Zwanzigern. Doch im Unterschied zu mir hat sie keine Geduld für alle, die jenseits der vierzig sind.

»Danke, dass Sie uns Ihr Erinnerungsstück vorgestellt haben«, schaltet sich Marge rasch ein. »Was haben Sie heute mitgebracht, Sage?«

Meine Wangen fangen an zu brennen, als aller Augen sich auf mich richten. Obwohl ich jeden Einzelnen in der Gruppe kenne, obwohl unser Kreis auf Vertrauen gründet, ist es für mich noch immer schmerzhaft, mich den musternden Blicken zu öffnen. Die Haut meiner Narbe, ein Seestern, der sich faltig über mein linkes Augenlid und die Wange zieht, spannt noch mehr als sonst.

Ich schüttele meine langen Stirnfransen über die Augen und ziehe unter meinem Tanktop die Kette mit dem Ehering meiner Mutter als Anhänger hervor, die ich ständig trage.

Natürlich weiß ich, warum es sich – drei Jahre nach dem Tod meiner Mom – noch immer anfühlt, als würde mir ein Schwert in die Rippen gestoßen, wenn ich an sie denke. Aus demselben Grund bin ich auch als Einzige meiner ursprünglichen Trauergruppe noch hier. Während die meisten Leute zu therapeutischen Zwecken herkommen, kam ich her, um mich zu bestrafen.

Jocelyn hebt eine Hand. »Ich habe damit echt ein Problem.«

Meine Röte vertieft sich, weil ich glaube, dass sie von mir spricht, bis ich merke, dass sie die Urne auf Mrs. Dombrowskis Schoß anstarrt.

»Das ist widerlich!«, ereifert sich Jocelyn. »Wir sollten doch nichts Totes mitbringen. Wir sollten ein Erinnerungsstück mitbringen.«

»Er ist kein Etwas, er ist ein Jemand«, korrigiert Mrs. Dombrowski.

»Ich möchte nicht eingeäschert werden«, überlegt Stuart. »Die Vorstellung, in einem Feuer umzukommen, verursacht bei mir Albträume.«

»Kleiner Hinweis: Du bist bereits tot, wenn man dich ins Feuer schiebt«, sagt Jocelyn, und Mrs. Dombrowski bricht in Tränen aus.

Ich greife nach der Schachtel mit den Taschentüchern und reiche sie ihr. Während Marge Jocelyn freundlich, aber entschieden an die Regeln in dieser Gruppe erinnert, suche ich die Toilette auf.

Ich wuchs damit auf, im Verlust etwas Positives zu sehen. Denn meine Mutter meinte immer, ein Verlust habe sie die Liebe ihres Lebens finden lassen. Sie hatte ihre Handtasche in einem Restaurant vergessen, ein Souschef entdeckte sie und fand heraus, wem sie gehörte. Doch als er meine Mutter anrief, war sie nicht zu Hause, und ihre Mitbewohnerin nahm die Nachricht entgegen. Beim späteren Rückruf meiner Mutter meldete sich eine Frau am Telefon, die den Hörer an meinen Vater weitergab. Als sie sich trafen, damit er meiner Mutter ihre Handtasche zurückgeben konnte, entsprach er genau ihren Vorstellungen … doch sie wusste aufgrund ihres ersten Telefonats, dass er mit einer Frau zusammenlebte.

Die einfach nur seine Schwester war.

Mein Dad starb an einem Herzanfall, als ich neunzehn war, und die einzig sinnvolle Erklärung, die ich dafür finde, dass ich drei Jahre später meine Mutter verlor, ist die, dass sie nun wieder mit ihm zusammen ist. Das rede ich mir jedenfalls ein.

Auf der Toilette streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht.

Inzwischen ist die Narbe silbern und wellig und fältelt meine Wange und meine Braue wie die Einschnürung eines Seidenbeutels. Abgesehen von der Tatsache, dass mein Lid herunterhängt und die Haut zu sehr gedehnt wird, würde man auf den ersten Blick nicht erkennen, dass mit mir etwas nicht stimmt – das jedenfalls behauptet meine Freundin Mary. Aber es fällt den Leuten auf. Sie sind nur zu höflich, etwas zu sagen, außer es sind Kinder unter vier, dann zeigen sie mit dem Finger auf mich und fragen mit ihrer brutalen Ehrlichkeit ihre Mütter, was mit dem Gesicht dieser Frau los ist.

Obwohl die Narbe inzwischen verblasst ist, sehe ich sie immer noch so wie direkt nach dem Unfall: roh und rot, ein gezackter Blitz, der die Symmetrie meines Gesichts zerreißt. Was das angeht, bin ich vermutlich einem Mädchen mit Essstörungen sehr ähnlich, das keine hundert Pfund wiegt, aber beim Blick in den Spiegel eine dicke Person sieht. Eigentlich ist es für mich gar keine Narbe. Es ist eine Landkarte von dort, wo mein Leben die falsche Richtung nahm.

Beim Verlassen der Toilette pflüge ich fast einen alten Mann um. Ich überrage ihn und kann die rosa Kopfhaut unter seinem wirren Schopf weißer Haare sehen.

»Ich komme schon wieder zu spät«, sagt er mit Akzent. »Ich habe mich wohl vertan.«

Da ist er wohl nicht der Einzige, sage ich mir. Wir kommen doch alle nur aus einem Grund hierher: um uns an dem festzuhalten, was wir verloren haben.

Dieser Mann ist ein neues Mitglied der Trauergruppe, er kommt erst seit zwei Wochen. Bis jetzt hat er sich noch in keiner Sitzung zu Wort gemeldet. Doch er kam mir...