In letzter Minute - Thriller. King & Maxwell 6

von: David Baldacci

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732514885 , 606 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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In letzter Minute - Thriller. King & Maxwell 6


 

1


Viertausendachthundert Pfund.

Ungefähr so viel wog die Ladung in der Kiste. Ein Gabelstapler hob sie aus dem Sattelschlepper heraus und stellte sie in den Laderaum des kleineren Lastkraftwagens. Die Hecktür wurde zugeklappt und mit zwei unterschiedlichen Schlössern gesichert – das eine ließ sich mit einem Schlüssel öffnen, das andere mit der richtigen Zahlenkombination. Beide Schlösser galten als manipulationssicher. Doch in Wirklichkeit konnte jedes Schloss geknackt und jede Tür aufgebrochen werden, wenn genügend Zeit vorhanden war.

Der Mann stieg ins Führerhaus des LKW und setzte sich auf den Fahrersitz. Anschließend zog er die Tür zu und verriegelte sie. Nachdem er den Motor gestartet hatte, ließ er ihn mehrmals aufheulen, drehte dann die Klimaanlage bis zum Anschlag auf und stellte den Sitz richtig ein. Er hatte eine weite Strecke vor sich und nicht viel Zeit, um ans Ziel zu gelangen. Und es war so heiß wie in der Hölle. Vielleicht sogar noch heißer. Die Hitze flimmerte in sichtbaren Wellen und verzerrte den Anblick der Landschaft. Er konzentrierte sich nicht darauf, weil er sich ansonsten möglicherweise hätte übergeben müssen.

Eine bewaffnete Eskorte wäre ihm lieber gewesen. Sicherheitshalber vielleicht auch noch ein Abrams-Kampfpanzer, aber der war weder im Budget noch im Plan für diese Mission vorgesehen. Das Terrain war steinig und wurde in der Ferne gebirgig. Und die Straßen wiesen mehr Schlaglöcher als Asphalt auf. Er führte Schusswaffen und jede Menge Munition mit sich. Aber er war nur ein Mann und hatte nur einen Abzugsfinger.

Er trug keine Uniform mehr. Vor etwa einer Stunde hatte er sie zum letzten Mal ausgezogen. Er strich mit den Fingern über seine »neuen« Klamotten. Sie waren verschlissen und nicht übermäßig sauber. Als der Gabelstapler wegfuhr, holte er seine Landkarte hervor und breitete sie auf dem Beifahrersitz aus.

Jetzt war er allein, mitten im Nirgendwo – in einem Land, in dem es weitgehend immer noch zuging wie im neunten Jahrhundert.

Als er durch die Windschutzscheibe auf die beeindruckende Landschaft schaute, ging ihm kurz durch den Kopf, wie es ihn hierher verschlagen hatte. Damals war ihm das, was er vorhatte, tapfer erschienen, ja sogar heroisch. Jetzt kam er sich vor wie der größte Idiot auf Erden, weil er sich auf eine Mission hatte schicken lassen, bei der es eine derart geringe Überlebenschance gab.

Doch es blieb die Tatsache, dass er jetzt hier war. Und er war allein. Er hatte einen Job zu erledigen und machte sich jetzt besser an die Arbeit. Wenn er starb … Nun ja, dann war immerhin seine Angst vor dem Tod vorüber, und er hatte zumindest einen Menschen, der um ihn trauern würde.

Er besaß nicht nur die Landkarte, sondern auch ein GPS-Navigationssystem. Hier draußen allerdings funktionierte das an vielen Stellen nicht – ganz so, als wüssten die Satelliten da oben gar nicht, dass hier unten ebenfalls ein Land war, in dem die Leute von Punkt A zu Punkt B gelangen mussten. Deshalb die altmodische Papierversion auf dem Beifahrersitz.

Er legte den ersten Gang ein und dachte an das, was in der Kiste war. Es handelte sich dabei um über zwei Tonnen einer sehr speziellen Ladung. Ohne sie war er mit Sicherheit ein toter Mann. Selbst mit ihr würde er möglicherweise ein toter Mann sein, aber seine Überlebenschancen waren mit ihr erheblich größer.

Während er über die rumpelige Straße fuhr, rechnete er aus, wie lange er nun unterwegs sein würde: voraussichtlich zwanzig Stunden. Und es war eine schwierige Fahrt, die vor ihm lag. Autobahnen gab es hier nicht. Er würde nur mühsam und holpernd vorankommen. Und vielleicht würden sogar Leute auf ihn schießen.

Doch es gab auch Leute, die ihn am Ende der Fahrt erwarteten. Man würde die Kiste umladen und ihn gleich mit. Man hatte Mitteilungen ausgetauscht. Versprechungen gegeben. Allianzen gebildet. Jetzt kam es nur noch darauf an, dass er im richtigen Moment das Richtige sagte und die anderen ihr Wort hielten.

Während der endlosen Besprechungen mit Männern in Hemd und Krawatte, deren Smartphones unablässig Töne von sich gaben, hatte sich das alles gut angehört. Hier draußen, wo er ganz allein war und es um ihn herum nichts als eine absolut trostlose Landschaft gab, hörte es sich verständlicherweise wahnwitzig an.

Aber er war immer noch Soldat; und so machte er wie ein Soldat unermüdlich weiter.

Er mühte sich auf die Berge in der Ferne zu. Er trug nichts bei sich, was Angaben zu seiner Person enthielt. Trotzdem hatte er Papiere, die ihm eine sichere Fahrt durch die Region ermöglichen sollten.

Sollten, nicht würden.

