Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969

von: Frank Witzel

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2015

ISBN: 9783957571212 , 817 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 16,99 EUR

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Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969


 

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Es ist ein verschneiter Tag im Januar. Ich stehe auf einem schmalen und verschneiten Hügel, schaue in ein verschlafenes und ebenfalls verschneites Dorf, das unterhalb des Hügels liegt, und versuche mich zu erinnern, wie es war, dort unten in einer kaum möblierten und ungeheizten Wohnung zweieinhalb Monate zuzubringen, in einem Haus, das eher einem Schuppen ähnelte, dicht neben einem Bach, der halb zufror in diesem Winter vor so vielen Jahren. Ich stehe auf dem Hügel und schaue meinem gefrorenen Atem hinterher und dem Eichelhäher, der kurz auf einem der verschneiten Äste aufsetzt und dann in den grauen Himmel fliegt und hinter der nächsten Kuppe verschwindet.

Die Landstraße schlängelt sich wie auf einer Kinderzeichnung vom grauweißen Horizont zu dem Feld vor meinen Füßen. Und da kommt auch schon ein Auto angefahren. Es ist kein Ferrari 250 GT, 12 Zylinder 4-Takt, Hubraum 2953 cm3 mit 240 PS und 230 Stundenkilometern, noch nicht mal ein Porsche 501, 6 Zylinder 4-Takt, Hubraum 1995 cm3 mit 120 PS und 200 Kilometern, sondern nur ein NSU Prinz, 2 Zylinder 4-Takt, 578 cm3 mit 30 PS, der gerade mal 120 macht, mit Rückenwind, und hier geht es bergauf, raus aus dem verschneiten Dorf, und ich habe noch nicht mal den Mopedführerschein, und Claudia brüllt und Bernd schreit, ich soll mich weiter rechts halten, damit uns die Bullen in den Kurven aus den Augen verlieren, aber das ist gar nicht so leicht, denn unser NSU Prinz hat hinten fast platte Reifen, weshalb ich kaum die Balance halten kann. Trotzdem liegen wir ein ganzes Stück vorn. Hinter uns die Bullen mit ihrem vollbesetzten Mannschaftswagen VW T2 fangen an zu ballern. Die Kugeln schlagen in die Schneewehen und springen vom Straßenasphalt gegen den zitronengelben Lack der Kotflügel. Claudia kramt im Handschuhfach nach einer Waffe. Die ist nicht geladen, sage ich. Wie, nicht geladen? Kein Wasser drin. Wasser? Das ist meine Wasserpistole. Sag mal, spinnst du?, schreit Bernd. Wo ist denn die Erbsenpistole? Vergessen, aber die Wasserpistole ist echt gut, die hat vorne ’nen Ring, da kannst du um die Ecke schießen. Ihr seid Spinner, totale Spinner, ich denk, ihr habt euch das Luftgewehr von Achim geliehen.

Der war nicht da, nur seine Oma, und die wollte es nicht rausrücken. Pass auf! Ich schlingere nach links, und fast wären wir umgekippt, aber Claudia und Bernd werfen sich geistesgegenwärtig auf die andere Seite, und ich komme nur für einen Moment von der Fahrbahn ab. Der Schnee spritzt an den Scheiben hoch. Die Scheibenwischer arbeiten wie wild. Vielleicht sollten wir einfach drehen, ruft Claudia, damit rechnen die nie im Leben. Ja, schreit Bernd, dann rasen wir an denen vorbei, und bevor sie was merken, sind wir weg. Nein, Unsinn, das ist Quatsch, wir müssen bis zum nächsten Ort, das ist nicht mehr weit, außerdem geht’s da vorn schon bergab. Ja, stimmt, ich seh schon die ersten Häuser. Wir müssen sie abhängen. Ich rase ohne zu bremsen in den Ort, die Bleichwiesenstraße runter, dann rechts in die Weihergasse, am Bäcker Fuhr vorbei, wo es die Bananenschnitten mit Schokoguss gibt, vorbei an der Drogerie Spalding, am Lebensmittel Breidenbach, Zeitschriften und Tabakwaren Maurer, Lebensmittel Lehr, Sängerheim, kurz vorm Bäcker Daum halte ich an. Schnell, schreie ich, die Bullen sind noch nicht da. Wir steigen aus und rennen gegenüber in den Hofeingang und durch nach hinten. Wir müssen über die Mauer, da ist der Schulhof, von dort können wir weiter zur Kerbewiese. Wir springen auf die Mülltonnen. Was macht ihr da?, ruft eine Stimme aus einem Fenster im Hinterhaus. Bleibt sofort stehen! Ich kenn euch! Sofort stehen bleiben! Sonst gehe ich zu euren Eltern! Ich drehe mich kurz um. Eine Frau in Kittelschürze lehnt aus dem Flurfenster im zweiten Stock und droht mit einem Staubwedel. Gerade rasen die Bullen an der offenen Hoftür vorbei. Die haben uns nicht gesehen, sage ich, die fahren bestimmt hoch zum Gräselberg. Dann hauen wir aber besser in die andere Richtung ab, sagt Bernd. Stimmt. Los. Wir springen wieder von den Mülltonnen und rennen durch den Hauseingang. Stehen bleiben!, brüllt die Frau wieder. Vorsichtig spähen wir auf die Straße. Die Bullen sind nirgendwo zu sehen. Los, schnell! Wir laufen die Weihergasse nach links runter und biegen rechts in die Feldstraße ein, dann zum Bahndamm und wieder rechts, Richtung Schrott Wiedemann. Wir müssen uns trennen, sagt Claudia. Ja, sage ich, wenn ich um sieben nicht daheim bin, krieg ich sowieso Ärger. Ich muss erst um acht da sein, sagt Bernd. Am besten, wir sehen uns ein paar Tage nicht. Wir nicken. Und wenn die Bullen bei einem vorbeikommen, dann sofort die anderen anrufen. Aber was sollen wir sagen? Einfach sagen, es geht um die Mathe-Hausaufgabe vom Montag. Mathe-Hausaufgabe Montag, okay. Dann weiß jeder Bescheid. Ansonsten Samstag um vier an der Lohmühle. Ich muss Samstag zur Beichte, kommt nicht außerdem Beat-Club? Dann um halb sechs, okay?

