Friesenschrei - Ein weiterer Fall für Thamsen & Co.

von: Sandra Dünschede

Gmeiner-Verlag, 2015

ISBN: 9783839246122 , 281 Seiten

3. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Friesenschrei - Ein weiterer Fall für Thamsen & Co.


 

2. Kapitel


»Niiiiklaaaas!« Haie stöhnte laut. Er stand im Flur am Absatz der Treppe und rief nach seinem Patenkind, das angeblich nur ganz kurz einen Stoffhasen aus seinem Zimmer im oberen Stock holen wollte. Besorgt blickte er auf die Uhr. Wie sollte es bloß werden, wenn Niklas zur Schule kam und morgens pünktlich zum Unterricht zu erscheinen hatte?

Seitdem die Mutter des Jungen vor ein paar Jahren auf dramatische Weise ums Leben gekommen war, lebte Haie mit dem alleinerziehenden Freund zusammen und hatte, vor allem seit er in Rente war, die Aufgabe der Erziehung und Betreuung des Kindes in weiten Teilen übernommen. Tom war selbstständiger Unternehmensberater und reiste momentan viel herum. Gerade jetzt war er ein paar Tage unterwegs und Niklas hatte zum Trost in Papas Bett schlafen dürfen, in dem er nun angeblich den Stoffhasen vergessen hatte. Ohne den wollte er aber partout nicht in den Kindergarten. Doch entweder hatte das Kuscheltier sich gut versteckt oder etwas anderes hielt das Kind auf, denn so lange konnte es unmöglich dauern, den Hasen zu holen.

Haie stieg gerade die ersten Stufen hinauf, als Niklas strahlend am Treppenansatz erschien. »Hab ihn!« Er wedelte wild mit dem Kuscheltier. Seine blauen Augen blitzten glücklich, und sofort konnte Haie dem Jungen nicht mehr böse sein. Zu sehr ähnelte der Kleine seiner Mutter, die Haie noch immer schmerzlich vermisste. »Dann kann es ja endlich losgehen«, seufzte er. »Frau Bünger wird sowieso wieder mit uns schimpfen!« Er wartete, bis Niklas die Treppe hinuntergestiegen war, verstaute den Stoffhasen in dem kleinen Kinderrucksack, den er dem Jungen anschließend aufschnallte. »Nun aber los!«

Wie er selbst fuhr Niklas mit dem Fahrrad zum Kindergarten und legte ein Tempo vor, bei dem Haie kaum mithalten konnte. »Vorne an der Straße warten!«, rief er dem Jungen daher leicht keuchend hinterher.

Nanu, wunderte Haie sich, als sie auf den Schulweg einbogen und Niklas mit einem Affenzahn auf die Grundschule zu radelte. Was war denn da los? In der Ferne konnte er ein paar Blaulichter ausmachen und das Signalrot eines Rettungswagens. »Da muss etwas passiert sein«, murmelte er und trat kräftig in die Pedale, sodass er Niklas bald einholte. Als sie den kleinen Sielzug überquerten, sah er schon die Absperrung vor dem Freibad. Ein Polizist versuchte, ein paar Schaulustige zu vertreiben. »Hier gibt es nichts zu sehen! Gehen Sie bitte weiter!«

Haie blickte auf Niklas, der vor dem rot-weißen Flatterband gestoppt hatte und interessiert seinen Hals in die Höhe reckte. »Komm«, bestimmte er, obwohl er seine Neugierde selbst kaum im Zaum halten konnte. »Frau Bünger wartet.« Er trieb den Kleinen zur Weiterfahrt an und lieferte ihn am Kindergarten ab, der sich direkt neben der Grundschule befand. »Was ist denn da beim Freibad los?«, erkundigte er sich flüsternd bei der Leiterin, doch die zuckte nur mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ist ja alles abgesperrt.«

Er strich Niklas zum Abschied über den Kopf. »Bis nachher, Kumpel!«

Eilig schob er sein Fahrrad hinüber zum Freibad. Vielleicht, so hoffte Haie, war Dirk, der Leiter der Niebüller Polizei, mit dem er seit etlichen Jahren befreundet war, vor Ort und konnte ihm sagen, was passiert war. Er bemühte sich, so nah wie möglich an das Absperrband heranzukommen, vor dem nach wie vor etliche Neugierige standen. Er drängte sich zwischen die Leute und versuchte, auf Zehenspitzen einen Blick ins Freibad zu erhaschen, doch von dem Freund war nichts zu sehen.

