Der Giftzeichner - Ein Lincoln-Rhyme-Thriller

von: Jeffery Deaver

Blanvalet, 2015

ISBN: 9783641159016 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Giftzeichner - Ein Lincoln-Rhyme-Thriller


 

3

Man kann den Tod auf zweierlei Weise betrachten.

In der Disziplin der forensischen Wissenschaft ist der Tod für den Ermittler eine abstrakte Tatsache, schlicht ein Ereignis, das eine Reihe von Aufgaben nach sich zieht. Gute forensische Cops nehmen dieses Ereignis wie eine historische Begebenheit in Augenschein; für die besten unter ihnen aber ist der Tod reine Fiktion, und das Opfer hat niemals als reale Person existiert.

Bei der Tatortarbeit ist dieser innere Abstand eine notwendige Voraussetzung, so wie die Latexhandschuhe und die alternativen Lichtquellen.

Lincoln Rhyme saß in seinem grau-roten Merits-Rollstuhl an einem Fenster seines Stadthauses am Central Park West und dachte auf genau diese Weise über einen Todesfall aus jüngster Vergangenheit nach. Letzte Woche war in Downtown ein Mann ermordet worden; offenbar war ein Raubüberfall eskaliert. Das Opfer hatte am frühen Abend sein Büro bei der städtischen Umweltschutzbehörde verlassen und war auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf das Gelände einer zu diesem Zeitpunkt menschenleeren Baustelle gezerrt worden. Anstatt seine Brieftasche herzugeben, hatte der Mann sich zur Wehr gesetzt und war vom eindeutig überlegenen Täter erstochen worden.

Der Fall, dessen Akte Rhyme nun vor Augen hatte, sah nach reiner Routine aus, und auch die kargen Beweise waren typisch für solch einen Mord: die billige Waffe, ein Küchenmesser mit Sägeschliff – zwar voller Fingerabdrücke, doch waren die weder bei IAFIS noch sonst wo registriert –, die undeutlichen Schuhabdrücke im Schlamm, der an jenem Abend den Boden bedeckt hatte, sowie Partikel, Abfälle und Zigarettenstummel, bei denen es sich allesamt um tage- oder wochenalte und somit nutzlose Partikel, Abfälle und Zigarettenstummel gehandelt hatte. Allem Anschein nach war es ein Zufallsverbrechen; es gab keinen Ausgangspunkt für die Suche nach dem Täter. Die Polizei hatte die Kollegen des Opfers im Amt für öffentliche Arbeiten befragt und mit den Freunden und Angehörigen gesprochen. Es gab keine Drogenvorgeschichte, keine prekären Geschäfte, keine eifersüchtigen Geliebten und auch keine eifersüchtigen Ehepartner von Geliebten.

Angesichts der dürftigen Spurenlage würde dieser Fall sich nur auf eine Weise lösen lassen, wusste Rhyme: Jemand würde leichtfertig damit prahlen, in der Nähe des Rathauses eine Brieftasche erbeutet zu haben. Und wenn sein Gegenüber dann das nächste Mal wegen Drogenbesitzes, häuslicher Gewalt oder Diebstahls verhaftet wurde, würde er oder sie eine Abmachung mit der Staatsanwaltschaft treffen und den Prahler verraten.

Für Lincoln Rhyme war die Tat, dieser fehlgeschlagene Raubüberfall, ein distanziert wahrgenommener Tod. Historisch. Fiktional.

So viel zur Betrachtungsweise Nummer eins.

Bei der zweiten Möglichkeit kommt das Herz ins Spiel: wenn ein Mensch, zu dem eine echte Beziehung besteht, nicht länger auf dieser Erde weilt. Und der andere Todesfall, der Rhyme an diesem stürmischen grauen Tag beschäftigte, setzte ihm so sehr zu, wie der des Überfallopfers ihn kaltließ.

