Der Schwede - Thriller

von: Robert Karjel

Blanvalet, 2016

ISBN: 9783641173944 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Der Schwede - Thriller


 

3

FOLGENDER TAG
FLUG SK901 VON ARLANDA

Während das Flugzeug auf seine endgültige Flughöhe stieg, warf Ernst Grip einen trägen Blick auf die Landschaft unter sich. Die Expressen lag ungelesen auf seinem Schoß. Er faltete sie zusammen und steckte sie in die Netztasche an der Rückenlehne vor sich. Er suchte nach einer bequemen Sitzposition, hatte immer zu wenig Platz für die Beine in der elenden Economyclass, freute sich auf den ersten Drink und Snack, damit er eine Beschäftigung hatte.

Noch acht Stunden bis New York.

Der Amerikaner neben ihm befragte die Flugbegleiterin ausführlich über die alkoholischen Getränke an Bord.

Er selbst bestellte »Whisky, egal welche Sorte« und bekam ohne weitere Nachfragen zwei Fläschchen ausgehändigt. Sie nahmen den gleichen Weg wie die winzige Tüte Erdnüsse.

Hühnchen mit verwässertem Rotwein. Obgleich er sich auf den letzten Drücker für den Flug entschieden hatte, war es irgendwem gelungen, noch ein Economyclass-Ticket für ihn zu organisieren. Der übliche Geiz der schwedischen Staatsverwaltung. Auf der elektronischen Karte am Ende des Kabinenabschnitts kroch das Flugzeugsymbol irgendwo vor Norwegens Küste über das Meer. Endlich gab es Kaffee. Normalerweise trank er nie Cognac, aber jetzt nahm er einen. Dann zappte er zwischen den Filmen an dem Videoschirm vor sich hin und her. Schlief ein.

Grip war der dunkle Typ mit der Sorte Gesicht, die man glaubte, schon mal irgendwo gesehen zu haben. Im Anzug sah er älter, in Freizeitkleidung jünger aus. Im Pass war sein Alter mit siebenunddreißig Jahren angegeben. Ansprechend breite Schultern, die die Flugbegleiterinnen und ihre männlichen Kollegen dazu veranlassten, ein wenig länger in seiner Nähe zu verweilen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

Am Vortag war er zu seinem ehemaligen Chef bei der Sicherheitspolizei bestellt worden und hatte mitgeteilt bekommen, dass er nach New York fliegen sollte. Ein kurzes Rucken an der Loyalitätsleine, sein neuer Chef bekam beiläufig den Anruf: »Grip verreist.« Um die organisatorischen Dinge musste er sich nicht kümmern, sein Part war die Durchführung. Kaum hatte er den Raum betreten, wurden ihm das Flugticket und eine Kreditkarte in die Hand gedrückt.

»Sei so gut, und schreib eine Liste deiner Ausgaben«, lautete die einzige Ermahnung. Das war der Jargon eines lebenserfahrenen Sicherheitspolizisten, nicht eines Akademikers, sondern eines cleveren alten Silberrückens mit eigenem Budget.

»Ist das Visum in der Mache?«, hatte Grip gefragt.

»Scheiß drauf. Du reist als Tourist ein.«

Aus irgendeinem Grund hatten sie mit den praktischen Fragen zu Kost und Logis angefangen.

»Und …?«, sagte Grip, um auch noch den Rest zu klären.

Der Chef hatte ein paar Notizen vor sich. »Das Auswärtige Amt will, dass du dich mit den Amerikanern triffst.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Unklar. Die Amerikaner wollen ein paar Fragen stellen.«

»Alle dreihundert Millionen?«

»Justice Department, irgendeine Behörde dort, nehme ich an. Deren Leute holen dich in Newark ab.«

»Was für Fragen?«

Er bekam ein Achselzucken als Antwort.

»Aber sie haben speziell nach mir gefragt?«

»Was weiß ich, du bist einer der wenigen bekannten Namen unten im Palast des Erbprinzen. Wahrscheinlich hast du bleibenden Eindruck hinterlassen, als wir die Ägypter auf dem Flugplatz in Bromma ausgeliefert haben. Die Suppe hatte sich das Außenministerium eingebrockt, wir haben sie ausgelöffelt, sie haben sich an dich erinnert. Wie auch immer, sie wollten dich, und ich habe zugesagt.«

»Was für ein verdammter Aufwand.«

»Pack einen bequemen Anzug ein«, sagte sein Chef lachend. »Beantworte ein paar Fragen, iss lecker, komm zurück.« Seine Bassettwangen sackten wieder herunter.

»Und du hast keine Ahnung, worum es geht?«

Sein Chef schrieb etwas auf einen Zettel und hielt ihn ihm eingeklemmt zwischen zwei Fingern unter die Nase.

Ein einziges Wort. »Topeka«, las Grip.

»Doch«, sagte der Chef. »Die Amerikaner wollen wissen, was wir über Topeka wissen, einer Stadt mitten im Niemandsland. Vorschlag? Ich hab keinen.«

»Keine Instruktionen vom AA

»Nein, die wissen von nichts. ›Schick Grip dorthin‹, mehr haben sie nicht gesagt. Sie wollen das so schnell wie möglich vom Tisch haben.«

»Mit anderen Worten: Laufbursche des Auswärtigen Amtes.«

»Jemand, der weiß, dass man Notizen nur mit dem Bleistift macht, wenn überhaupt. Du sprichst hinterher mit niemandem außer mir darüber, kommst direkt hierher.« Der Silberrücken hatte nach wie vor das Sagen von seinem abgelegenen Hügel im Dschungel.

