Das andere Tier - Ratamo ermittelt Thriller

von: Taavi Soininvaara

Aufbau Verlag, 2014

ISBN: 9783841208279 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 9,99 EUR

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Das andere Tier - Ratamo ermittelt Thriller


 

1


Montag, 26. August

Ich fahre den VW-Käfer von der Vihdintie auf die Zufahrt zum Ring III und merke, wie der Regen zum Schneetreiben wird. Und das mit Sommerreifen. Bis zum Einrichtungshaus in Petikko sind es noch einige Kilometer. Ich erhöhe die Geschwindigkeit vorsichtig auf siebzig, der Asphalt wirkt glatt, ich werfe einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob der Weg frei ist, und lenke den Käfer dann von der Beschleunigungsspur auf den Ring III. Aus den Lautsprechern erklingt J. J. Cales Titel Fate of the fool von seinem fünften Album. Ein Schneeschleier legt sich auf die Straße, alles ist weiß; die Fahrbahn kann man nur erahnen. Das ist seit Jahren der schlimmste Schneesturm, in den ich geraten bin. Die Scheibenwischer laufen auf vollen Touren, der Wind ist so heftig, dass der Käfer schaukelt. Achtzig Stundenkilometer sind anscheinend zu viel, durch die Ritze zwischen Dach und Karosserie weht es eisig herein.

Plötzlich ein gewaltiger, ohrenbetäubender Knall – oh, verdammt. Das Verdeck des Käfers ist weg, der Wind schlägt mir mit voller Wucht ins Gesicht. Ich muss die Lider zusammenkneifen, damit der Schnee nicht in die Augen dringt, wo zum Teufel ist die Straße? Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf den Standstreifen zu lenken, Blinker an und bremsen, verflucht, die Vorderräder blockieren, der Wagen gerät ins Schleudern. Fuß runter von der Bremse, gegensteuern, die Bremse pumpen, jetzt gehorcht er wieder, die Geschwindigkeit lässt nach  ... Herzrasen.

Endlich bleibt das Auto stehen, zum Glück auf dem Standstreifen und nicht auf der Fahrspur, aber die Stelle ist trotzdem gefährlich – direkt neben dem lebhaften Verkehr und bei einer Sicht gleich null. Der Käfer ist in eine Schneewehe gerutscht, wohl oder übel muss ich durch die Tür aussteigen, an der die Autos vorbeirauschen. Ich zucke zusammen, als mir nasser und eiskalter Schneematsch ins Gesicht spritzt, keiner von denen, die vorbeifahren, verringert etwa seine Geschwindigkeit, und Hilfe leistet erst recht niemand. Ich wische mir das Gesicht ab, wende mich dem Käfer zu und fluche, als ich sehe, dass die Halterungen des Stoffdachs versagt haben. Wieder eine teure Reparatur.

Jetzt muss ich den Abschleppdienst und ein Taxi anrufen. Ich stehe zwischen Auto und Straße und will hier weg, und als ich mich dem Verkehr zuwende, sehe ich vor mir eine hohe Metallwand, die mit großer Geschwindigkeit auf mich zurast  – ein Lastzug. Es bleibt keine Zeit, ich muss springen, ein Schritt, noch einer ...

Arto Ratamo wachte auf. Sein Herz schlug heftig. Den Lastzug mit fünfunddreißig Tonnen Ladung, der ihn vor knapp einem Jahr umgefahren hatte, sah er jede Nacht im Traum.

Morgens war es am schwersten. Da drangen all die schlimmen Folgen seines Unfalls stets so intensiv wie damals in sein Bewusstsein, und er war mit seinen Schatten hilflos allein. Ratamo legte die Hand auf die leere Hälfte seines Doppelbetts, dachte aber nicht an seine ehemalige Lebensgefährtin Riitta Kuurma, sondern an sein Kind, dem das Leben versagt geblieben war. Er würde nie erfahren, ob Riitta die Fehlgeburt letztlich wegen des Schocks über die Nachricht von seinem Unfall gehabt hatte. Sie waren erst einige Monate vor dem Unfall wieder zusammengekommen. Den Stolz, Vater zu werden, hatte er nur fünf Tage genießen können. Bei Riitta hatte sich ein Hormonungleichgewicht entwickelt und das Einwachsen der Plazenta verhindert.

