Blinder Feind - Thriller

von: Jeffery Deaver

Blanvalet, 2015

ISBN: 9783641145354 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Blinder Feind - Thriller


 

Sie stand am Fenster der Wohnung in Manhattan und spähte durch einen Schlitz im Vorhang. Ihre Hände zitterten.

»Sehen Sie jemanden?«, fragte der Mann auf der anderen Seite des Zimmers. Seine Stimme klang nervös.

»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht.« Gabriela zog die dicken Stoffbahnen zusammen, als fürchtete sie, jemand könnte die Fenster mit einem Fernglas absuchen. Oder mit dem Zielfernrohr eines Scharfschützengewehrs. Ihre Körperhaltung war angespannt. »Natürlich habe ich vorhin auch niemanden gesehen. Bis es zu spät war.« Sie murmelte erregt vor sich hin. »Ich wünschte, ich hätte eine Waffe. Ich würde sie benutzen. Wenn da jemand ist, ich schwöre bei Gott, ich würde sie benutzen.«

»Aber wer sollte da sein?«, fragte Sam Easton.

Sie wandte sich vom Fenster ab und trat rasch einen Schritt auf ihn zu. »Wer? Es könnte jeder sein. Wie es aussieht, will wirklich alle Welt diese verdammte Oktoberliste haben!«

»Woher sollte jemand wissen, dass Sie hier sind?«

Gabriela lachte bitter. »Ich scheine keinerlei Geheimnisse mehr zu haben.« Sie zögerte, dann spähte sie widerstrebend erneut nach draußen. »Ich kann es einfach nicht sagen. Ich dachte, da wäre jemand. Aber im nächsten Augenblick war er verschwunden. Ich …« Sie flüsterte plötzlich wie von Sinnen: »Der Riegel!«

Sam legte den Kopf schief und sah sie an.

Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen fragte Gabriela: »Habe ich ihn vorgeschoben?« Sie lief rasch aus dem Wohnzimmer in den Flur hinaus und kam einen Augenblick später zurück. »Nein, alles in Ordnung. Es ist abgesperrt.«

Sam nahm nun ihren Platz am Fenster ein und sah hinaus. »Ich sehe Schatten, ich sehe Bewegung. Aber ich bin mir nicht sicher. Könnte eine Person sein, könnte auch nur ein Baum sein, der sich im Wind bewegt. Die verdammte Straßenlaterne vor dem Gebäude brennt nicht.« Er warf Gabriela einen Blick zu. »Hat sie zuvor funktioniert?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Kann sein. Wie könnte jemand eine Straßenlaterne abschalten?«

Sam antwortete nicht. Er entfernte sich ebenfalls von dem Schlitz zwischen den Vorhängen, durchquerte das Zimmer und setzte sich auf einen gepolsterten Lederhocker nicht weit von ihr. Sie hatte zuvor schon bemerkt, dass er gut in Form war, aber nicht so deutlich gesehen, wie schlank seine Hüften, wie breit seine Schultern waren. Sein Sakko und das weiße Hemd spannten über den Muskeln.

»Herrgott, wie ich das hasse!«, tobte Gabriela. »Sarah … was macht sie durch? Was denkt sie? Was …?« Die Stimme versagte ihr. Dann atmete sie langsam aus und ein. »Wie lange noch, glauben Sie, bis wir Bescheid wissen?« Daniel und Andrew waren vor etwa einer halben Stunde aufgebrochen, um Joseph zu treffen.

Sie wischte sich einen Tropfen Blut von der Unterlippe.

»Schwer zu sagen«, antwortete Sam. »Joseph verfolgt seine eigenen Absichten. Als … Er ist in der Position, in der er so ziemlich alles bestimmen kann.«

Gabriela wusste, er hatte »als Entführer« sagen wollen, dann aber offenbar beschlossen, sie nicht weiter dadurch aufzuregen, dass er es aussprach.

