Der Totenzeichner - Thriller

von: Veit Etzold

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732506736 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Totenzeichner - Thriller


 

Prolog


Los Angeles

Es war Sommer in der Stadt der Engel. Die Männer vom Los Angeles Police Department, kurz LAPD, nannten diesen Sommer des Jahres 2004 den »Blutsommer«. Die Presse war als Erste auf diesen Namen gekommen, und die Einsatzkräfte hatten ihn weiter verwendet, denn er passte sehr gut.

Blutsommer 2004.

Ein brutaler Killer hatte diesem Sommer seinen blutigen Stempel aufgeprägt. Die Ermittler hatten diesen Psychopathen noch immer nicht geschnappt. Und wie es aussah, hatte er soeben wieder zugeschlagen.

Los Angeles, dachte Detective Brooks. Stadt der Engel.

Brooks verzog das Gesicht. Es wusste beim besten Willen nicht, was dieser verkommene, oberflächliche, kranke, abartige Haufen Schmutz von einer Stadt mit Engeln zu tun haben könnte, dazu fehlte Brooks seit Jahren die Fantasie. Himmlische Zustände herrschten hier nicht, ganz im Gegenteil.

Brooks war seit zwanzig Jahren beim LAPD und hatte in seiner Karriere schon einiges gesehen. Schlimme Dinge. Albtraumhafte Bilder. Hunderte von Opfern, von denen die meisten erschossen worden waren. Eine Kugel ins Herz. Oder in den Kopf. Oder beides.

Los Angeles, dachte er wieder einmal. Stadt der Engel. Dass ich nicht lache.

Brooks fragte sich oft, warum er überhaupt noch hier war. Warum er nicht endlich verschwand. L. A. war ein von der Sonne beschienenes Grab, ein Ort, wo man verwesen konnte, ohne dass jemand es bemerkte. Manche merkten es nicht einmal selbst. Sie verwesten bei lebendigem Leibe und wussten nichts davon.

Fast achtzehn Millionen Einwohner lebten im Großraum Los Angeles, dem riesigen Moloch, der sich Jahr für Jahr einen Kilometer weiter in die Wüste fraß, bis er irgendwann Las Vegas erreichen würde und zwei verfluchte Städte endlich verschmolzen wären. Dann hatte ein rachsüchtiger Gott es einen fernen Tages einfacher, sie vom Antlitz der Erde zu tilgen.

Bei Sodom und Gomorrha, dachte Brooks, musste Gott zweimal zuschlagen. Bei L. A. und Las Vegas reicht es womöglich, wenn er einmal hinlangt. Hoffen wir’s.

Los Angeles lag auf der berühmt-berüchtigten San-Andreas-Spalte, einer geologisch instabilen Verwerfungszone. Seit 1800 war die Stadt von neun großen Erdbeben heimgesucht worden, aber totzukriegen war sie nicht. Hier gab es die meisten Verbrechen, die meisten Geistesgestörten, den meisten Smog und die schießwütigsten Cops, wobei Letzteres nur eine Reaktion auf die Umstände war. Das beste Wetter gab es hier auch, könnte man hinzufügen, die Sonne Kaliforniens. Über nasskalte Tage konnte man sich in L. A. selten beklagen, eher über zu viel Hitze, die besonders dann unappetitlich wurde, wenn eine verwesende Leiche in einem Zimmer lag und die Klimaanlage ausgefallen war.

So wie der Tote, den sie an diesem Tag fanden.

Brooks hatte vor einer Viertelstunde den Anruf erhalten, und gemeinsam mit fünf Officers des LAPD hatte er die Tür des großen Hauses aufgebrochen.

»Warum ist es hier so dunkel?«, fragte Brooks nun.

Die Strahlen starker Taschenlampen zuckten durch den Eingangsflur, tasteten sich durch die Dunkelheit, während die Männer jede Sekunde darauf gefasst waren, auf etwas Furchtbares, Abscheuliches zu stoßen.

»Jemand hat die Sicherung rausgerissen. Deshalb geht auch die Klimaanlage nicht.« Einer der Officers zuckte die Schultern. »Vorher hat er noch die Jalousien runtergelassen.«

Es war eine bizarre Situation. Draußen schien die kalifornische Sonne von einem azurblauen Himmel, hier drin herrschte tintenschwarze Nacht. Außerdem war es brütend heiß, die Luft dumpf und schwül und drückend, weil die Klimaanlage keinen Strom mehr bekam. Mit anderen Worten: Alles war so, wie Kalifornien und diese Stadt immer schon waren. Die düsteren Seiten Hollywoods, die Hippies, die Satanisten, die Serienkiller. Glänzende Oberfläche, pechschwarze Seele.

Brooks und die Officers bewegten sich langsam weiter ins Haus. Fliegenschwärme stoben auf und surrten in sämtliche Richtungen davon, als die Männer mit ihren Taschenlampen näherkamen.

Fliegen. Sie waren immer da, wo es Tote gab. Sie legten ihre Eier auf die Leichen, aus denen Fliegenmaden schlüpften, die das tote Fleisch fraßen und wuchsen, bis sie sich verpuppten. Aus diesen Puppen kamen neue Fliegen, und die legten ihre Eier auf dieselbe Leiche. Oder auf neue Leichen. Denn in L. A. gab es daran bestimmt keinen Mangel.

»Hier!«, rief plötzlich einer der Officers. Und dann: »Oh Gott.«

Der Tote lag auf dem Boden, Arme und Beine ausgestreckt. Im Brustkorb ein gähnendes schwarzes Loch, dunkler noch als die Finsternis dieser Wohnung.