Dirk Thamsen stand etwas abseits am Beckenrand und blickte auf den leblosen Körper des Mannes, den Jonas Lützen mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibend gefunden hatte. Der herbeigerufene Notarzt hatte nur noch den Tod feststellen können, der Leichenwagen war angefordert. Ein paar Kollegen von der Spurensicherung waren vor wenigen Minuten eingetroffen und machten sich gerade daran – soweit es die Verhältnisse zuließen – den Fundort der Leiche zu sichern und nach Spuren abzusuchen. Wie es auf den ersten Blick aussah, war der Mann ertrunken; da man ihn allerdings voll bekleidet in dem Becken gefunden hatte, ging er davon aus, dass es sich höchstwahrscheinlich nicht um eine natürliche Todesursache handelte. Zumal der Notarzt eine Verletzung am Kopf ausfindig gemacht hatte, zu der er aber nichts weiter sagen konnte. Da würden sie den Obduktionsbericht von Dr. Becker aus Kiel abwarten müssen. Den hatte Dirk Thamsen bereits telefonisch über den Leichenfund informiert.

Für den Moment konnte er hier im Freibad nichts mehr ausrichten und beschloss daher, den Schüler zu befragen, der den Toten gefunden hatte. Man hatte ihm mitgeteilt, dass der Junge in der Schule im Lehrerzimmer saß.

»Juhu, Dirk!«, hörte er plötzlich seinen Namen, als er die Stufen des Freibades hinunterstieg. Er blickte sich um und sah in der Menge Haie Ketelsen hinter dem Absperrband wie wild mit seinen Armen fuchteln. Der Freund, der früher Hausmeister an der Grundschule war, hatte ihm schon einige Male bei seinen Ermittlungen geholfen. Thamsen hob die Hand zum Gruß und wies den Kollegen an, Haie zu ihm zu lassen.

»Moin, Haie, was machst du denn schon hier?«, grinste er dem Rentner entgegen, obwohl er wusste, dass Haie in dem Dorf so gut wie nichts entging.

»Ich habe Niklas zum Kindergarten gebracht und dann die Blaulichter hier gesehen. Was ist denn los?« Erwartungsvoll blickte Haie Dirk an, der plötzlich ein Gähnen unterdrücken musste. »Hat die Kleine wieder durchgeschrien?«

Thamsen nickte. Vor gut einem Jahr war er noch einmal überraschend Vater geworden. Seine Lebensgefährtin Dörte hatte mit der ungeplanten Schwangerschaft sein ohnehin schon chaotisches Leben ordentlich durcheinandergewirbelt, und als Lotta dann zur Welt kam, war es richtig anstrengend geworden. Dirk konnte sich nicht daran erinnern, dass Anne und Timo, seine fast schon erwachsenen Kinder aus erster Ehe, ihn körperlich so strapaziert hatten. Lotta bekam momentan Zähne und schrie jede Nacht. Er hatte seit Tagen nicht ausgeschlafen.

»Ein Schüler hat eine Leiche im Freibad gefunden.«

»Was?«, entfuhr es Haie.

Erneut nickte Thamsen und massierte leicht seine Stirn. »Der Bademeister trieb tot im Becken. Wahrscheinlich schon seit gestern Abend.«

»Aber wie denn? Wer denn?«, stammelte Haie aufgelöst.