Am Abend um zwanzig nach acht im Schlafanzug in der Tür zum Fernsehzimmer beim Gute-Nacht-Sagen versuche ich, einen kurzen Blick auf den Fernseher zu erwischen, sehe verwackelte Aufnahmen von rennenden Männern auf nassen Straßen und bekomme wieder Angst. Nein, das waren nicht wir. Aber sie scheinen die Suche noch nicht aufgegeben zu haben. Ein Phantombild wird gezeigt, mit Bleistift gezeichnet, aber zum Glück sind die Haare bei dem viel länger, weil ich erst letzte Woche wieder zum Frisör musste und sie mir zur Zeit nicht mal mehr über die Ohren gehen. Aber der vorgeschobene Unterkiefer, das könnte schon ich sein. Und dann das nächste Bild. Eine Frau diesmal. Nein, auch nicht Claudia. Claudia sieht ganz anders aus, da stimmt aber auch gar nichts, sie hat ganz andere Augen, und die Lippen sind auch nicht so schmal.

Dann wird etwas von einem Bekennerbrief erzählt, aber wir haben uns zu nichts bekannt. Noch nie, also, auch vorher nicht. Einmal haben wir was zusammen geschrieben, aber nicht abgeschickt und außerdem gleich verbrannt, also, ich hab’s mitgenommen und auf dem Heimweg durch den Henkellpark, als gerade niemand kam, angezündet und auf den Kiesweg geworfen und dann noch, als es ganz verbrannt war, die Aschereste auseinandergetreten. Aber was komisch ist, dass die unseren Namen sagen, also den Namen für unsere Gruppe, Rote Armee Fraktion, obwohl der noch gar nicht richtig feststeht, weil wir eigentlich noch mal abstimmen wollen, weil Claudia den nicht so gut findet, ihr allerdings auch nichts anderes eingefallen ist, weshalb sie gesagt hat, dass wir vielleicht gar keinen Namen bräuchten, weil wir schließlich keine Kinder sind, die einen Club gründen, was auch stimmt, obwohl es schon besser ist, einen Namen zu haben, besonders wenn noch andere dazukommen. Trotzdem frage ich mich, woher die das in den Nachrichten wissen, weil wir niemandem was gesagt haben, also, ich auch nicht, nicht mal Achim.

Und Claudia würde garantiert nichts sagen, weil sie auch in der Basisgruppe ist, und da dürfen sie wirklich nie verraten, was sie da besprechen, und bei Bernd ist es ohnehin klar, weil der manchmal schon nervt mit seiner Geheimniskrämerei. Aber der Michael Reese, der hält sich immer verdächtig nah bei uns auf, weil er aufschnappen will, über was wir reden und was wir gut finden, damit er das nachmachen kann. Aber gerade weil wir das wissen, weil das außerdem nervt, diese Nachmacherei, passen wir bei ihm besonders auf, und in der Schule reden wir über so Sachen sowieso nicht, das haben wir vorher ausgemacht, auch nicht in der Pause. Wenn was ist, dann sagen wir einfach, heute Mittag an der Lohmühle oder irgendwo anders, oder wenn’s ganz dringend ist, dann auf dem Nachhauseweg am Sportplatz, aber auch da passen wir immer höllisch auf, weil da manchmal auch Lehrer sind. Aber beim Reese weiß man nie, und Bernd meint auch, dass der uns vielleicht richtig hinterherspioniert und in der kleinen Pause, wenn wir im Fahrradkeller kurz eine rauchen, zurück in den Klassenraum geht und unsere Ranzen durchwühlt, weshalb wir nie was Verdächtiges in der Klasse lassen, sondern alles immer im Parka haben. Reese liest auch Landserheftchen und hat als Einziger eine Frisur, wo die Haare mit Pomade nach hinten gekämmt werden. Damit sieht er richtig spießig aus, aber beim Sport, wenn er durchgeschwitzt ist und die Haare nach vorn fallen, gehen sie über sein ganzes Gesicht, so lang sind die. Und dann in der einen großen Pause, als wir Boxschläge immer nur markiert und knapp vorm Gesicht abgebremst haben, hat er Bernd direkt auf die Nase gedroschen und behauptet, er hätte sich verschätzt, aber vielleicht war das damals schon Absicht, vielleicht ist er wirklich hinter uns her und will sich rächen, weil wir uns immer über ihn lustig machen, denn er wird immer so schnell rot und lässt dann jedes Mal einen Stift auf den Boden fallen und bückt sich und hebt ihn auf, damit es so aussieht, als wäre ihm bloß vom Bücken das Blut in den Kopf gestiegen. Und natürlich ist das fies, weshalb mir der Reese auch manchmal leidtut und ich mich sogar mal mittags mit ihm verabredet habe, obwohl Bernd meint, dass einem der Reese nicht leidtun muss, weshalb ich Bernd auch nichts...