Die Falle - Roman

von: Melanie Raabe

btb, 2015

ISBN: 9783641136963 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Falle - Roman


 

3

Am nächsten Morgen klettere ich aus den Trümmern hervor und setze mich Stück für Stück wieder zusammen.

Mein Name ist Linda Conrads. Ich bin Autorin. Ich diszipliniere mich jedes Jahr dazu, ein Buch zu schreiben. Meine Bücher sind sehr erfolgreich. Ich bin wohlhabend. Oder besser: Ich habe Geld.

Ich bin 38 Jahre alt. Ich bin krank. Die Medien spekulieren über eine mysteriöse Krankheit, die es mir verbietet, mich frei zu bewegen. Ich habe mein Haus seit über einer Dekade nicht mehr verlassen.

Ich habe Familie. Oder besser: Ich habe Eltern. Ich habe meine Eltern seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Sie besuchen mich nicht. Ich kann sie nicht besuchen. Wir telefonieren selten.

Es gibt etwas, woran ich nicht gerne denke. Allerdings ist es mir unmöglich, nicht daran zu denken. Es hat mit meiner Schwester zu tun. Es ist schon lange her. Ich habe meine Schwester geliebt. Meine Schwester hieß Anna. Meine Schwester ist tot. Meine Schwester war drei Jahre jünger als ich. Meine Schwester ist vor zwölf Jahren gestorben. Meine Schwester ist nicht einfach gestorben. Meine Schwester wurde ermordet. Vor zwölf Jahren ist meine Schwester ermordet worden, und ich habe sie gefunden. Ich habe ihren Mörder flüchten sehen. Ich habe das Gesicht des Mörders gesehen. Der Mörder war ein Mann. Der Mörder wandte mir das Gesicht zu, dann lief der Mörder davon. Ich weiß nicht, warum er davonlief. Ich weiß nicht, warum er mich nicht angegriffen hat. Ich weiß nur, dass meine Schwester tot ist und ich nicht.

Meine Therapeutin bezeichnet mich als hochgradig traumatisiert.

Das ist mein Leben, das bin ich. Ich will eigentlich nicht daran denken.

Ich rappele mich hoch, schwinge die Beine über die Bettkante, stehe auf. Jedenfalls habe ich das vor, aber in Wahrheit rühre ich mich keinen Zentimeter. Ich frage mich, ob ich gelähmt bin. Ich habe keine Kraft in Armen und Beinen. Ich versuche es noch einmal, aber es ist, als kämen die schwachen Befehle meines Gehirns nicht bei meinen Gliedmaßen an. Vielleicht ist es in Ordnung, wenn ich einen Augenblick hier liegen bleibe. Es ist Morgen, aber es ist ja nicht so, als warte etwas auf mich außer meinem leeren Haus. Ich gebe die Anstrengung auf. Mein Körper fühlt sich seltsam schwer an. Ich liege ein bisschen, aber ich schlafe nicht wieder ein. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, die auf dem hölzernen Nachttischschränkchen neben dem Bett steht, sind sechs Stunden vergangen. Das wundert mich, das ist nicht gut. Je schneller die Zeit vergeht, desto schneller kommt die Nacht, und ich fürchte die Nacht, all der Lampen in meinem Haus zum Trotz. Nach mehreren Anläufen bringe ich meinen Körper doch noch dazu, ins Badezimmer zu gehen und dann die Treppe ins Erdgeschoss hinunterzusteigen. Eine Expedition ans andere Ende der Welt. Bukowski saust mir glücklich entgegen, schwanzwedelnd. Ich füttere ihn, fülle sein Schälchen mit Wasser, lasse ihn hinaus, ein bisschen herumtoben. Sehe ihm durch die Scheibe hindurch zu, erinnere mich, dass es mich normalerweise glücklich macht, ihm beim Rennen und Spielen zuzusehen, aber ich fühle nichts. Ich will nur, dass er schnell zurückkommt heute, damit ich wieder ins Bett kann. Ich pfeife nach ihm, er ist ein kleines, hüpfendes Pünktchen am Waldrand. Wenn er nicht freiwillig zurückkäme, könnte ich nichts tun. Aber er kommt immer zurück. Zu mir, in meine kleine Welt. Auch heute. Er springt mich an, fordert mich zum Spielen auf, aber ich kann nicht. Er gibt auf, enttäuscht.