Gabriela atmete langsam aus und drückte gegen ihren Brustkorb. Sie stöhnte leise. »Ich hasse diese Warterei.«

»Die beiden kriegen das schon hin«, sagte Sam unbeholfen.

»Ja, meinen Sie?«, fragte sie flüsternd. »Joseph ist ein Verrückter. Unberechenbar. Ich habe keine Ahnung, was er tun wird.«

Schweigen legte sich wie ein Nebel auf den schwach beleuchteten Raum, ein von zwei Fremden erzeugtes Schweigen, die darauf warteten, etwas über das Schicksal eines Kindes zu erfahren.

»Wann genau ist es passiert?«, fragte Sam. Sein Anzug war nicht zugeknöpft, das Hemd, das er ohne Krawatte trug, war gestärkt und glatt wie Spachtelmasse.

»Wann Joseph sie entführt hat?«, fragte Gabriela. Sie scheute sich nicht, das Wort zu benutzen. »Gestern. Samstagvormittag.«

Eine Ewigkeit her. Das war der Ausdruck, der ihr in den Sinn gekommen war, aber sie benutzte ihn nicht vor diesem Mann, den sie erst seit ein paar Stunden kannte.

»Und wie alt ist Sarah?«

»Sechs«, antwortete Gabriela. »Sie ist erst sechs.«

»Großer Gott.« Sams längliches, steintrockenes Gesicht ließ Abscheu erkennen. Er hatte ein Gesicht, das älter war als das der meisten Männer Mitte dreißig. Sein Unterkiefer bebte.

Gabriela nickte, ein Zeichen der Dankbarkeit für die Anteilnahme. »Ich hasse Sonntage«, sagte sie nach einer Pause.

»Ich weiß, was Sie meinen.« Sam ließ den Blick wieder auf ihr ruhen. Die neue schwarze Jeans, die sie auf der Flucht gekauft hatte, während sie mit Daniel durch die Straßen New Yorks gehetzt wurde. Sie saß schlecht. Ein unförmiges, unvorteilhaftes dunkelblaues T-Shirt. Er hatte ihr zerzaustes kastanienbraunes Haar bemerkt und ein hageres Gesicht, dessen Make-up längst durch Tränen zerflossen war. Er ließ den Blick auch über ihre schmalen Hüften und den üppigen Busen wandern, hatte aber erkennbar kein sinnliches Interesse. Wie immer seine Vorlieben oder sein Beziehungsstatus aussehen mögen, dachte Gabriela, ich stehe bestimmt nicht sehr gut da.

Sie stand auf und ging in die Ecke des Zimmers zu einem schwarzen Rucksack, an dem noch das Preisschild baumelte. Sie öffnete ihn, entnahm ihm eine kleinere Sporttasche und holte aus dieser ein Knäuel Strickwolle, ein paar Nadeln und das Teil, an dem sie gerade arbeitete. Die Fäden waren tief grün und blau …

Der Widerhall einer Liedzeile.

Es war eins ihrer Lieblingslieder.

Gabriela setzte sich wieder in den schäbigen purpurnen Plüschsessel in der Mitte des Zimmers. Ihre Augen waren gerötet, ihre Haltung ließ Angst erkennen. Sie hielt die Wolle zwar in den Händen, aber noch begann sie nicht mit der rhythmischen, tröstlichen und so vertrauten Bewegung der roten Stricknadeln. Sie betupfte den Mund mit einem Papiertaschentuch. Betrachtete das Tuch, das weiß wie feinstes Leinen war, aber jetzt rot gefleckt. Die Nagelpolitur an ihren Fingern hatte einen ähnlichen Farbton.

Dann – klapper, klapper, klapper strickte Gabriela fünf Reihen. Sie hustete mehrmals, hielt sich die Seite unterhalb der rechten Brust und schloss kurz die Augen. Sie schmeckte Blut, es schmeckte salzig, bitter, nach Kupfer.