Thamsen hob die Schultern. »Noch wissen wir nichts Genaues, aber nach Selbstmord sieht mir das Ganze nicht aus. Kanntest du den Mann?«

Sofort nickte Haie. Natürlich war ihm Ralf Burger bekannt. Er war in diesem kleinen, beschaulichen Dorf geboren und aufgewachsen, wusste über alles und jeden Bescheid. Gerade deswegen war er für Thamsen eine große Ermittlungshilfe. »Weiß denn seine Frau schon von dem Unglück?«

»Nee«, entgegnete Dirk, der das Überbringen von Trauernachrichten gerne auf die lange Bank schob, »da fahre ich hin, wenn ich mit dem Jungen gesprochen …«

»Ich will zu ihm!« Eine schrille Frauenstimme durchschnitt plötzlich die Luft wie die Klinge eines Samuraischwertes. Die beiden zuckten zusammen und drehten sich in die Richtung, aus der das Gekreische kam. Wie eine wild gewordene Furie sahen sie eine Frau heranstürmen. Das leichte Sommerkleid, das sie trug, wehte hinter ihr her, während sie mit erhobenen Armen durch die Luft ruderte. Unbewusst gingen Haie und Dirk in Deckung.

»Wo ist er!« Sie blieb direkt vor den beiden stehen und schrie ununterbrochen: »Wo ist er? Wo ist er?«

Haie stand wie angewurzelt da und auch Thamsen fing sich nur langsam. »Frau Burger?«

»Wo ist er?«

»Bitte«, er legte seine Hand auf ihren Arm, den sie jedoch wegzog, als schmerze sie die Berührung. »Beruhigen Sie sich bitte!«, versuchte Thamsen auf die Frau einzuwirken, doch ohne Erfolg.

»Ralf!«, rief sie und preschte an ihnen vorbei. Ehe sie es sich versahen, war Frau Burger die Stufen zum Freibad hinaufgehechtet. »Ralf! Ra…« Der Ausruf blieb ihr förmlich im Halse stecken, als sie sah, wie der Bestatter gerade den Leichnam ihres Mannes in einen metallenen Sarg wuchtete. Kein schöner Anblick, zumal der Unternehmer des kleinen Bestattungsinstituts aus Niebüll heute alleine am Unglücksort war, da sein Mitarbeiter sich krank gemeldet hatte. Es war ihm kaum möglich, den leblosen Körper in den Sarg zu hieven, daher zerrte und drückte er den Toten in Position.

»Kann jemand mal Herrn Mumme helfen!«, rief Thamsen den Kollegen von der Spurensicherung zu, und hakte dann Grit Burger unter, um sie diesem Anblick zu entziehen. »Kommen Sie.« Er führte die Frau langsam zurück auf den Schulweg, wo die Schaulustigen ihnen kaum Platz machten.

»Zur Seite, bitte! Geht doch mal weg!«, forderte Haie die neugierigen Dorfbewohner auf und half dem befreundeten Kommissar, die Witwe zur Schule zu bringen. Dort waren zum Glück noch die Rettungssanitäter vor Ort, die sich um Jonas Lützen kümmerten.

»Wir brauchen Hilfe«, rief Thamsen und sofort kam einer der Rettungshelfer auf sie zu und übernahm die mittlerweile apathische Frau Burger. Kopfschüttelnd beobachtete Thamsen, wie der Mann die Witwe zum Rettungswagen brachte. »Unglaublich, wie schnell sich im Dorf alles rumspricht.«

»Na ja«, entgegnete Haie, »so ist das hier halt. Wahrscheinlich hat Grit beim Einkauf im SPAR-Markt von Ralfs Tod erfahren«, mutmaßte er, da er wusste, dass der Laden der Hauptumschlagplatz für die Neuigkeiten im Ort war. Helene, die Kaufmannsfrau, sah es als ihre Pflicht an, ihre Kundschaft stets auf dem neuesten Stand zu halten. Allein deshalb blieb in...