Es tut mir leid, Kumpel.

Er rollt sich an seinem Lieblingsplatz in der Küche zusammen und blickt mich traurig an. Ich drehe mich um, gehe in mein Schlafzimmer. Dort lege ich mich sofort wieder ins Bett, ich fühle mich schwach, durchlässig.

Vor der Dunkelheit, vor meinem Rückzug, als ich stark war und in der wirklichen Welt gelebt habe, habe ich mich nur dann so gefühlt, wenn eine schwere Grippe im Anmarsch war. Aber ich bekomme keine Grippe. Ich bekomme eine Depression – wie immer, wenn ich an Anna und die Geschehnisse von damals denken muss, die ich normalerweise so sorgsam ausblende.

So lange habe ich es geschafft, ruhig vor mich hin zu leben und jeden Gedanken an meine Schwester zu unterdrücken. Aber jetzt ist alles wieder da. Und so lange es auch her sein mag – die Wunde hat sich nicht geschlossen. Die Zeit ist ein Quacksalber.

Ich weiß, dass ich etwas unternehmen sollte, bevor es zu spät ist, bevor ich vollends in den Mahlstrom der Depression gerate, der mich hinabzieht in die Schwärze. Ich weiß, dass ich mit einem Arzt sprechen, mir vielleicht etwas verschreiben lassen sollte, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen. Die Kraftanstrengung erscheint mir irrsinnig groß. Und letztlich ist es ja auch egal. Dann habe ich eben eine Depression. Ich könnte für immer hier im Bett bleiben. Welchen Unterschied machte es? Wenn ich das Haus nicht verlassen kann, warum sollte ich dann jemals wieder dieses Schlafzimmer verlassen müssen? Oder dieses Bett? Oder die Stelle, an der ich gerade liege? Der Tag geht, und die Nacht nimmt seinen Platz ein.

Ich denke daran, dass ich jemanden anrufen könnte. Norbert vielleicht. Er würde kommen. Er ist nicht nur mein Verleger, wir sind Freunde. Wenn ich die Muskeln in meinem Gesicht bewegen könnte, würde ich beim Gedanken an Norbert schmunzeln. Ich denke an unser letztes Treffen. Wir saßen in der Küche, ich habe uns Spaghetti mit selbst gemachter Bolognese-Sauce gekocht, und Norbert hat mir von seinem Urlaub in Südfrankreich erzählt, von Begebenheiten aus dem Verlag, von den neuesten Verrücktheiten seiner Frau. Norbert ist wunderbar, laut, lustig, voller Geschichten. Er hat das beste Lachen der Welt. Das beste Lachen beider Welten, um genau zu sein.

Norbert nennt mich seine Extremophile. Als er es zum ersten Mal zu mir gesagt hat, musste ich es googeln. Und staunen darüber, wie recht er hat. Extremophile sind Organismen, die sich extremen Bedingungen angepasst haben und so in eigentlich lebensfeindlichen Umgebungen überleben können. In enormer Hitze oder extremer Kälte. In völliger Dunkelheit. In verstrahlter Umgebung. In Säure. Oder eben, und das meint wohl Norbert, in fast kompletter Isolation. Extremophil. Ich mag das Wort, und ich mag es, wenn er mich so nennt. Es klingt, als hätte ich mir das alles hier selbst ausgesucht. Als würde ich es lieben, auf diese extreme Art zu leben. Als hätte ich irgendeine Wahl.

