Eidernebel - Der vierte Fall für Jan Swensen

von: Wimmer Wilkenloh

Gmeiner-Verlag, 2011

ISBN: 9783839235980 , 448 Seiten

8. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Eidernebel - Der vierte Fall für Jan Swensen


 

Juni 1998


Vor ihm gibt es nichts zu sehen, nur die Leuchtziffern seiner Digitaluhr schweben direkt vor seinen Augen durch den freien Raum. Es ist kurz nach 4 Uhr. Der Mann erhebt sich von der Holzkiste und streckt sich stumm. Seit einigen Stunden ist es stockfinster um ihn herum, selbst durch das kleine vergitterte Fenster zur Straße fällt kein noch so schwaches Licht in den Heizungskeller. Er setzt seine Infrarotbrille auf und ist nicht mehr blind. So erreicht er mit wenigen Schritten problemlos die Eisentür, die ins Treppenhaus führt, öffnet sie mit dem angefertigten Nachschlüssel, drückt sie einen Spalt auf und lauscht hinauf.

Vor einer Stunde hatte er das Gleiche schon einmal gemacht. Aber, obwohl er keinen Laut vernommen hatte, war er sicherheitshalber weiterhin an seinem Platz geblieben. Gegen zwei waren die letzten Schritte und Stimmen im Treppenhaus zu hören gewesen, seitdem ist es still geblieben.

Neben der Tür steht seine Tasche mit dem Spezialequipment. Er hängt sie um und schließt die Tür hinter sich wieder ab. Das Schloss hatte er beim Kommen routinemäßig geölt, jetzt dreht es sich butterweich. Als er die Kellertreppe nach oben steigt, beginnt er leise vor sich hin zu summen: Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da. Das Lied stammt aus dem uralten Ufa-Film Tanz auf dem Vulkan. Es wird von dem berühmten Gustaf Gründgens gesungen, der den rebellischen Schauspieler Debureau darstellt und zur Nazizeit damit sogar den Zorn von Goebbels auf sich gezogen hatte.

Seit er hier im Westen seine Brötchen verdient, hat er ein Faible für alte Schwarz-Weiß-Filme entwickelt. Tanz auf dem Vulkan lief gestern Vormittag im Fernsehen und seitdem spukt der Ohrwurm unentwegt in seinem Kopf herum:

Wenn die Bürger schlafen geh’n

in der Zipfelmütze

und zu ihrem König fleh’n,

dass er sie beschütze,

zieh’n wir festlich angetan

hin zu den Tavernen.

Schlendrian,

Schlendrian,

unter den Laternen.

Im ersten Stock dringt nirgends Licht unter den Türen hervor. Auch im zweiten Stock ist alles dunkel, alles ruhig. Im dritten Stock geht er sorgfältig von Büro zu Büro, legt ein Ohr an jede Tür und horcht.

Unnötig, alle ausgeflogen. Hier treibt sich niemand mehr herum.

Gleich neben dem Büro für Gebäudeservice liegt das gesuchte Anwaltsbüro Detlef von der Heide.

Na, dann man los, spornt er sich selbst an, was zu geht, geht auch wieder auf. Schlösser knacken ist keine Sache von Kraft, man braucht nur ein halbwegs ruhiges Händchen.

Den Rüttler lässt er unberührt in der Tasche. Seit es diese Erschütterungsmelder gibt, benutzt er keinen Hochleistungsvibrator mehr, der die Sperrstifte des Profilzylinders auf die gleiche Höhe schütteln kann. Der Sputnik dagegen ist ein spezieller Grundschlüssel, der auf drei kleinen Messingbeinen sitzt. Mit denen kann er winzige Drähte aus der Schlüsselleiste ausfahren und vorsichtig auf die Sperrstifte schieben. Der Clou daran ist sein eingebautes Hochleistungsmikrofon, mit dem er das Geräusch wahrnehmen kann, wenn die Drähte aufsetzen. Er setzt die Kopfhörer auf, noch ein Tröpfchen Öl, den Schlüsselteil des Sputnik langsam einführen und die Drähte ausfahren. Das Schloss gibt ohne Widerstand nach. Das Ganze hat keine zehn Minuten gedauert.

Wer rein will, kommt rein. Überall.

Der Mann schiebt die Tür behutsam einen Spalt auf. Es ist immerhin denkbar, dass an der Eingangstür eine Alarmanlage montiert ist. Um das zu checken, stellt er sich auf mindestens 15 Minuten Wartezeit ein, erst dann will er das Büro betreten. Er nimmt die Brille ab, massiert mit den Handballen die Augen und starrt in die plötzliche Finsternis. Nur sein Atem ist zu hören, er geht gleichmäßig und leicht.

Eigentlich kann er diese Aufträge nicht ausstehen, aber sie werden einfach saugut bezahlt. Außerdem lässt er keine Gelegenheit aus, einem untreuen Weib eins auszuwischen. Sein jetziger Klient möchte jedenfalls unbedingt erfahren, was seine Gattin zusammen mit ihrem Scheidungsanwalt über seine Vermögensverhältnisse auskakelt. Im Grunde macht er heute dasselbe wie zu seinen besten DDR-Zeiten. Damals, in seinem ersten Leben, wie er immer zu sagen pflegt. Prompt fluten die Bilder der Erinnerung in sein Bewusstsein.

Er war gerade 19 gewesen und absolvierte den Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee, als er von einem Vorgesetzten zu einer Unterredung in einen Sonderraum abkommandiert wurde. Dort drinnen wurde er von einem Mann empfangen, der eindeutig westliche Klamotten trug.

»Herr Rösener, haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt, was Sie in Zukunft gerne mit Ihrem Leben machen wollen?«, fragte der eindringlich und zog demonstrativ an einer Stuyvesant.

