Nebelkind - Thriller

von: Emelie Schepp

Blanvalet, 2015

ISBN: 9783641159450 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Nebelkind - Thriller


 

Sonntag, den 15. April

Notrufzentrale 112. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Mann ist tot …«

Anna Bergström von der Rettungsleitstelle hörte eine zitternde weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung und warf einen raschen Blick auf die Bildschirmanzeige vor ihr. Es war 19.42 Uhr.

»Nennen Sie mir bitte Ihren Namen.«

»Kerstin Juhlén. Mein Mann heißt Hans. Hans Juhlén.«

»Sind Sie ganz sicher, dass er tot ist?«

»Er atmet nicht. Liegt einfach nur da. Er lag schon so, als ich nach Hause kam. Und auf dem Teppich ist Blut«, antwortete die Frau schluchzend.

»Sind Sie selbst verletzt?«

»Nein.«

»Ist jemand anders verletzt?«

»Nein, mein Mann ist tot!«

»Ich verstehe. Wo befinden Sie sich jetzt?«

»Zu Hause.« Die Frau am anderen Ende holte tief Luft.

»Geben Sie mir bitte Ihre Adresse.«

»Östanvägen 204 in Lindö. Das Haus ist gelb, und es stehen große Blumenkübel davor.«

Anna Bergströms Hände fuhren rasch über die Tastatur, während sie auf der digitalen Karte den Östanvägen suchte.

»Ich werde Ihnen die nötige Hilfe schicken«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Und ich bitte Sie, am Telefon zu bleiben, bis die Kollegen eingetroffen sind.«

Anna Bergström bekam keine Antwort. Sie drückte das Headset an ihr Ohr.

»Hallo? Sind Sie noch dran?«

»Er ist wirklich tot.«

Die Schluchzer der Frau gingen in hysterisches Weinen über, und dann war im Telefon der Rettungsleitstelle nur ein langer, angstvoller Schrei zu hören.

Kriminalkommissar Henrik Levin und Kriminalobermeisterin Maria Bolander stiegen in Lindö aus dem Volvo. Die kühle Meeresluft von der Ostsee fuhr in Henriks dünne Frühlingsjacke. Er zog den Reißverschluss bis zum Hals und steckte die Hände in die Taschen.

Auf der gepflasterten Auffahrt stand ein schwarzer Mercedes, umgeben von zwei Polizeiautos und einem Krankenwagen. Ein Stück von der Absperrung entfernt parkten zwei weitere Fahrzeuge, die nach den Schriftzügen zu urteilen den beiden konkurrierenden Tageszeitungen der Stadt gehörten.

Zwei Reporter standen so dicht am Absperrband, dass es an ihren Daunenjacken bis zum Bersten gespannt war.

»Manche brauchen es so richtig piekfein, was?« Maria Bolander – oder Mia, wie sie von allen genannt wurde – schüttelte irritiert den Kopf. »Und Statuen haben sie auch noch.«

Wütend starrte sie die Löwen aus Granit an. Dann blieb ihr Blick an den meterhohen Blumenkübeln hängen, die neben den Tierfiguren standen.

Henrik Levin schwieg und ging die erleuchtete Auffahrt des Hauses im Östanvägen 204 entlang. Die kleinen Schneehaufen am grauen Bordstein zeugten davon, dass der Winter sich noch immer nicht geschlagen gegeben hatte. Henrik nickte dem Polizeiassistenten Gabriel Mellqvist zu, der vor der Eingangstür stand.

Er stampfte sich den Schnee von den Schuhen, hielt Mia die schwere Haustür auf, und die beiden traten ein. In der gigantischen Villa herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Kriminaltechniker sicherten systematisch Fingerabdrücke und andere Spuren. Sie hatten schon die Türblätter und Klinken mit Puder und Pinsel bearbeitet und einige Spuren durch Lichteinstrahlung sichtbar gemacht. Momentan konzentrierten sie sich auf einige interessante Flächen an den Wänden, gegen die sich offenbar jemand gelehnt hatte. Ab und an wurde der sparsam möblierte Raum von Kamerablitzen erhellt. Die Leiche lag auf dem gestreiften Teppich im Wohnzimmer.

»Total widerlich, oder?«, sagte Mia.

»Ich weiß«, sagte Henrik.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Seine Frau, Kerstin Juhlén. Als sie nach Hause kam, hat sie ihn so aufgefunden«, sagte Henrik.

»Und wo ist sie jetzt?«

»In der oberen Etage. Hanna Hultman ist bei ihr.«

Henrik Levin betrachtete den Toten, der vor ihm lag: Hans Juhlén, der eine leitende Stellung im Amt für Migration innegehabt hatte und für Asylfragen zuständig gewesen war.

Henrik umrundete die Leiche und beugte sich über das Gesicht. Er studierte den kräftigen Kieferbereich, das wettergegerbte Gesicht, die grauen Bartstoppeln und Schläfen. Hans Juhlén war immer wieder in den Medien in Erscheinung getreten, doch die dort verwendeten Archivbilder stimmten überhaupt nicht mit dem gealterten Mann überein, der jetzt vor Henrik auf dem Boden lag. Juhlén trug eine sorgfältig gebügelte Hose und ein hellblau gestreiftes Hemd. Auf dem Baumwollstoff breiteten sich in Brusthöhe rote Blutflecken aus.

»Nur ansehen, nichts anfassen.«

Von der großen Fensterpartie aus warf die Kriminaltechnikerin Anneli Lindgren ihrem Kollegen einen vielsagenden Blick zu.

