Mainfall - Kriminalroman

von: Dieter Wölm

Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN: 9783839236185 , 384 Seiten

6. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Mainfall - Kriminalroman


 

1


Niemals werde ich dieses große, rundliche Gesicht des Feuerwehrmannes vergessen, das unter einem dunkelgrauen Helm hervorsah und sich dicht über mich beugte. Seine blauen Augen blickten ernsthaft und entschlossen, die schmalen Lippen waren zusammengepresst, als ob die Entscheidung über Leben oder Tod kurz bevorstand.

»Gott sei Dank! Er hat das Wasser ausgekotzt«, hörte ich ihn wie aus weiter Ferne zu einem seiner Kameraden sagen. Mir war kalt, eiskalt. Ich zitterte am ganzen Körper, obwohl sie eine Decke über mich gelegt hatten. Ich wusste nicht, wo ich war, wusste überhaupt nichts, glaubte auf einer Wiese zu liegen, in der Nähe einer Brücke. Menschen standen im Kreis um mich herum und starrten mich an. Dann drückte mir der Feuerwehrmann ein Beatmungsgerät auf den Mund und Sterne begannen vor meinen Augen zu tanzen.

»Wir bringen ihn sofort ins Klinikum«, vernahm ich den Feuerwehrmann, fühlte, dass man mich auf eine Trage legte, die Menge machte eine Gasse frei, man trug mich zwischen den Menschen hindurch, schob mich in einen Rettungswagen, ich hörte die Sirene, sah den Notarzt, spürte den Stich einer Spritze im Arm, dann nichts, Ruhe, weiße Gänge, hastende Schwestern, Ärzte, noch eine Spritze und völlige Leere, bis ich in einem Zimmer wieder zu mir kam, das ich noch nie gesehen hatte, ebenfalls weiß getüncht, mit einem Bettnachbarn, der mich erstaunt ansah.

»Na, wieder munter?«, fragte er freundlich.

»Wo bin ich?«, stammelte ich unsicher.

»Im Krankenhaus, auf der Intensivstation«, antwortete er. »Sie können sich wohl an nichts mehr erinnern …«

»Nein, an nichts!«

»Man hat Sie aus dem Main gezogen, Sie wären fast ertrunken. Haben großes Glück gehabt!«

Gedanken rasten durch meinen Kopf. War ich jemals am Main gewesen? Hatte mich jemand in den Fluss gestoßen? War ich hineingefallen? Wie konnte das passieren?

»Was ist das für ein Krankenhaus?«

»Das Klinikum«, antwortete mein Nachbar.

»Ich meine, wo sind wir?«

»Auf der Intensivstation. Zur Beobachtung.«

Mein Bettnachbar schien nicht zu verstehen. Für ihn war alles klar, aber ich wusste absolut nichts.

»In welcher Stadt?«, wollte ich genauer wissen.

»In welcher Stadt?«, wiederholte der Mann verwundert. »Wissen Sie denn nicht, wo Sie sind …?« Es war für ihn wohl unglaublich, dass ich keine Ahnung hatte, was passiert war. Fassungslos starrte er mich an.

»Nein, keine Ahnung! Ich weiß nichts«, antwortete ich, nach wie vor überrascht.

Es war mir unangenehm, so völlig ahnungslos zu sein. Ich kam mir verdammt dumm und klein vor in diesem weiß getünchten Zimmer, das vollgestopft war mit Apparaten. Mein Blick ging zu meinem Nachbarn, der jetzt nicht mehr lächelte, sondern mich besorgt ansah. Schräg hinter seinem Bett stand ein fahrbarer Wagen mit verschiedenen Geräten. Giftgrüne Kurven flimmerten über einen Monitor. Über seinem Bett hing silbern glänzend eine Flasche, aus der Tropfen für Tropfen eine Flüssigkeit durch eine Plastikkanüle in seinen Arm floss.

»Wir sind in Aschaffenburg, in Aschaffenburg am Main«, erklärte er. »Bayern, Deutschland«, fügte er hinzu, so als ob er sichergehen wollte, dass ich wirklich verstand. »Ich bin übrigens Max, Max Obermayer«, stellte er sich vor.

»Freut mich, angenehm«, sagte ich, so wie ich das gewohnt war. »Ich bin …« Auf einmal stockte ich. »Ich bin …«, setzte ich nochmals an, aber ich konnte nicht weitersprechen. Mein Name kam mir nicht über die Lippen, ich suchte im hintersten Winkel meines Gehirns nach ihm, ich wusste, dass er da sein musste, aber ich konnte ihn nicht finden.

»Schon gut, schon gut«, tröstete mich Max, der offensichtlich meine Verzweiflung bemerkte. »Es wird Ihnen bestimmt wieder einfallen.«

»Tut mir leid«, stammelte ich ratlos. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern.«

Ich wusste meinen Namen nicht mehr. Konnte mich anstrengen, wie ich wollte, doch er fiel mir einfach nicht ein. Dabei lag mir der Name auf der Zunge. Ich hatte das Gefühl, dass meine Stimmbänder schon zu schwingen begannen, ihn aussprechen wollten, aber sie brachten es nicht fertig, blieben stumm wie die Fische, während ich verzweifelt nachdachte.

Wie hieß ich?

Wo kam ich her?

Wer war ich?

Nichts! Keine Antwort! Alles wie weggeblasen. Keine Erinnerung. An nichts und niemanden.

Ratlos lag ich im Bett, beobachtete jetzt die giftgrünen Kurven auf meinem eigenen Monitor und starrte anschließend ratlos gegen die Zimmerdecke. Was war nur geschehen? Warum diese gähnende Leere in meinem Kopf? Ich kannte Aschaffenburg bestimmt nicht, wusste nicht, wie ich hierher gekommen war, konnte mir das alles nicht erklären und schlief erschöpft wieder ein.

