Das Spiel des Poeten - Commissario Montalbano liest zwischen den Zeilen

von: Andrea Camilleri

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732505999 , 270 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Spiel des Poeten - Commissario Montalbano liest zwischen den Zeilen


 

Eins


Gregorio Palmisano und seine Schwester Caterina waren seit ihrer frühesten Jugend eifrige Kirchgänger, das wusste jeder in der Stadt. Sie versäumten weder die Morgen- noch die Abendandacht, keine Messe und keine Vesper, und manchmal gingen sie auch ohne besonderen Anlass in die Kirche, einfach nur weil sie Lust dazu hatten. Der zarte Weihrauchduft, der nach der Messe in der Luft lag, und der Geruch von Kerzenwachs waren für die Palmisanos verführerischer als das Aroma von Hackfleischsauce für jemanden, der seit zwei Wochen nichts gegessen hat.

An ihrem Stammplatz in der vordersten Bank knieten sie im Gebet, ohne allerdings den Kopf zu senken. Ihre Blicke galten aber weder dem großen Kruzifix über dem Hauptaltar noch der schmerzensreichen Mutter Jesu am Fuß des Kreuzes. Vielmehr hielten sie sie auf den Pfarrer gerichtet und verfolgten aufmerksam jede seiner Bewegungen: wie er das Evangeliar umblätterte, den Segen spendete, beim Dominus vobiscum die Arme ausbreitete und mit dem Ite, missa est die Gemeinde entließ.

Am liebsten wären die beiden selbst an die Stelle des Priesters getreten, hätten sich Messgewand, Stola und Paramente übergeworfen, das Tabernakeltürchen geöffnet, den silbernen Kelch herausgenommen und die Kommunion an die Gläubigen ausgeteilt. Vor allem Caterina.

Als sie ihrer Mutter Matilde einmal verriet, was sie später werden wolle, hatte diese sie korrigiert:

»Du meinst, Nonne.«

»Nein, Mama, Pfarrer.«

»Ach! Und warum willst du Pfarrer werden und nicht Nonne?«, hatte Signora Matilde belustigt gefragt.

»Weil der Pfarrer die Messe liest und die Nonne nicht.«

Stattdessen mussten die beiden Kinder ihrem Vater in seinem Lebensmittelgroßhandel helfen, der sich über drei Lagerhallen erstreckte.

Nach dem Tod ihrer Eltern änderten Gregorio und Caterina das Sortiment. Statt mit Nudeln, Dosentomaten und Stockfisch handelten sie fortan mit Antiquitäten. Gregorio besorgte die Objekte, indem er die ältesten Kirchen der Umgebung und halbverfallene Wohnsitze verarmter Adliger abklapperte. Eines der drei Lager war bis unters Dach mit Kruzifixen aller Art gefüllt, angefangen bei kleinen Kreuzen, die man sich an einer Kette um den Hals hängen konnte, bis zu Wandkreuzen mit lebensgroßer Christusfigur. Es gab auch drei oder vier identische, schlichte Kreuze ohne Korpus, die riesig und sehr schwer waren und dazu bestimmt, bei der Karfreitagsprozession von einem Büßer auf der Schulter getragen zu werden, während finstere römische Zenturionen ihn mit Peitschenhieben traktierten.

Als Gregorio siebzig und Caterina achtundsechzig Jahre alt waren, verkauften sie die drei Lager, allerdings nicht ohne einen Teil der Waren eines Nachts in ihre Wohnung im obersten Stock eines Hauses neben dem Rathaus zu verfrachten. Die Wohnung verfügte über sechs geräumige Zimmer und eine nie genutzte Terrasse und war viel zu groß für zwei unverheiratete Geschwister, die nicht einmal Neffen oder Nichten hatten.

Von dem Moment an, da sie ohne Beschäftigung waren, verstärkten sich ihre religiösen Marotten. Sie verließen die Wohnung nur noch , um zur Kirche zu gehen, Seite an Seite, mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf und ohne einen Gruß zu erwidern. Danach verbarrikadierten sie sich wieder in ihrer Wohnung, deren Fensterläden stets geschlossen waren, als befänden sich die Bewohner in ewiger Trauer.

Die Einkäufe erledigte eine Frau, die seinerzeit die Lagerräume für sie gereinigt hatte. Sie durfte die Wohnung allerdings nie betreten, sondern holte morgens lediglich das Geld unter der Fußmatte hervor. An der Tür war mit einem Reißnagel ein Zettel befestigt, auf dem Caterina ihre Wünsche notiert hatte.

Die vollen Einkaufstüten stellte die Frau vor die Tür, klopfte und rief: »Der Einkauf!« Dann ging sie wieder. Die Geschwister besaßen keinen Fernseher, und als sie noch mit Antiquitäten handelten, hatte niemand sie je in einem Buch oder einer Zeitung blättern sehen. Sie lasen nur das Brevier, wie ein Pfarrer.

Nach zehn Jahren vollzog sich eine Veränderung. Die Palmisanos gingen jetzt gar nicht mehr aus dem Haus, sie besuchten auch die Messe nicht mehr und zeigten sich nie auf einem der drei Balkone, nicht einmal, wenn die Prozession zu Ehren des Schutzheiligen der Stadt vorbeikam.

Ihr einziger Kontakt zur Außenwelt, schriftlich wie mündlich, war die Frau, die für sie einkaufte.