»Erschossen?«

»Sieht ganz danach aus. Zwei Einschusslöcher.«

Henrik erhob sich und sah sich im Wohnzimmer um, das von einem Sofa und zwei Ledersesseln dominiert wurde. In der Mitte des Raums stand ein Glastisch mit Chrombeinen. An den Wänden hingen Gemälde von Ulf Lundell.

Henrik fuhr sich übers Kinn und spürte die rauen Bartstoppeln. Die Einrichtung wirkte unberührt. Keines der Möbelstücke war umgeworfen worden.

»Keine äußeren Anzeichen einer Auseinandersetzung«, sagte er und drehte sich zu Mia um, die hinter ihm stand.

»Stimmt«, sagte sie, ohne den Blick von einem ovalen Beistelltisch zu lösen.

Auf dem Tisch lag eine Geldbörse aus braunem Leder. Drei Fünfhundertkronenscheine schauten heraus, und Mia überkam die Lust, sie zu berühren. Am liebsten hätte sie alle drei herausgezogen. Oder nur einen. Ganz unauffällig. Aber sie beherrschte sich. Jetzt reicht es, dachte sie, ich muss mich wirklich zusammenreißen.

Henriks Blick wanderte zum großen Erker, der zum Garten hinausging, und blieb an Anneli Lindgren hängen, die gerade mit dem Pinsel ein paar Fingerabdrücke sichtbar machte.

»Findest du was?«

Sie blickte ihn durch ihre Brillengläser an.

»Bisher noch nicht, aber laut Frau Juhlén stand dieses Fenster offen, als sie nach Hause kam, und ich hoffe darauf, nicht nur ihre Fingerabdrücke zu finden.«

Langsam und systematisch setzte Anneli ihre Arbeit fort.

Henrik fuhr sich durchs Haar und wandte sich an Mia.

»Wollen wir ein paar Worte mit Frau Juhlén wechseln?«

»Geh ruhig schon mal hoch, ich schau mich so lange hier unten um.«

Sie unterstrich ihre Aussage mit einer kreisenden Handbewegung.

Kerstin Juhlén saß auf dem Doppelbett im Schlafzimmer. Sie hatte sich eine Wolldecke um die Schultern gelegt und starrte mit leerem Blick auf den Nachttisch.

Respektvoll trat Polizeiassistentin Hanna Hultman einen Schritt zurück und schloss die Tür hinter Henrik.

Auf dem Weg nach oben hatte er sich eine hübsche kleine Person mit eleganter Kleidung vorgestellt. Vor ihm saß nun eine kräftige Frau mit einem ziemlichen Taillenumfang, die ein verwaschenes T-Shirt und eine dunkle Stretchjeans trug – nicht gerade das, was er erwartet hatte. Ihr Gesicht war geschwollen und die Augen rotgerändert vom Weinen. Sie hatte stark blondiertes Haar und trug einen Pagenkopf. Der dunkle Haaransatz verriet, dass seit ihrem letzten Friseurbesuch einige Zeit ins Land gegangen war.

Neugierig sah Henrik sich im Schlafzimmer um, musterte die Kommode und die Wand mit den Fotos. In der Mitte hing ein großes Bild, das ein glückliches Hochzeitspaar zeigte. Es war ein wenig ausgeblichen und hing offenbar schon seit vielen Jahren dort.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie ihn beobachtete.

»Ich heiße Henrik Levin und bin Kriminalkommissar«, sagte er und ertappte sich dabei, dass er flüsterte. »Mein herzliches Beileid. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen dennoch ein paar Fragen stellen muss.«

Kerstin Juhlén wischte sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke eine Träne von der Wange.

»Das ist mir schon klar.«

»Können Sie mir bitte erzählen, was passiert ist, als Sie heute Abend nach Hause kamen?«

»Ich bin nach Hause gekommen, und … und … er lag einfach so da.«

»Wissen Sie, wie spät es war?«

»Etwa halb acht.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Als Sie hereinkamen, war da noch jemand anders im Haus?«

»Nein. Nein, nur mein Mann …«

Ihre Unterlippe zitterte, und Kerstin Juhlén schlug die Hände vors Gesicht.

Henrik wusste, dass es nicht der richtige Moment für eine ausführliche Vernehmung war, und beschloss daher, sich kurzzufassen.

»Sie werden gleich Hilfe bekommen, aber Sie müssten mir noch ein paar Fakten bestätigen, bevor ich Sie in Ruhe lassen kann.«

Kerstin Juhlén nahm die Hände vom Gesicht und legte sie in den Schoß.

»Ja?«

»Sie haben erwähnt, dass unten im Wohnzimmer ein Fenster offen stand, als Sie nach Hause kamen. Und dass Sie es geschlossen haben. Stimmt das?«

»Ja.«

»Ihnen ist draußen vor dem Fenster nichts Bemerkenswertes aufgefallen, als Sie es zugemacht haben?«

»Nein … nein.«

Kerstin Juhlén sah aus dem Schlafzimmerfenster. Henrik schob die Hände in die Hosentaschen und dachte eine Weile nach.

»Gut. Eine letzte Frage noch: Wollen Sie, dass ich jemanden anrufe? Eine Freundin? Jemanden aus der Verwandtschaft? Haben Sie Kinder?«

Sie sah auf ihre zitternden Hände. Dann öffnete sie den Mund und flüsterte etwas.

»Verzeihung, könnten Sie das...