Der Mädchenflüsterer - Psychothriller

von: Eva Fürst

Blanvalet, 2015

ISBN: 9783641159054 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Der Mädchenflüsterer - Psychothriller


 

5

»Maja, mach die Tür auf!« Peter Holzings Stimme klang energisch. Zuerst hatte er Sturm geklingelt – was sie jedes Mal in Rage versetzte –, jetzt hämmerte er zudem gegen den Türrahmen.

»Ich bin unterwegs!« Maja hörte den verärgerten Klang ihrer Stimme, während sie über einen der Stiefel stolperte, die sie vorhin beim Nachhausekommen achtlos im Flur abgestreift hatte.

Peter war ihr ältester Freund. Sie kannten sich schon vom Gymnasium und hatten zusammen Medizin studiert, bevor sie sich für längere Zeit aus den Augen verloren hatten. Seit einigen Jahren waren sie wieder näher zusammengerückt, und auch wenn Peter nicht besonders emotional war, gab es doch ein unsichtbares Band zwischen ihnen, das über bloßes Befreundetsein hinausging. Ab und zu verschwand der Freund von der Bildfläche und war dann nicht zu erreichen. Maja erfuhr nie, wo er sich aufhielt und was er dort tat, und mittlerweile hatte sie es aufgegeben nachzubohren. Auch jetzt lag sein letzter Besuch etliche Tage zurück. Exakt zwei Wochen, um genau zu sein. Und genau wie heute tauchte er dann unverhofft wieder auf und tat so, als wäre er nie weg gewesen. Unverbesserlich. Sie lächelte kurz, setzte dann einen mahnenden Gesichtsausdruck auf und öffnete die Tür.

»Ich habe Pizza mitgebracht!« Freudestrahlend streckte er ihr den Karton entgegen.

»Wo warst du?«

»Das willst du nicht wissen.« Er schob die Wohnungstür mit dem Fuß zu und grinste sie spitzbübisch an. »Eine schöne heiße Pizza mit viel Käse. Dazu trinken wir ein Glas Rotwein!«

Noch ehe sie protestieren konnte, war er schon in der Küche verschwunden. Schranktüren klapperten. Maja schüttelte den Kopf und folgte ihm. »Für mich keinen Wein, bitte.«

»Ach was. Jeder ein Glas. Wir müssen doch nicht die ganze Flasche trinken.«

»Nein.«

»Eben. Ich trinke auch allein.« Das war das Schöne an Peter. Er nahm das, was sie sagte, einfach hin. Keine Diskutiererei, kein Gemaule, kein Willst-du-es-dir-nicht-doch-anders-überlegen.

»Alkohol gibt’s bei mir nur noch am Wochenende.«

»Sehr löblich, liebe Maja.« Peter zog das Messer durch den Teig. »Essen wir hier?«

»Hier oder im Wohnzimmer, wie du willst.«

»Dann hier. Bring mir mal den Korkenzieher, bitte.«

»Sofort, Chef.« Maja ging zum Fenster und sah einen Moment lang auf die schwarzglänzende Straße hinunter, ehe sie die Gardinen zuzog. Es war noch nicht mal sechs und schon dunkel.

»Wie war’s auf der Arbeit?« Er hob sein Glas und prostete ihr zu.

Peter Holzing würde auch heute nichts über seine Aktivitäten in den letzten beiden Wochen erzählen, fragen hatte keinen Zweck. Sein Interesse an ihrer Arbeit jedoch war ehrlich. Peter liebte alles, was mit Rechtsmedizin zu tun hatte. Oder besser gesagt – die Bereiche ihrer Tätigkeit, die auf Verbrechen fußten.

Heute habe ich was für dich. Und ich muss nicht mal personenbezogene Details preisgeben. Maja dachte an die Skelettteile, während sie beobachtete, wie Peter Pizza auf ihre beiden Teller bugsierte.

»Heute hatte ich einen außergewöhnlichen Fall.« Sie lächelte, als sie sah, wie Peters Augen zu funkeln begannen. »Ein Knochenpuzzle.«

»Ich kann es kaum erwarten, Details zu hören!«

Während sie ihm erklärte, was sie bei der Untersuchung der Knochen gefunden hatte, schob er sich ein Stückchen Pizza nach dem anderen in den Mund. Sein enthusiastisches Nicken zum Zeichen, dass er aufmerksam zuhörte, wäre gar nicht nötig gewesen. Maja konnte auch so sehen, dass ihn der Fall faszinierte.

»Also waren es mindestens zwei Leichen?«

»Exakt.«

»Beides Frauen?«

»Bei einer ist das sicher, da habe ich das Becken.« Sie musste Peter nicht erklären, was ein weibliches Becken auszeichnete. Schließlich hatte er selbst Medizin studiert. Auch wenn das lange her war und er nie in diesem Beruf gearbeitet hatte – bestimmte Sachen vergaß man nicht.

»Die Knochen der zweiten Leiche konnte ich nicht eindeutig zuordnen. Es fehlen eine Menge Teile, vor allem die Schädel. Da muss das Labor ran und die DNA untersuchen. Jedenfalls haben wir zwei Tote, die nicht fossil sind. Von allein sind die Skelette nicht in den Wald gewandert. Wir müssen da nochmal hin und alles gründlich untersuchen. Ich habe gleich die Kripo angerufen. Morgen …«

»Halt!« Peter hatte sie mitten im Satz unterbrochen. »Nicht so voreilig. Immer schön der Reihe nach.« Er schob den Teller von sich und zuckte entschuldigend mit den Schultern, als er ihren Gesichtsausdruck sah. »Du kennst mich doch. Ich muss immer alles ganz genau wissen. Wie alt waren die Personen, als sie zu Tode kamen?«

»Das ist schwierig. Im Normalfall beurteilen wir dazu ja den Obliterationsgrad der Schädelnähte und den Zahnstatus.« Maja sah die Zickzacklinien zwischen den Knochen vor sich. Je älter der Betreffende wurde, umso stärker wuchsen sie zusammen. Für den Verwachsungsgrad gab es Tabellen, nach denen man einen Mittelwert für das Alter erhielt. Auch die Verknöcherung der Gaumennähte wurde miteinbezogen.