Momentan habe ich nur die Wahl, ob ich auf der linken oder der rechten Seite, auf dem Bauch oder auf dem Rücken liegen möchte. Ein Tag vergeht oder zwei. Ich gebe mir größte Mühe, an gar nichts zu denken. Irgendwann stehe ich auf, trete an die Bücherregale, die die breiten Wände meines Schlafzimmers säumen, ziehe ein paar Bände heraus, drapiere sie auf meinem Bett, lege mein liebstes Billie-Holiday-Album in Endlosschleife auf und schlüpfe wieder unter die Decke. Ich höre, blättere und lese, bis meine Augen schmerzen und die Musik mich ganz aufgeweicht hat wie heißes Badewasser. Ich mag nicht mehr lesen, ich würde gerne einen Film sehen, aber ich traue mich nicht, den Fernseher einzuschalten. Ich traue mich einfach nicht.

Als ich Schritte höre, schrecke ich hoch. Billie singt nicht mehr, ich habe ihre traurige Stimme irgendwann mit Hilfe einer meiner dutzend Fernbedienungen zum Schweigen gebracht. Wer ist da? Es ist mitten in der Nacht. Warum schlägt mein Hund nicht an? Ich möchte mich hochrappeln, nach etwas greifen, womit ich mich verteidigen kann, mich verstecken, irgendetwas tun, aber ich bleibe einfach liegen, mit rasendem Atem, weit offenen Augen. Jemand klopft. Ich sage nichts.

»Hallo?«, ruft eine Stimme, ich kenne sie nicht.

Und dann wieder: »Hallo? Sind Sie da drin?«

Die Tür öffnet sich, ich wimmere, meine kraftlose Version eines Schreis. Es ist Charlotte, meine Assistentin. Natürlich kenne ich ihre Stimme, es war nur meine Angst, die sie so seltsam verzerrt hat. Charlotte kommt zweimal die Woche, kauft für mich ein, bringt meine Briefe zur Post, tut, was zu tun ist. Meine bezahlte Verbindung zur Außenwelt. Nun steht sie unschlüssig im Türrahmen.

»Ist alles in Ordnung?«

Meine Gedanken sortieren sich neu. Es kann nicht Nacht sein, wenn Charlotte hier ist. Ich muss sehr lange im Bett gelegen haben.

»Sorry, dass ich einfach so reingekommen bin, aber als Sie auf mein Klingeln nicht reagiert haben, habe ich mir Sorgen gemacht und aufgeschlossen.«

Klingeln? Ich erinnere mich an ein Geräusch, das in einen meiner Träume gedrungen ist. Ich träume wieder, nach all den Jahren!

»Ich fühle mich ein wenig krank«, sage ich. »Ich habe fest geschlafen und die Klingel nicht gehört. Verzeihen Sie.«

Ich schäme mich ein bisschen, schaffe es noch nicht einmal, mich aufzusetzen, bleibe einfach so liegen. Charlotte wirkt beunruhigt, dabei ist sie nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Genau deswegen habe ich sie mir ausgesucht. Charlotte ist jünger als ich, vielleicht Ende zwanzig. Sie hat eine Menge Jobs, kellnert in mehreren Cafés, arbeitet irgendwo in der Stadt an einer Kinokasse – solche Dinge. Und zweimal wöchentlich kommt sie zu mir. Ich mag Charlotte. Ihre kurzen, blauschwarz gefärbten Haare, ihre robuste Gestalt, ihre kunterbunten Tattoos, ihren dreckigen Humor, die Geschichten von ihrem kleinen Sohn. Dem Satansbraten, wie sie sagt.

Wenn Charlotte nervös wirkt, dann muss ich schlimm aussehen.

»Brauchen Sie was? Aus der Apotheke oder so?«

»Danke, ich habe alles, was ich benötige, im Haus«, sage ich.

Ich klinge komisch, wie ein Roboter, das merke...