»Er hat ihm das Herz rausgerissen«, stellte der Rechtsmediziner mit professioneller Sachlichkeit fest und leuchtete auf den Oberkörper des jungen Mannes. Durchgeschnittene Rippen ragten spitz aus der klaffenden, klebrig-roten Öffnung.

Der Rechtsmediziner stakste in seinem Papieranzug und den Papierüberschuhen vorsichtig über den blutroten Fußboden, wobei er hin und wieder ein Foto schoss. Die Rechtsmedizin von L. A., das Los Angeles County Coroner’s Office, war weltberühmt – nicht erst, seitdem der damalige Chef, Thomas Noguchi, sein Schweigen gebrochen und zwei Bücher über seine berühmtesten Fälle veröffentlicht hatte, zu denen Marilyn Monroe, James Belushi, Robert Kennedy und Sharon Tate gehörten, die 1969 von der berüchtigten Manson Family massakriert worden war.

»Das ist doch … verdammt«, fluchte der Rechtsmediziner.

»Was denn?«, fragte Brooks.

»Hier, schauen Sie sich das an. Ist das ein Hund?«

Es war ein Hund. Das, was davon übrig war.

Der Hund lag neben der Männerleiche. Vielleicht war das Tier abgerichtet gewesen. Ein Kampfhund. Doch wie es aussah, nicht kampferprobt genug. Der offenbar perverse Killer hatte den Hund nicht nur getötet, er hatte ihm Kopf sowie Vorder- und Hinterläufe abgeschnitten und sie neben die Gliedmaßen des Mannes auf den Boden gelegt. Eine Vorderpfote neben den Arm, eine Hinterpfote neben das Bein. Den Kopf des Hundes hatte er auf den Kopf der Leiche platziert, sodass die Ermittler das Blut des Tieres vom Kopf des Menschen wischen mussten, um eine erste Identifizierung vornehmen zu können.

»Du lieber Himmel, er ist es«, stieß der Rechtsmediziner hervor.

»Wer?«, fragte Brooks. Obwohl einer der Coroners das Gesicht des Toten saubergewischt hatte, fehlte ihm das Vorstellungsvermögen, um inmitten dieser stickigen, stinkenden Dunkelheit in diesem von Menschen- und Hundeblut verschmierten Gesicht einen Mann zu erkennen, den er kannte. Oder kennen sollte.

Der Rechtsmediziner schien Brooks’ Gedanken erraten zu haben und leuchtete mit der Taschenlampe auf das Gesicht des Toten. »Vincent Calitri«, sagte er.

»Heilige Hölle«, flüsterte Brooks. »Vincent Calitri?« Den sollte er nicht nur kennen, den kannte er.

»Sieht so aus.«

Vincent Calitri war nicht irgendwer. Er war der Sohn von David Calitri, und der wiederum war Brooks’ Boss. Der Ober-Ober-Boss. Der Chief of Police des LAPD.

Das hier war sein Haus.

Und der Tote war sein Sohn.

Und dieser Sohn war regelrecht geschlachtet worden.

»Er hat ihn im Haus seines Vaters umgebracht?«, fragte Brooks. »Oder wohnte der Junge noch hier?«

»Nein«, sagte einer der Officers, »er wohnte mit seiner Freundin ein paar Blocks weiter.« Er trat an die Leiche heran. »Entweder hat der Killer ihn hier vor Ort umgebracht, oder er hat ihn irgendwo anders getötet und die Leiche dann hierher gebracht.«

»Und der Hund?«

»Den Hund offenbar auch.«

»Ja, das sehe ich«, sagte Brooks. »Findet so schnell wie möglich raus, ob der Junge und sein Kläffer hier getötet wurden oder woanders – falls man es herausfinden kann. Und schickt sofort ein Team zur Wohnung von Calitri. Und sucht seine Freundin!«

»Sind schon dabei.«

»Was ist das?« Brooks’ Taschenlampe bewegte sich in langsamen Kreisen über den Oberkörper des Mannes und die Oberarme. Überall Wunden. Schnittwunden mit eigenartigen Mustern. Brooks wandte sich an den Rechtsmediziner. »Hat der Killer ihm diese Symbole ins Fleisch geschnitten?«

Der Mediziner zuckte die Schultern. »Wer sollte es sonst gewesen sein? Vielleicht hat er ihn gefoltert und dann umgebracht.«

»Aber wieso?«, fragte Brooks. »Das hier ist Downtown L. A. Ein besseres Viertel, nicht das beschissene Compton.«

Compton war ein Vorort von Los Angeles, in den USA auch »Hauptstadt der Morde« genannt. Gerade erst war Compton die zweifelhafte Ehre zuteil geworden, die bisherige Mord-Hauptstadt New Orleans überholt zu haben. Neben Smog stieg in Compton eine Menge Pulverdampf in die Luft.

Es könnte überall passieren, aber es passiert in Compton, sagte man beim LAPD.

»War es vielleicht eine von den Gangs?«, fragte der Rechtsmediziner. »Bloods, Sharks und wie die alle heißen? Wenn denen die Munition ausgeht, und es ist noch ein Gegner übrig, wird er mit dem Gewehrkolben erschlagen. War es hier auch so?«

Möglich war es. Nur war hier nicht Compton, sondern Downtown L. A., wo dreimal so viele Polizisten auf der Straße waren und so etwas trotzdem geschah. Und dann auch noch im Haus des Polizeichefs. Brooks mochte gar nicht daran denken.

»Meinen Sie, das war eine Racheaktion?«, fragte einer der Officers.

Brooks zuckte die Schultern. »Kann ich noch nicht sagen. Die Beweislage ist noch viel zu dürftig.« Er tastete mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe über die Wände. »Jesus Christus!«, stieß er so unvermittelt hervor, dass die anderen...