Ratamo ächzte und verzog das Gesicht, als er sich zur Bettkante schob und aufrichtete. Er hatte Kopfschmerzen und musste an die mit Whisky hinuntergespülten Biere denken, die er sich am Vorabend zu Ehren des letzten Tages seiner Krankschreibung mit seinem Freund Timo Aalto gegönnt hatte. Sie trafen sich nur noch äußerst selten, seit Himoaalto im Ausland arbeitete und weggezogen war. An den späten Abend erinnerte sich Ratamo nur lückenhaft, leider fiel ihm auch ein, dass er seiner Kollegin Saara Lukkari von der SUPO über den Weg gelaufen war. Blieb nur zu hoffen, dass er keinen absoluten Schwachsinn geredet hatte.

Er nahm vom Nachttisch die Dose mit dem Snus und schob sich zwei Portionen Tabak unter die Oberlippe. Ein Blick auf die Uhr ließ ihn fluchen, als er die Ziffern 08:41 sah, warum zum Teufel hatte er vergessen, den Wecker zu stellen? Die Abschlussuntersuchung bei der Ärztin würde in zwanzig Minuten beginnen. Ratamo erhob sich und richtete den Rücken langsam auf, aus Angst vor einer Welle des Schmerzes. Zuweilen tat das künstliche Hüftgelenk morgens so weh, dass er auf nüchternen Magen Schmerztabletten nehmen und bewegungslos im Bett liegen bleiben musste, bis ihre Wirkung einsetzte. Nötig wäre das jetzt, aber die Zeit dafür fehlte.

Ratamo biss die Zähne zusammen und humpelte nackt zum Medizinschrank im Badezimmer.

»Zieh dir was an, verdammter Idiot!«, kreischte Nelli so laut und schrill, wie es nur ein vierzehnjähriges Mädchen kann, das von seinem Vater halbnackt überrascht wird.

Ratamo musste tief durchatmen, um nicht die Nerven zu verlieren. »So redest du hier nicht. Und auch nicht irgendwo anders.«

»Haha«, erwiderte Nelli ungehalten, sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und zog sich ein T-Shirt über.

»Heute ist Montag, fängt die Schule nicht um acht an?«, fragte Ratamo.

»Ja.«

»Es ist gleich neun.«

»Sag bloß.«

Plötzlich durchfuhr Ratamos Hüfte ein anhaltender stechender Schmerz, der ihn fast in die Knie gehen ließ. Er murmelte ein »Entschuldigung«, schob Nelli vom Medizinschrank weg und suchte aus seiner mittlerweile stattlichen Pillensammlung das Schmerzmedikament heraus, das am schnellsten wirkte. Rasch warf er sich die Tabletten in den Mund und spülte sie mit Wasser runter. Der Mann mit kurzem Haar und unrasiertem Kinn, der ihn im Spiegel anstarrte, sah deutlich älter aus als zweiundvierzig. Er war längst nicht mehr der junge Arzt, schlank und rank, dem einst beim Praktikum in einer Poliklinik die Omas hinterhergeschaut hatten.

»Wenn man wenigstens ein eigenes Klo hätte«, murrte Nelli beim Hinausgehen.

