Der Schneeleopard - Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller

von: Tess Gerritsen

Limes, 2015

ISBN: 9783641123932 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Schneeleopard - Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller


 

1

Okavangodelta, Botswana

Im schrägen Licht des Tagesanbruchs entdecke ich ihn, die Konturen fein wie ein Wasserzeichen, eingeprägt in die nackte Erde. Mittags, wenn die afrikanische Sonne heiß und grell niederbrennt, hätte ich ihn vielleicht glatt übersehen, doch am frühen Morgen werfen auch die flachsten Mulden und Vertiefungen einen Schatten, und als ich aus unserem Zelt trete, fällt mir dieser einzelne Abdruck sofort auf. Ich sinke davor in die Hocke, und es überläuft mich plötzlich eiskalt, als mir klar wird, dass nur die dünne Zelthaut uns geschützt hat, während wir schliefen.

Richard kriecht aus dem Zelt und ächzt zufrieden, als er sich aufrichtet und streckt. Begierig saugt er den Duft des taubedeckten Grases ein, des Holzrauchs und des Frühstücks, das auf der Feuerstelle brutzelt. Die Düfte Afrikas. Dieses Abenteuer ist Richards Traum. Es war immer schon Richards Traum, nicht meiner. Ich bin die Freundin, die ein guter Kumpel sein will und daher im Zweifel immer sagt: Natürlich bin ich einverstanden, Schatz. Auch wenn es achtundzwanzig Stunden in drei verschiedenen Flugzeugen bedeutet, von London nach Johannesburg, von Johannesburg nach Maun und von dort weiter in den Busch, mit einer klapprigen Kiste, die von einem verkaterten Piloten geflogen wird. Selbst wenn es zwei Wochen in einem Zelt bedeutet und man unentwegt die Moskitos verjagen und zum Pinkeln hinter einen Busch gehen muss.

Selbst wenn es bedeutet, dass ich sterben könnte. Das denke ich jetzt, während ich auf diesen Abdruck in der nackten Erde starre, nicht einmal einen Meter von der Stelle entfernt, wo Richard und ich diese Nacht geschlafen haben.

»Riech die Luft, Millie!«, jubiliert Richard. »Nirgendwo sonst riecht sie so wie hier!«

»Da war ein Löwe«, sage ich.

»Ich wünschte, ich könnte sie in Flaschen abfüllen und mit nach Hause nehmen. Das wäre doch ein tolles Souvenir – der Duft des Buschs!«

Er hört mir nicht zu. Er ist zu berauscht von Afrika, geht völlig auf in seinem Traum vom großen Safari-Abenteuer, in dem alles super und fantastisch ist, sogar das gestrige Abendessen, das aus Schweinefleisch mit Bohnen aus der Dose bestand. »So gut hat es mir noch nie geschmeckt!«, erklärte er.

Jetzt wiederhole ich mit lauterer Stimme: »Es war ein Löwe hier, Richard. Er war direkt neben unserem Zelt. Er hätte leicht die Zelthaut aufreißen können.« Ich will ihn beunruhigen, ich will, dass er sagt: Mein Gott, Millie, das ist wirklich schlimm.

Stattdessen ruft er den anderen Mitgliedern unserer Gruppe vergnügt zu: »He, schaut euch das mal an! Wir hatten letzte Nacht einen Löwen hier!«

Die Ersten, die sich zu uns gesellen, sind die beiden jungen Frauen aus Kapstadt, die ihr Zelt neben unserem aufgeschlagen haben. Sylvia und Vivian haben holländische Nachnamen, die ich weder buchstabieren noch aussprechen kann. Sie sind beide in den Zwanzigern, braun gebrannt, langbeinig und blond, und ich hatte anfangs Mühe, sie auseinanderzuhalten, bis Sylvia mich schließlich entnervt anfuhr: »Es ist ja nicht so, als ob wir Zwillinge wären, Millie! Sehen Sie denn nicht, dass Vivian blaue Augen hat und ich grüne?« Als die Mädchen sich jetzt links und rechts von mir hinknien, um den Tatzenabdruck zu begutachten, bemerke ich, dass sie auch verschieden riechen. Die blauäugige Vivian duftet wie frisches Gras, der unverbrauchte, unverdorbene Duft der Jugend. Sylvia strömt den Geruch der Zitronengras-Lotion aus, mit der sie sich immer einschmiert, um die Moskitos abzuhalten, denn DEET ist ein Gift. Das wissen Sie doch, oder? Sie flankieren mich wie Buchstützen in Form von blonden Göttinnen, und ich kann nicht übersehen, dass Richard wieder einmal Sylvias Dekolleté beäugt, das sie in ihrem tief ausgeschnittenen Tanktop so offen zur Schau trägt. Für eine Frau, die sich immer so gewissenhaft mit Insektenschutzmittel einreibt, bietet sie den Moskitos alarmierend viel nackte Haut zum Stechen an.

Elliot lässt natürlich auch nicht lange auf sich warten. Er ist immer in der Nähe der beiden Blondinen, die er erst vor ein paar Wochen in Kapstadt kennengelernt hat. Seitdem klebt er an ihnen wie ein treues Hündchen, das darauf wartet, dass sie ihm ein Häppchen von ihrer Aufmerksamkeit zuwerfen.

»Ist das ein frischer Abdruck?«, fragt Elliot. Er klingt besorgt. Wenigstens einer, der meine Beunruhigung teilt.