»Denkst du, dass ihr die Schädel noch findet?«

»Könnte sein. Wenn wir Glück haben …« Maja sah zu, wie Peter trank. Die Gier nach dem Wein brachte sie fast um, aber sie wollte ihren Vorsätzen unbedingt treu bleiben. Alkohol, so hatte sie sich vor einigen Wochen geschworen, gab es nur noch an den Wochenenden, an denen sie keinen Dienst hatte. »Tiere verschleppen Knochen oft kilometerweit.«

»Also kannst du nichts über das Alter sagen.«

»Nun, ganz so unklar war es dann auch wieder nicht. Ich hatte ja schließlich ein komplettes Becken und diverse Langknochen zur Verfügung. Am Schambeinkamm gibt es, wie du ja sicher noch weißt, die Facies symphysialis

»Die der Schambeinfuge zugewandte Seite, ich weiß. Und wenn ich mich recht erinnere …«, er goss sich Wein nach, »… lässt sich auch an den Wachstumsfugen der Röhrenknochen das Alter recht gut bestimmen. Sie schließen sich beim Menschen erst ab dem neunzehnten Lebensjahr vollständig.«

Maja zog ihre Hand zurück, die sich wie ferngesteuert der Weinflasche genähert hatte, und biss sich kurz auf die Lippen. Peter beim Trinken zuzusehen war schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte.

»Das kommt darauf an. Am Ellenbogengelenk schließen sie sich zwischen dem vierzehnten und achtzehnten Lebensjahr, am Oberarmknochen bis zum vierundzwanzigsten, am Oberschenkel bis zum einundzwanzigsten, am Kniegelenk bis zum zwanzigsten und so weiter; bei Mädchen immer ein bis zwei Jahre eher.«

»Habt ihr die Knochen schon geröntgt? Wie alt waren denn nun deine zwei?«

»Beide noch recht jung. Die Frau, zu der das Becken gehörte, war höchstens zwanzig, eher jünger. Vom zweiten Skelett hatte ich nur eine Elle und ein paar Rippen. Aber sehr alt war die Person auch noch nicht.«

»Und die Statur?«

»Was du alles wissen willst …« Maja erhob sich und holte sich ein Glas Orangensaft zur Ablenkung. »Die junge Frau war höchstens eins fünfundsechzig, die andere Person noch kleiner.«

»Bestimmt auch eine Frau. Oder eher ein Mädchen.« Peter schaute starr geradeaus. Er schien sie nicht wahrzunehmen, während er laut über den Fall nachdachte. »Hast du die Liegezeit bestimmt?«

»Vorläufig und ungenau. Ich schätze sie zwischen fünf und zehn Jahre. Das hängt vom Boden und den Lagerungsbedingungen ab. Bei Waldboden ist davon auszugehen, dass er aufgrund der Humusbildung und der verrottenden Nadeln sauer ist. Solch einen Boden nennen wir ›tätig‹. Das heißt, die Zersetzung von organischem Material geht schneller vor sich. Wenn wir keinen hohen Lehmanteil haben, natürlich. Um es genauer zu ermitteln, muss ich mir den Boden vor Ort ansehen. Zudem lasse ich den Proteingehalt der Knochen bestimmen. Alles zusammen ergibt dann ein ganz gutes Bild.«

»Da steckt nichts Gutes dahinter, Maja. Zwei junge Mädchen, am gleichen Fundort, mitten im Wald vergraben. Denkst du das Gleiche wie ich?« Jetzt sah er sie direkt an. Seine Augen wirkten dunkler als sonst. Maja schwieg einen Moment lang, während sie vor ihrem inneren Auge wieder die gürtelförmigen Verdickungen an den Unterarmknochen vor sich sah. Auch an den Unterschenkeln hatte sie ähnliche Unregelmäßigkeiten im Knochenwachstum entdeckt.

»Ich habe mehrfache Kallusbildungen gefunden.«

»Bei beiden?« Peter sprach jetzt leiser.

»Ja.«

»Sind das nicht Spuren früherer Knochenverletzungen?« Er wedelte mit der Hand. »Also ich meine Verletzungen, die zu Lebzeiten entstanden sind?«

»Exakt.«

»Wow!« Jetzt klang er begeistert, und Maja schüttelte leicht den Kopf. Es war immer das Gleiche. Je drastischer es wurde, umso fesselnder fand Peter die Sache.

»Und diese Veränderungen an den Knochen lassen sich eindeutig von postmortalen Defekten abgrenzen?«

»Aber sicher.«

»Wie?« Trotz ihrer Einsilbigkeit gab er nicht auf. Peter Holzing war fasziniert von jeder Art von Verbrechen. Je abscheulicher, desto besser. Manchmal hatte Maja den Verdacht, dass er sich nur deswegen mit ihr abgab, weil sie solche Insiderinformationen kannte.

»Nun, prämortale Verletzungen an Knochen zeigen zuerst einmal Zeichen von Entzündungsprozessen rund um die betroffene Stelle. Danach beginnen Heilungs- und Umbauprozesse. Man nennt das ›bone remodeling‹.«

»Das habe ich schon gelesen. In einem Artikel...