Zum Glück kam das Mädchen nach ihm, sie beruhigte sich genauso schnell wieder, wie sie sich aufregte, dachte Ratamo, während er sich anzog. Aus Nelli war ein ganz normaler Teenager geworden, aufbrausend und rebellisch. Aber immerhin nahm sie keine Drogen und verprügelte keine alten Leute auf dem Narinkkatori im Zentrum. Das war schon ganz gut für ein Mädchen, das mit sechs Jahren seine Mutter verloren hatte und dessen Vater halt so war, wie er war. Ratamo empfand Stolz, in jedem Fall war Nelli das Beste, was er in seinem Leben zustande gebracht hatte. Das Lernen fiel ihr leicht, sie war in der Schule erfolgreich und hatte von klein auf, ohne dass man sie dazu drängen musste, viele der ungeschriebenen Regeln des Lebens verstanden. Wie zum Beispiel die, dass man keine Klamotten trug, die zwei Nummern zu klein waren, wie manche ihrer Freundinnen.

Ratamo ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Sein Blick fiel auf eine Bierflasche. Das Frühstück ist der wichtigste Drink des Tages, dachte er, begnügte sich dann jedoch mit einem Obstsaft. Er stellte einen Literkarton Joghurt auf den Tisch, legte Müsli, Käse, eine Tomate, Butter und eine Packung Aufschnitt daneben, knallte die Kühlschranktür zu und holte aus dem Brotkasten die Tüte mit Roggenbrot. Ohne seine Tochter und seine Arbeit wäre er nur eine leere Hülle, dachte Ratamo.

»Das Frühstück steht auf dem Tisch!«, rief er im Gehen.

* * *

Arto Ratamo stellte seinen Käfer im Forum-Parkhaus ab und lief, so schnell er konnte, den Verbindungsgang entlang zum Fahrstuhl, der ihn hinauf zum Kukontori bringen sollte. Er kam eine Viertelstunde zu spät und hätte rennen müssen, aber die Titanhüfte erlaubte ihm lediglich, zügig zu gehen, und auch das nur mit zusammengebissenen Zähnen. Im Fahrstuhl drückte er auf den Knopf neben dem Schild »Mehiläinen. Dienstleistungen für die Arbeitswelt. Außenstelle am Kukontori« und überlegte, wie oft er schon bei der Arbeitsmedizinerin gewesen war und seine Hüfte vorgezeigt hatte. Zum Glück befand er sich auf dem Wege der Genesung nun schon auf der Zielgeraden. Nach der Operation war er nahe daran gewesen durchzudrehen: endlos lange auf dem Rücken liegen, Gymnastikprogramme, Aufsteh- und Gehübungen, fast täglich bei der Physiotherapeutin antanzen müssen ... Auch für zu Hause hatte man ihm Übungen verordnet; vielleicht ginge es ihm schon wieder besser, wenn er sie irgendwann probiert hätte.

Ratamo traf im Empfangsbereich des Ärztezentrums in der sechsten Etage ein. Die SUPO sicherte ihre betriebliche Gesundheitsversorgung heutzutage über ein privates Unternehmen für Gesundheitsdienstleistungen ab, das dafür bezahlt wurde. Ratamo blieb am Tresen stehen, um sich bei der rothaarigen und stark geschminkten jungen Frau anzumelden, mit der er sich beim Warten auf seinen Termin ein paarmal unterhalten hatte. Die Frau lächelte schadenfroh und zeigte mit dem Finger auf eine offene Tür am Ende des Flurs.

Die Fachärztin für Orthopädie und Traumatologie Sirkka Vuori, bekannt als unverbesserlich humorlos, hob den Blick vom Bildschirm, als Ratamo das Zimmer betrat, und schaute dann verärgert auf die Wanduhr. »Du kommst zu spät.«

»Lieber zu spät als schwanger«, witzelte Ratamo.

Sirkka Vuori lächelte nicht. Sie bedeutete Ratamo, neben ihr Platz zu nehmen, und drehte den großen Bildschirm zu ihrem Patienten hin.

»Auf den Röntgenbildern deiner Hüfte von letzter Woche fanden sich keine Überraschungen. Da ist der Oberschenkelteil zu sehen,...