Eines Morgens bemerkten die Leute in Vigàta zwischen dem ersten und dem zweiten Balkon der Palmisanos ein großes weißes Transparent, auf dem in großen Lettern geschrieben stand:

»IHR SÜNDER, TUT BUSSE!«

Eine Woche später hing zwischen dem zweiten und dem dritten Balkon ein weiteres Transparent:

»IHR SÜNDER, WIR WERDEN EUCH BESTRAFEN!!«

Wieder eine Woche später verhüllte ein drittes Spruchband, noch größer als die beiden ersten, die gesamte Brüstung der Terrasse:

»IHR WERDET EURE SÜNDEN MIT DEM LEBEN BEZAHLEN!!!«

Als Montalbano das dritte Spruchband sah, fing er an, sich Sorgen zu machen.

»Das ist ja lächerlich«, meinte Mimì Augello. »Es sind nur zwei arme alte Schwachköpfe mit einem religiösen Tick!«

»Da bin ich mir nicht so sicher!«

»Was macht dich so misstrauisch?«

»Die Ausrufezeichen. Aus einem sind inzwischen drei geworden.«

»Na und?«

»Ein Zeichen, dass sie den Sündern eine Frist setzen. Und das ist die letzte Mahnung.«

»Wer sollen diese Sünder denn überhaupt sein?«

»Wir alle sind Sünder, Mimì, hast du das vergessen? Weißt du, ob Gregorio Palmisano einen Waffenschein hat?«

»Ich seh mal nach.« Kurz darauf kehrte er mit nachdenklicher Miene zurück. »Er hat tatsächlich einen Waffenschein. Den hat er beantragt, als er mit Antiquitäten handelte, und er hat ihn bekommen. Für einen Revolver. Er hat aber auch zwei Jagdgewehre und eine Pistole angemeldet, die seinem Vater gehörten.«

»Fazio soll sich morgen erkundigen, welche Kirche sie immer besucht haben, und dann redest du mal mit dem Pfarrer.«

»Der muss doch das Beichtgeheimnis wahren!«

»Du sollst ihm ja keine Geheimnisse entlocken, sondern ihn einfach nur fragen, welches Stadium ihr Wahn seiner Ansicht nach erreicht hat und ob er die beiden für gefährlich hält oder nicht. Ich rufe in der Zwischenzeit den Bürgermeister an.«

»Warum das denn?«

»Ich will, dass er einen Polizisten zu den Palmisanos schickt, damit sie diese Transparente abhängen.«

Der Gemeindepolizist Landolina wurde abends um sieben bei den Palmisanos vorstellig. Da im Anschluss an die Nachrichten ein Fußballspiel mit der Mannschaft von Palermo übertragen wurde, wollte er die Sache rasch hinter sich bringen, nach Hause gehen, zu Abend essen und es sich in seinem Sessel gemütlich machen.

Er klopfte an die Tür, aber niemand öffnete. Da Landolina nicht nur starrköpfig und gewissenhaft war, sondern auch keine Zeit verlieren wollte, klopfte er nicht nur heftig, mit der geballten Faust, sondern trat auch mit dem Fuß gegen die Tür, bis die Stimme eines alten Mannes zu hören war:

»Wer ist da?«

»Gemeindepolizei! Machen Sie auf!«

»Nein.«

»Öffnen Sie sofort die Tür!«

»Verschwinde, Schutzmann, es ist besser für dich!«

»Lassen Sie die Drohungen sein und machen Sie auf. Und zwar sofort!«

Gregorio ließ die Drohungen sein und gab durch die geschlossene Tür einen Schuss ab.

Die Kugel streifte Landolina am Kopf. Er drehte sich auf dem Absatz um und nahm Reißaus.

Als er auf die Hauptstraße hinaustrat, sah er, wie die Leute schreiend und jammernd, fluchend und betend auseinanderstoben. Gregorio und Caterina hatten von zwei Balkonen aus angefangen, auf Passanten zu schießen.

Damit begann die Belagerung der kleinen Festung der Palmisanos durch die Ordnungskräfte – in Gestalt von Montalbano, Augello, Fazio, Gallo und Galluzzo. Die zahlreichen Schaulustigen wurden von Gemeindepolizisten auf Distanz gehalten. Nach einer Stunde tauchten auch die Journalisten der lokalen Zeitungen und Fernsehsender auf.

Als gegen zehn Uhr abends auch der Versuch des Pfarrers gescheitert war, seine ehemaligen Schäflein per Megaphon zur Kapitulation zu überreden, beschloss Montalbano, die kleine Festung zu stürmen. Er schickte Fazio los, um die Örtlichkeiten zu erkunden. Nach einer Stunde gewissenhafter Begehung kam Fazio zurück und berichtete, es sei nichts zu machen, man könne von keiner Wohnung aus auf das Dach oder in die Nähe der Terrasse gelangen.

Daraufhin zückte der Commissario sein Mobiltelefon und rief Catarella an.

»Ruf sofort die Feuerwehr von Montelusa …«

»Wo brennt’s denn, Dottori?«

»Lass mich ausreden! Sag ihnen, sie sollen sofort hierherkommen, mit einer Drehleiter, die bis zum fünften Stock reicht.«

»Dann brennt’s also im fünften Stock.«

»Es brennt überhaupt nicht!«

»Wozu brauchen Sie dann die Feuerwehr?«, fragte Catarella mit lupenreiner Logik.

Montalbano stieß einen Fluch aus und beendete die Verbindung. Dann wählte er die Nummer der Feuerwehr, nannte seinen Namen und Dienstgrad und erklärte sein Anliegen. Der Mann in der Einsatzzentrale fragte:

»Jetzt gleich?«

»Selbstverständlich!«

»Unsere Drehleitern sind im Moment beide im Einsatz. Wir könnten damit in – sagen wir – einer Stunde in Vigàta sein. Der Scheinwerfer ist kein Problem, den kann ich sofort rüberschicken.«

Das Sofort entpuppte...