Rhyme standen nicht viele Leute nahe. Das lag nicht an seiner körperlichen Verfassung – er war vom Hals abwärts weitgehend gelähmt. Nein, er war nie besonders gesellig gewesen. Er war Wissenschaftler. Ein Verstandesmensch.

Oh, es hatte durchaus ein paar enge Freunde gegeben, einige Verwandte, Geliebte. Seine Frau, inzwischen seine Ex.

Thom, seinen Betreuer.

Amelia Sachs natürlich.

Doch der zweite Mann, der vor einigen Tagen gestorben war, war ihm in einem Punkt nähergekommen als alle anderen: Er hatte für Rhyme eine bislang unerreichte Herausforderung bedeutet, ihn gezwungen, die Grenzen seines ohnehin schon beachtlichen Verstandes zu erweitern, vorausschauend zu denken, Strategien zu entwerfen und sich selbst zu hinterfragen. Und er hatte Rhyme gezwungen, um das eigene Leben zu kämpfen; es war dem Mann beinahe gelungen, ihn zu töten.

Der Uhrmacher war der faszinierendste Verbrecher gewesen, mit dem Rhyme jemals zu tun gehabt hatte. Richard Logan, der Mann mit den vielen Identitäten, war in erster Linie ein Profikiller, wenngleich er alle möglichen Straftaten verübt hatte, von Terroranschlägen bis hin zu Einbruchdiebstählen. Er arbeitete für jeden, der sein saftiges Honorar zahlte – vorausgesetzt, der Auftrag war, jawohl, herausfordernd genug. Was auch für Rhyme das ausschlaggebende Kriterium war, wenn er beschloss, einen Fall als beratender forensischer Wissenschaftler zu übernehmen.

Dem Uhrmacher war es als einem von sehr wenigen Kriminellen gelungen, Rhyme intellektuell zu übertrumpfen. Obwohl der Kriminalist letztlich die Falle gestellt hatte, die Logan ins Gefängnis brachte, machte es ihm immer noch zu schaffen, dass es ihm zuvor mehrmals nicht gelungen war, die Verbrechen des Uhrmachers zu vereiteln. Und sogar wenn er scheiterte, vermochte dieser Täter bisweilen großes Unheil anzurichten. Als Rhyme das Attentat auf einen mexikanischen Polizisten verhinderte, der gegen die Drogenkartelle ermittelte, konnte Logan immerhin einen internationalen Zwischenfall provozieren. Am Ende wurde vereinbart, die Akten zu versiegeln und so zu tun, als hätte es den Mordversuch nie gegeben.

Doch nun war der Uhrmacher nicht mehr da.

Der Mann war in der Haft gestorben – und zwar nicht etwa durch die Hand eines Mitgefangenen oder durch Selbstmord, wie Rhyme bei Erhalt dieser Nachricht zunächst vermutet hatte. Nein, die Todesursache war ganz alltäglich – ein Herzinfarkt, wenngleich ein sehr schwerer. Der Arzt, mit dem Rhyme am Vortag gesprochen hatte, war der Überzeugung, dass Logan eine permanente und gravierende Hirnschädigung zurückbehalten hätte, wenn es ihnen gelungen wäre, den Mann zu retten. Obwohl Mediziner keine Formulierungen wie »sein Tod war ein Segen« verwendeten, hatten die Ausführungen des Arztes doch genau diesen Eindruck bei Rhyme hinterlassen.

Eine Bö des launischen Novemberwinds ließ die Fenster von Rhymes Haus erzittern. Er befand sich im ehemaligen Salon des Gebäudes – dem Ort, an dem er sich so wohl wie nirgendwo sonst auf der Welt fühlte. Das Wohnzimmer aus viktorianischer Zeit diente heutzutage als voll ausgestattetes Kriminallabor mit blitzblanken Tischen zur Untersuchung von Beweismaterial, mit Computern und hochauflösenden Monitoren, Gestellen voller Instrumente, hoch entwickelten Geräten wie Abrauch- und Partikelabzügen, Fingerabdruck-Visualisierungskammern, Licht- und Rasterelektronenmikroskopen sowie dem Herzstück: einem Gaschromatographen samt Massenspektrometer, dem Arbeitstier aller forensischen Laboratorien.