»Maximal eine Woche?«, versuchte Grip es.

»So lange wie es halt braucht.«

Grip wurde wach, weil sein Sitznachbar im Fußraum nach etwas suchte, das ihm runtergefallen war. Er entschuldigte sich, suchte weiter, und Grip konnte nicht mehr schlafen. Wieder in aufrechter Position, drückte der Nachbar Salbe aus einer Tube und schmierte sich die Nasenlöcher damit ein.

»Vaseline«, erklärte der Amerikaner. »Gegen die trockene Luft. Wollen Sie auch?« Grip schüttelte den Kopf, der Mann neben ihm redete weiter. Er hatte seine frisch verheiratete Tochter besucht, die auf einer Reise einen Schweden kennengelernt hatte und inzwischen in Sundbyberg lebte. Der Mann lachte, als er »Sundbyberg« sagte, und beschrieb detailliert den Park, an dem sie wohnten, als wäre es der exotischste Platz auf Erden. Er hielt sich lange bei dem Park auf, der ihm besonders gefiel, was wohl an den Birken lag, äußerte aber eine gewisse Besorgnis, in was für einer Welt seine Enkelkinder aufwachsen würden.

»Sie wissen schon«, sagte er, »unsere heutige Welt, wie sie sich entwickelt hat.« Er hatte in Arlanda eine Dose Rasierschaum und eine Nagelschere abgeben müssen. »Aber das muss man wohl akzeptieren, nicht wahr?«

Er lebte im südlichen Manhattan und hatte an jenem Vormittag auf seinem Balkon gestanden, als die Zwillingstürme eingestürzt waren. Hatte die Staubwolke und all die Menschen mit den hohläugigen Gesichtern herumlaufen sehen.

»Und dann das hier«, sagte er und schlug mit dem Handrücken auf die Titelseite der New York Times, wo irgendwas über den Irak stand. Unter dem Foto eines ausgebrannten Fahrzeugs und herumlaufender Menschen. »Das ist furchtbar.« Er sah Grip unsicher von der Seite an, bewegte sich auf dem dünnen Eis, auf das alle Amerikaner gezwungen wurden, wenn sie ins Ausland kamen. »So viele Tote. Ich weiß nicht. Das ist kompliziert.«

»Haben Sie Bush gewählt?«, fragte Grip.

»Ich?« Leichtes Kopfschütteln. »Kein zweites Mal.«

Die Flugbegleiterin kam mit einem Katalog in der Hand und einem monotonen »Taxfree … taxfree …« auf den Lippen vorbei.

»Ein Nachbar hat sein Enkelkind verloren«, redete der Mann weiter, als sie weitergegangen war. »Im Irak. Ein ganz einfacher Fahrer beim Militär. Furchtbar.«

Grip sagte nichts.

»Ja, jeder trägt seinen Teil dazu bei«, fuhr der Mann fort. »Mein alter Herr hat in den Ardennen gegen die Deutschen gekämpft. ›Verflucht kalt‹ war sein einziger Kommentar zum gesamten Krieg. ›Verflucht kalt.‹« Der Mann schaute nach vorn und lachte auf die gleiche, nichtssagende Weise wie bei »Sundbyberg«.

Er verstummte. Vielleicht verging eine Minute.

»Aber das war eine andere Art von Krieg«, sagte er dann.

»Sind Sie amerikanischer Staatsangehöriger?«, fragte die Flugbegleiterin.

Grip schüttelte den Kopf. Wenig später hatte er seine Passnummer in so viele Zeilen des Formulars eingetragen, dass er sie auswendig konnte. Er hatte bei allen Fragen Nein angekreuzt und versichert, dass er nicht in die USA einreiste, um Prostitution zu betreiben oder sich terroristisch zu betätigen und auch im Zweiten Weltkrieg keine Juden ausgerottet hatte. Das letzte Kreuz setzte er bei »Tourist« und gab ein Hotel Hilton, Nähe Central Park, in der Zeile für Aufenthaltsort und Adresse an. Das Hotel hatte er willkürlich gewählt, er hatte keine Ahnung, wo er untergebracht sein würde.

»Topeka«, sagte er zu seinem Sitznachbarn. »In welchem Teilstaat liegt das?«

»Kansas«, antwortete der Mann. »Wollen Sie dorthin?«

»Nein.«

»Und wohin sonst?«

»New York, nur ein paar Tage.«

»Das erste Mal?«

Grip zuckte die Achseln.

»Sie werden es lieben.«

Ernst Grip wartete das Gedränge im Gang ab, schob dann die ungelesene Expressen in die Schultertasche und verließ das Flugzeug. Der nächste Stau erwartete ihn in dem Schlangenlabyrinth vor der Passkontrolle. Die Passagiere der Langstreckenflüge warteten rotäugig mit halb schlafenden, auf dem Handgepäck oder direkt auf dem Boden hockenden Kindern. Unterdessen lief eine Handvoll Frauen an der Endlosschlange vorbei, die die Wartenden dazu anhielt, ihre Formulare griffbereit zu haben. Die Frauen trugen einfache Uniformen, die meisten waren fett, viele farbig. Lange, lackierte Fingernägel, ein dicker Schlüsselbund in der einen, ein klobiges Funkgerät in der anderen Hand. Watschelnder Gang, kompromissloses Auftreten.

Grip hatte viele von ihnen über die Jahre erlebt. Dieser Job, der zu Zeiten, als die Zwillingstürme noch durch die Fenster der Ankunftshalle zu sehen waren, wenig über dem...