Falls Leute ihn anhielten und die Dokumente als unzureichend erachteten, würde er sich mit irgendwelchen Ausflüchten aus der Situation herausreden müssen. Wenn sie wollten, dass er ihnen zeigte, was in dem LKW war, musste er es ihnen verweigern. Für den Fall, dass sie nicht lockerließen, hatte er ein Kästchen aus matt lackiertem schwarzem Metall. Es hatte an der Seite einen Schalter, und obendrauf war ein roter Knopf. Wenn er den Schalter umlegte und den Knopf drückte, war alles noch okay. Wenn er seinen Finger von dem Knopf herunternahm, während der Schalter immer noch umgelegt war, verschwanden er und alles im Umkreis von zwanzig Metern.

Ohne Unterbrechung fuhr er zwölf Stunden und sah dabei keinen einzigen lebenden Menschen. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein Kamel und auf ein Maultier, die umherirrten. Irgendwann fiel ihm eine tote Schlange auf. Und dann erblickte er ein menschliches Skelett – eine Leiche, die offenbar als Futter für die Aasgeier gedient hatte und von der bloß noch Knochen übrig geblieben waren. Es erstaunte ihn, dass er nur auf die Überreste eines toten Menschen stieß. Normalerweise müsste es sehr viel mehr Leichen geben. Dieses Land hatte eine ganze Reihe von Massakern erlebt. Von Zeit zu Zeit versuchte irgendein anderes Land, hier einzumarschieren. Die Invasoren gewannen immer schnell den Krieg, verloren dann aber all die kleinen Scharmützel und fuhren schließlich wieder nach Hause, die Panzer quasi zwischen die Beine geklemmt.

Während der zwölfstündigen Fahrt sah er die Sonne unter- und wieder aufgehen. Da er in östlicher Richtung unterwegs war, fuhr er direkt auf sie zu. Als sie grell in seine Augen schien, klappte er die Sonnenblende nach unten und hielt weiterhin Kurs. Er spielte eine CD nach der anderen und hatte die Lautsprecher aufgedreht, sodass die Rockmusik durch das Führerhaus dröhnte. Zwanzigmal in Folge hörte er sich Meat Loafs Paradise by the Dashboard Light an, so laut, wie seine Ohren es aushielten. Jedes Mal, wenn die Stimme des Baseball-Ansagers ertönte, lächelte er. Das fühlte sich hier draußen wie ein Stück Zuhause an.

Obwohl Meat Loaf ihn anbrüllte, wurden seine Augenlider immer schwerer, und er nickte immer häufiger ein. Doch jedes Mal, wenn sein LKW von der Straße abkam, wachte er ruckartig auf. Zum Glück war hier kein weiterer Verkehr. Es gab nicht viele, die in dieser Gegend leben wollten. Sie wirkte »Unheil verkündend« – das war eine Möglichkeit, sie zu beschreiben. Man konnte sie aber auch als »wahnsinnig gefährlich« bezeichnen, was zutreffender war.

Nach dreizehn Stunden Fahrt wurde er so müde, dass er beschloss, an den Straßenrand zu fahren und ein kurzes Nickerchen zu machen. Er war bisher gut vorangekommen und konnte deshalb ein wenig Zeit erübrigen, um sich auszuruhen. Aber genau in dem Moment, als er anhalten wollte, glitt sein Blick die Straße entlang, und er sah, was da kam. Seine Müdigkeit verflog sofort. Sein Nickerchen würde warten müssen.

Ein offener Lastwagen steuerte geradewegs auf ihn zu. Der Wagen fuhr mitten auf der Straße, sodass er die Fahrspur in beiden Richtungen blockierte.

Zwei Männer saßen vorn, drei standen hinten auf der Ladefläche, und alle hielten sie Maschinenpistolen in ihren Händen. Offenbar ein Begrüßungskomitee, wie es in Afghanistan üblich war.

Er fuhr halb von der Straße, ließ das Fenster herunter und die wogende Hitze herein. Dann wartete er. Er schaltete den CD-Player aus, und Meat Loafs Bariton verstummte. Diesen Männern würden die gewaltigen Stimmbänder und lüsternen Songtexte des Rockers sicherlich nicht gefallen.

Der kleine Lastwagen kam neben seinem Fahrzeug zum Stehen. Während zwei der Männer mit Turbanen mit ihren Maschinenpistolen auf ihn zielten, stieg der Mann auf dem Beifahrersitz aus und ging auf die Fahrertür des anderen LKWs zu. Er trug ebenfalls einen Turban. Die Schweißstreifen, von denen der Stoff durchtränkt war, zeugten davon, dass ihr Besitzer sich lange Zeit in großer Hitze aufgehalten hatte.

Der Fahrer schaute dem Mann ins Gesicht, als der sich näherte.

Er griff nach dem Bündel Papiere auf dem Beifahrersitz. Sie lagen gleich neben seiner geladenen Glock, in deren Kammer bereits eine Kugel war. Er hoffte, dass er sie nicht würde benutzen müssen, denn ein Kampf »Pistole gegen Maschinenpistole« konnte nur eines zur Folge haben – seinen Tod.

»Papiere?«, sagte der Mann in Paschtu.

Der Fahrer reichte sie ihm durch das geöffnete Fenster. Sie waren ordnungsgemäß unterschrieben worden und trugen die unverwechselbaren Siegel von jedem der Stammesfürsten, die in dieser Region herrschten. Er verließ sich darauf, dass man sie anerkennen würde. Dabei ermutigte ihn die Tatsache, dass es in diesem Teil der Welt oftmals den Tod nach sich zog, wenn man den Befehlen eines Stammesfürsten nicht Folge leistete. Und der Tod war hier fast immer brutal und kam fast nie rasch. Sie hatten es gern, wenn jemand spürte, wie er starb, wie es hierzulande hieß.

Der Mann mit dem Turban war schweißgebadet....