»Gestern habe ich ihn noch nicht hier gesehen«, sagt Richard. »Der Löwe muss letzte Nacht hier vorbeigekommen sein. Was für eine Vorstellung – du kriechst nachts aus dem Zelt, um dein Geschäft zu verrichten, und plötzlich siehst du das.« Er macht »Grrrr!«, formt die Finger zu Krallen und schlägt nach Elliot, der erschrocken zurückzuckt. Richard und die Blondinen lachen, denn Elliot ist für alle nur der Pausenclown, der ängstliche Amerikaner, der seine Taschen mit Hygienetüchern und Insektenspray vollgestopft hat, mit Sonnencreme und Desinfektionsmittel, mit Pillen gegen Allergien und Jodtabletten und allem, was man sonst noch zum Überleben braucht.

Ich stimme nicht in ihr Gelächter ein. »Einer von uns hätte hier draußen sterben können«, gebe ich zu bedenken.

»Aber so was passiert halt bei einer richtigen Safari, hm?«, entgegnet Sylvia munter. »Im Busch gibt es nun mal Löwen.«

»Sieht nicht nach einem besonders großen Löwen aus«, meint Vivian, die sich vorgebeugt hat, um den Abdruck zu inspizieren. »Vielleicht ein Weibchen, was meint ihr?«

»Ob Männchen oder Weibchen, töten können sie einen beide«, sagt Elliot.

Sylvia gibt ihm einen spielerischen Klaps. »Oje. Hast du etwa Angst?«

»Nein. Nein, ich hatte nur gedacht, Johnny hätte übertrieben, als er uns am ersten Tag diesen Vortrag gehalten hat. Bleibt im Jeep. Bleibt im Zelt. Sonst werdet ihr sterben.«

»Wenn Sie hundertprozentige Sicherheit wollen, Elliot, hätten Sie vielleicht lieber in den Zoo gehen sollen«, sagt Richard, und die Blondinen lachen über seine bissige Bemerkung. Alle huldigen Richard, dem Alphamännchen. Ganz wie die Helden, die er in seinen Romanen beschreibt, ist er ein Mann, der zupackt und die Situation rettet. Das glaubt er jedenfalls. Hier draußen in der Wildnis ist er auch nur ein hilfloser, ahnungsloser Londoner, und redet doch daher, als sei er der große Survivalexperte. Das ist noch etwas, was mich an diesem Morgen nervt, neben der Tatsache, dass ich Hunger habe, dass ich schlecht geschlafen habe und dass die Moskitos mich inzwischen entdeckt haben. Wie immer. Kaum trete ich aus dem Zelt, ist es, als ob sie die Essensglocke gehört hätten. Schon klatsche ich mir wieder hektisch auf Hals und Gesicht.

Richard ruft dem afrikanischen Fährtensucher zu: »Clarence, komm her! Schau dir an, was da letzte Nacht durchs Camp geschlichen ist!«

Clarence hat mit Mr. und Mrs. Matsunaga am Lagerfeuer gesessen und Kaffee getrunken. Jetzt schlendert er auf uns zu, seine Blechtasse in der Hand, und kauert sich hin, um den Abdruck zu inspizieren.

»Er ist frisch«, sagt Richard, unser neuer Buschexperte. »Der Löwe ist sicher erst letzte Nacht vorbeigekommen.«

»Kein Löwe«, stellt Clarence fest. Er sieht blinzelnd zu uns auf, und sein tiefschwarzes Gesicht glänzt in der Morgensonne. »Leopard.«

»Wie kannst du dir so sicher sein? Es ist doch nur ein einzelner Tatzenabdruck.«

Clarence malt den Umriss über dem Abdruck in die Luft. »Sehen Sie, das ist die Vorderpfote. Sie ist rund, wie bei einem Leoparden.« Er erhebt sich und lässt den Blick über die Landschaft schweifen. »Und es ist nur ein einzelnes Tier, das heißt, es jagt allein. Ja, das war bestimmt ein Leopard.«

Mr. Matsunaga macht mit seiner riesigen Nikon Fotos von dem Abdruck. Das Teleobjektiv seiner Kamera sieht aus wie ein Raumschiff. Er und seine Frau tragen identische Safarijacken, Kakihosen, Baumwollschals und breitkrempige Hüte. Bis aufs letzte i-Tüpfelchen im Partnerlook. In Touristengebieten rund um die Welt trifft man auf Paare wie dieses, angetan mit identischen, bizarr gemusterten Outfits. Man fragt sich, ob diese Leute eines Morgens aufgewacht sind und sich gedacht haben: Also, heute wollen wir die Leute mal so richtig zum Lachen bringen!

Während die Sonne höher steigt und die Schatten, die diesen Tatzenabdruck so deutlich haben hervortreten lassen, allmählich verblassen, fotografieren die anderen wie wild gegen das immer greller werdende Licht an. Sogar Elliot holt seine Pocketkamera hervor, aber ich vermute, dass er es nur tut, weil alle anderen es auch tun, und er nicht ausgeschlossen sein will.

Ich bin die Einzige, die darauf verzichtet, ihre Kamera zu holen. Richard macht genug Fotos für uns beide, und er benutzt seine Canon, die gleiche Kamera, die auch die Fotografen von National Geographic benutzen! Ich trete in den Schatten, aber selbst hier, wo ich vor der Sonne geschützt bin, spüre ich, wie der Schweiß mir aus den Achseln herabrinnt. Schon jetzt baut sich die Hitze auf. Im Busch gibt es nur heiße Tage.

»Jetzt wisst ihr, warum ich euch immer sage, ihr sollt nachts in euren Zelten bleiben«, sagt Johnny Posthumus.

Ich habe gar nicht bemerkt, dass unser Guide vom Fluss zurückgekehrt ist, so lautlos hat er sich genähert. Ich drehe mich um und sehe Johnny direkt hinter mir stehen. Posthumus – so ein makaber klingender Name, aber er hat uns versichert, dass er unter den burischen Siedlern, von denen er abstammt, gar nicht so selten ist. In seinen Gesichtszügen sehe...