»In seinem Anzug war absolut nichts«, hörte ich irgendwann eine Stimme. Ärzte und Schwestern standen an meinem Bett. Ich sah sie zunächst wie durch eine Nebelwand, so als ob sie mich von einem anderen Stern besuchten.

»Wirklich nicht?«, fragte erstaunt ein großer, hagerer Mann mit Nickelbrille, welcher der Chefarzt zu sein schien. Er blätterte in meiner Krankenakte und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Nein, nichts. Kein Geldbeutel, keine Papiere «, antwortete eine kräftige ältere Krankenschwester mit glatten weißen Haaren.

»Seltsam«, wunderte sich der Chefarzt. »War die Kripo schon da?«

»Nein. Kommissar Rotfux hat bereits nachgefragt, aber ich sagte ihm, das sei für den Fremden noch zu viel«, antwortete die Schwester.

»Gut so«, nickte der Chef zufrieden. »Soll sich erst mal erholen. Hallo! Hören Sie mich?«, sagte er zu mir und fühlte meinen Puls.

»Ja, ich höre Sie«, antwortete ich leise und versuchte krampfhaft, die Augen offen zu halten.

»Na prima«, freute er sich. »Wie heißen Sie denn eigentlich?«

»Ich …, ich …«, stammelte ich verlegen, »ich kann mich leider nicht erinnern.«

Jetzt war es heraus! Ich wusste nicht, wie ich hieß, versank vor Scham in meinen Kissen, so entsetzlich jämmerlich fühlte ich mich.

»Das wird schon wieder«, tröstete mich der Chefarzt. »Man hat Sie aus dem Main gezogen. Sie können froh sein, dass Sie überhaupt noch leben!«

Aber sein Trost half mir wenig.

Ich weiß nicht, ob sich irgendjemand auf der Welt vorstellen kann, wie es ist, wenn man seinen eigenen Namen vergisst. Ich hätte es mir auch nie vorstellen können. Doch genau das war passiert und ich musste damit fertig werden.

»Nun schlafen Sie sich erst mal aus«, verabschiedete sich der Chefarzt. »Wenn alles klargeht, können Sie morgen die Intensivstation verlassen und wir verlegen Sie in die Neurologie. Dort werden wir Ihre Vergesslichkeit näher untersuchen.«

Von Vergesslichkeit hatte er gesprochen. Aber war das wirklich nur Vergesslichkeit? Ich wusste doch absolut nichts mehr! Ich lag im Bett und versuchte krampfhaft, mich zu erinnern. Ich fragte mich, wer meine Eltern waren, ohne Erfolg. Wie ausradiert schien alles in meinem Hirn zu sein.

Hatte ich Geschwister?

Wann war mein Geburtstag?

War ich verheiratet oder sogar Vater?

Fragen über Fragen, nur keine Antworten. Je mehr ich nachdachte, umso verzweifelter wurde ich. Ich war geistig tot, ausgelöscht, erledigt, ein namenloses Nichts, das sich schämte, in diesem Krankenhaus zu liegen.

Die Taschen meines Anzuges waren leer, jedenfalls hatte das die Schwester gesagt. Ich besaß also kein Geld, keinen Ausweis, keinen Namen, nichts. Einen Moment lang wünschte ich mir, dass die scharfzackigen, giftgrünen Kurven auf meinem Monitor flacher würden, dass sie in einer ruhigen geraden Linie auslaufen würden, ganz sanft, so wie ein Leben erlischt, das keinen Sinn mehr hat, so wie mein Leben, das mir ohne Vergangenheit so sinnlos vorkam.

Wozu war ich noch gut?

Was konnte ich?

Welchen Beruf hatte ich erlernt?

Verzweifelt versuchte ich, Antworten zu finden, aber jede neue Frage machte alles nur schlimmer.

Am Nachmittag bekam Max Besuch. Eine nette Frau in einem hellblauen Kittel betrat unser Zimmer.

»Besucher müssen auf der Intensivstation diese Umhänge überziehen und sich mit Desinfektionslotion die Hände waschen«, erklärte sie lächelnd, als sie meinen verwunderten Blick bemerkte.

»Mein neuer Bettnachbar wäre um ein Haar im Main ertrunken«, stellte mich Max seiner Frau vor.

»Ach was, Sie sind das?«, sagte sie. »Ich habe schon in der Zeitung davon gelesen. Hier – sehen Sie mal!«

Sie hielt mir das Main Echo, die örtliche Tageszeitung, unter die Nase und deutete auf die Titelseite. ›Unbekannter fast im Main ertrunken‹, war dort zu lesen. Dazu ein Bild vom Ufer des Mains mit mehreren Feuerwehrautos, einem Krankenwagen und einem Polizeiauto.

»Im Innenteil bringen sie einen längeren Bericht. Sie können ihn gern lesen«, sagte Max’ Frau und ihre Augen leuchteten. Es schien so, als ob sie sehr stolz darauf war, dass ausgerechnet sie mich hier im Krankenhaus angetroffen hatte. »Lesen Sie ruhig«, wiederholte sie lächelnd und reichte mir die Zeitung.

Dem Bericht zufolge hatten mich tags zuvor um 16 Uhr am Nachmittag zwei Jungen unterhalb der Willigisbrücke im Main treiben sehen. Ein Spaziergänger rief per Handy sofort die Feuerwehr und stürzte sich in die Fluten. Nachdem er mich ans Ufer geschleppt hatte, trafen die Rettungskräfte ein und begannen mit der Wiederbelebung. Wasser aus mir herauspressen, Herzmassage, Beatmung – die ganze...