Die Stirn sorgenvoll gefurcht, fragte Sam: »Sollten Sie nicht eine Notaufnahme aufsuchen, wenn es so blutet? Es sieht aus, als wäre es schlimmer geworden.«

Gabriela lachte kurz auf. »Das wäre wahrscheinlich keine gute Idee. Hat Daniel Ihnen nicht gesagt, was heute Nachmittag passiert ist?«

»Ach so, natürlich. Daran habe ich nicht gedacht.«

»Ich werde damit leben müssen, bis ich Sarah zurückhabe. Dann lasse ich alles untersuchen. Höchstwahrscheinlich im Gefängniskrankenhaus.« Ein höhnisches Grinsen begleitete die letzte Bemerkung.

Sie sah sich wieder in dem Apartment um. Als sie vor zwei Stunden mit Daniel eingetroffen war, war sie so in Gedanken gewesen, dass ihr kaum etwas aufgefallen war. Davon abgesehen, dass die Wohnung mit abgenutzten Möbeln vollgestellt war und etwas Provisorisches verströmte, war sie düster, vor allem jetzt in der Dämmerung. Vermutlich war diese Atmosphäre auf die hohen Decken, die kleinen Zimmer und die graue Tapete zurückzuführen, die mit winzigen blassen Blumen bedruckt war. Ihr Blick ging zu dem schmiedeeisernen Kaffeetisch in der Mitte des Zimmers. Mit seinen spitzen Rändern sah er aus wie eine Waffe aus einem Science-Fiction-Film.

Schmerz

Der Tisch machte sie hochnervös. Aber wie so oft in den beiden vergangenen Tagen dachte sie: dein Ziel. Alles, woran du denken solltest, ist dein Ziel.

Sarah. Sarah zu retten ist dein einziges Ziel. Denk daran, denk daran, denk daran.

Sie wandte sich an Sam. »Arbeiten Sie viel mit Daniel?«, fragte sie.

»Wir unterhalten seit fast sieben Jahren eine Beziehung mit ihm und dem Norwalk Fund«, erwiderte Sam.

»Wie viele Leute haben ihm schon gesagt, dass er wie dieser Schauspieler aussieht?« Sie dachte an Freitagabend zurück – konnte es wirklich erst zwei Tage her sein? –, als sie Daniel kennengelernt hatte. Dann dachte sie an später am Abend, an seine feuchte Stirn und darunter die blauen Augen, die zugleich entspannt und intensiv blickten.

»Sehr viele«, sagte Sam und rieb sich den kahlen glänzenden Schädel. »Ich selbst werde nicht oft gefragt, ob ich dieser oder jener Schauspieler bin.« Er lachte. Vielleicht hatte er doch so etwas wie Humor.

»Und der Chef Ihrer Firma, Andrew – wie war sein Nachname gleich noch?«

»Faraday.«

»Ein faszinierender Mann«, sagte Gabriela. »Ich habe noch nie gehört, dass sich jemand auf so etwas spezialisiert.«

»Es gibt nicht viele Unternehmen, die das tun, was wir tun. Er hat sich einen Namen gemacht. Reist überall auf der Welt herum. Fliegt mindestens hunderttausend Meilen im Jahr.«

Sie strickte eine weitere Reihe Blau und Grün. Klapper, klapper.

»Und Ihr Job, Sam?«

»Ich bin jemand, der im Hintergrund wirkt. Der Einsatzleiter des Unternehmens.«

»Wie ich«, sagte sie. »Ich manage das Büro meiner Firma und …« Sie verstummte und stieß ein freudloses Lachen aus. »Ich habe es gemanagt. Bevor das alles passiert ist.« Sie seufzte, tupfte sich erneut den Mund ab und untersuchte das Taschentuch, dann strickte sie weiter, als hätte sie es einfach satt, schlechte Nachrichten zu erhalten. Sie sah Sam...