»Fußballspielen bei Dynamo Dresden!«, hatte er spontan geantwortet. 1987 wusste jeder Bürger, Dynamo war der Sportklub der Sicherheitskräfte und der Stasi. Der Mann zog eine Verpflichtungserklärung für die Stasi hervor und gab ihm zu verstehen, dass er es nicht bereuen würde, wenn er die jetzt unterschreiben würde. Er überlegte nicht lange, doch aus ihm wurde trotzdem kein begnadeter Fußballer. Da ihm nichts Besseres einfiel, blieb er bei der Firma, wie die Stasi unter Kollegen genannt wurde. Nach einer gründlichen Ausbildung verpflichtete er sich zum Dienst bei der konspirativen Überwachung. Man teilte ihn für die Raststätte Michendorf ein, die letzte Anlaufstelle, bevor die Westler nach West-Berlin kamen.

Während er einen Blick auf seine Digitaluhr wirft, erscheint vor seinem inneren Auge sein damaliger Arbeitsplatz, das alte Gebäude im Landhausstil aus der Nazizeit. Daneben der neue zweistöckige Betonklotz mit dem Intershop, grau wie die gesamte DDR. Das obere Dachgeschoss war Tag und Nacht mit Stasileuten besetzt. Kein Außenstehender wusste, was da oben ablief, nicht mal die Tankwarte, von denen die meisten ebenfalls Informanten waren. Die Stasi hatte immer mindestens zwei Personen in Zivil für die Bodenüberwachung abgestellt. Er ging immer mit einem Tonbandgerät seinem Dienst nach. Sein Westwagen besaß eingebaute Kameras in den Scheinwerfern und mit Richtmikrofonen fing er Gespräche aus verdächtigen Autos auf. An den Zapfsäulen gab es auch Kameras, die er per Fernauslöser bedienen konnte, um Großaufnahmen von einem Überwachten machen zu können. Er sollte die Fahrzeuge aufspüren, in denen Ostdeutsche über die Grenze geschmuggelt wurden. Damals hielt er alle Menschenschmuggler für Kriminelle, schließlich hatte er das von klein auf in der Kinderkrippe gelernt. Er vertrat hier das Gesetz, nicht den Sozialismus. Ideologien waren schon damals nicht seine Sache.

Jetzt sind die 15 Minuten fast um!

Weit und breit ist kein Martinshorn zu hören. Für den Moment fühlt er sich sicher.

Der nächste Schritt steht an!

Der Mann streift die Latexhandschuhe über, setzt die Sichtbrille wieder auf und drückt mit äußerster Vorsicht, im Zeitlupentempo, die Tür weit auf.

Langsame Bewegungen nehmen die meisten Bewegungsmelder nicht wahr!

Er nimmt den Funkwellendetektor aus der Tasche und schaltet ihn ein. Das Gerät zeigt nichts an, er kann sich endlich normal bewegen.

Tür abschließen. Hier drinnen ist er erst mal sicher!

Die Büroräume sind verhältnismäßig groß. Im Eingangsbereich ein breiter Empfangstresen mit Telefonanlage, Computer und Faxgerät. Direkt gegenüber eine kleine Teeküche und drei Toiletten. Am Ende des Flures eine Art Konferenzraum mit breiter Fensterfront. Darin ein Diaprojektor, eine Leinwand und sechs Stühle um einen massiven, rechteckigen Tisch. Daneben das Büro vom Chef, ›Von der Heide‹ steht auf einem kleinen Messingschildchen. Konzentriert inspiziert er den Rest der Räumlichkeiten. Auf dem Schreibtisch ein DeTeWe.

Das dürfte schon bessere Zeiten gesehen haben!

Damit kennt er sich immerhin gut aus, also kein Problem für seine Telefonwanze. Die Schaltknöpfe und Lämpchen des Geräts benötigen fünf Volt Gleichstrom, er kann auf die Akkuwanze verzichten. Hinter der Metallmanschette des Deckenstrahlers verschwindet ein Minisender mit Rundum-Mikro. Neben dem mächtigen Aktenschrank steht ein Kopierer, an der Decke darüber hängt eine Klimaanlage, deren Metallschacht nach draußen führen dürfte. Er klopft die Wand mit einem Schraubenzieher ab, der Schacht geht nach links. Der ideale Platz für eine Linse in einem Glasfaserstrang. Von hier aus hat er den Aktenschrank im Blick. Wenn es darauf ankommt weiß er sofort, aus welcher Akte ein wichtiges Schriftstück verschwinden muss. In den Schacht lassen sich auch gleich der Sender und die Antenne einbauen. Danach kommt der Empfang an die Reihe und den Konferenzraum sollte er aus Sicherheitsgründen nicht auslassen. Ein Glück, dass er dafür genügend Zeit zur Verfügung hat.

*

Wenn ich die nächsten Stunden überleben sollte, wird mein Herz dann wirklich mein eigenes sein, überlegt Lisa Blau. Wird es der gleiche Herzschlag sein, oder wird er für immer etwas Fremdes bleiben, etwas ewig Unbekanntes, das zwar für mich schlägt, mich am Leben hält, sonst aber nicht das Geringste mehr mit mir zu tun hat?

»Liebe Frau Blau!« klingen ihr die beruhigenden Worte von Professor Rollesch in den Ohren nach. Der Chefarzt des Transplantationszentrums des Uniklinikums in Kiel hatte ihre rechte Hand zwischen seine Hände genommen. »Wir sollten uns keine unnötigen Sorgen machen. Eine Herztransplantation gehört heute gewissermaßen zum Standardprogramm einer guten Herz- und Gefäßchirurgie. Stellen Sie sich doch einfach eine Pumpe vor,...