Die Ausrüstung im Wert von mehreren Millionen Dollar hätte jeder kleinen oder sogar mittelgroßen Polizeibehörde des Landes zur Ehre gereicht. Rhyme hatte alles aus eigener Tasche bezahlt. Die Abfindung nach dem Arbeitsunfall, der Rhymes Querschnittslähmung zur Folge gehabt hatte, war ziemlich beträchtlich ausgefallen; das Gleiche galt für die Höhe der Honorare, die er dem NYPD und anderen Strafverfolgungsorganen für seine Dienste berechnete. (Mitunter gab es auch Angebote aus anderer Richtung, die sich womöglich als lukrativ erwiesen hätten, zum Beispiel aus Hollywood, wo man Rhymes spektakulärste Fälle für das Fernsehen verfilmen wollte. Einer der vorgeschlagenen Titel lautete Der Mann im Rollstuhl, ein anderer Ein Rhyme zu jeder Jahreszeit. Thom hatte die Reaktion seines Chefs auf dieses Ansinnen – »Hat denen etwa jemand ins Hirn geschissen?« – folgendermaßen übermittelt: »Mr. Rhyme hat mich gebeten, Ihnen für Ihr freundliches Interesse zu danken. Leider lassen seine zahlreichen Verpflichtungen die Arbeit an einem derartigen Projekt vorläufig nicht zu.«)

Rhyme wendete nun seinen Rollstuhl und blickte zu einer wunderschönen filigranen Taschenuhr, die in einer kleinen Halterung auf dem Kaminsims stand. Eine Breguet. Ein Geschenk des Uhrmachers höchstpersönlich.

Seine Trauer war vielschichtig und spiegelte die beiden verschiedenen Weisen wider, den Tod zu betrachten. Es gab mit Sicherheit analytische – forensische – Gründe, den Verlust zu bedauern. Der Kriminalist würde nun niemals die Möglichkeit haben, den Verstand des Mannes zu seiner Zufriedenheit zu ergründen. Wie der Spitzname erkennen ließ, war Logan von der Zeit und den Zeitmessern regelrecht besessen gewesen und hatte sogar eigenhändig Uhren verschiedener Größe gebaut. Die gleiche Sorgfalt und absolute Präzision hatte er auf die Planung seiner Verbrechen verwandt. Rhyme hatte vom ersten Moment an bewundert, wie Logans Intellekt funktionierte. Er hatte darauf gehofft, dass der Mann ihm gestatten würde, ihn im Gefängnis zu besuchen, um über die an eine Partie Schach gemahnende Struktur der Taten zu reden.

Doch Logans Tod warf auch wesentlich profanere Fragen auf. Die Staatsanwaltschaft hatte Logan eine Verfahrensabsprache angeboten, eine Strafminderung im Gegenzug für die Namen mancher seiner Auftraggeber und Komplizen; der Mann hatte eindeutig über ein ausgedehntes Netzwerk krimineller Kollegen verfügt, deren Identität die Polizei brennend interessierte. Gerüchteweise hatte Logan vor seiner Ergreifung zudem mehrere Tatpläne bereits fertig ausgearbeitet.

Doch Logan war nicht auf das Angebot eingegangen. Und was noch ärgerlicher war, er hatte sich in allen Punkten schuldig bekannt und dadurch Rhyme der Gelegenheit beraubt, mehr über ihn zu erfahren und seine Familienangehörigen und Mittäter zu identifizieren. Rhyme hatte sogar vorgehabt, Gesichtserkennungstechnologie und verdeckte Ermittler einzusetzen, um sämtliche Besucher des Prozesses zu durchleuchten.

Letztlich jedoch lag, wie Rhyme...