Die Lüge - Roman

von: Petra Hammesfahr

Diana Verlag, 2014

ISBN: 9783641146375 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Lüge - Roman


 

2. Teil

Susanne Lasko las die Summe in Worten und in Zahlen, und in beiden Fällen wirkte sie gleichermaßen beunruhigend. Die Police war vor sieben Jahren abgeschlossen worden. Vielleicht hatte Nadia nur ihren Mann absichern wollen, weil Michael in der ersten Zeit ihrer Ehe noch nichts verdient hatte.

Inzwischen war sieben Uhr vorbei. Sie fand, sie hätte sich hinlänglich mit allem vertraut gemacht, ging hinunter in die Küche und trank etwas Mineralwasser, um den angesichts der Zahlen staubtrockenen Mund zu befeuchten.

Dann schloss sie die Terrassentüren im Wohnzimmer, verließ das Haus und verschloss auch die Haustür. Der Schlüssel mit der blauen Markierung war der richtige. Sie ging zur Einfahrt, spähte zum schmiedeeisernen Tor gegenüber, ob wieder der große, zottelige Hund auftauchte, tastete dabei hektisch in der Handtasche nach dem Autoschlüssel. Und noch bevor sie feststellen konnte, dass der Schlüssel nicht mehr da war, sah sie den leeren Platz vor der Garage.

Neben dem niedrigen Zaun hockte auf dem Nachbargrundstück der kurz zuvor gestürzte Mann vor dem Herrenrad und polierte mit einem Lappen den dünnen Rahmen auf Hochglanz. Wolfgang Blasting, der Polizist, der zu viel Zeit hatte, sich um die Nachbarschaft zu kümmern. Er richtete sich auf und erkundigte sich: »Ist Doc noch Mäuse melken?« Dabei grinste er breit und irgendwie proletarisch. Es erinnerte sie an Heller und passte nicht in diese Gegend. Das taten auch seine folgenden Worte nicht. »Hat er mir den Schalter herausgelegt?«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Wollte er aber tun«, sagte Wolfgang Blasting. »Sieh mal nach.« Es klang wie ein Kommando und machte sie wütend – auf ihn und auf Nadia. Die hätte jetzt problemlos nach einem Schalter suchen können und nicht grübeln müssen, wie sie von hier wegkommen sollte. Andererseits erlaubte ihr Wolfgang Blastings Verlangen, ins Haus zurückzukehren, ohne Argwohn zu erregen.

Sie schloss die Haustür hinter sich und lehnte sich kurz mit dem Rücken dagegen, wie Michael Trenkler es getan hatte. Dass er gefragt hatte, warum sie nicht reingefahren war, erklärte die Situation vorerst noch auf natürliche Weise. Sie hatte den Alfa Romeo mitten vor dem Tor der Doppelgarage abgestellt und so die Ausfahrt blockiert. Und da er dringend wegmusste, hatte er eben Nadias Auto genommen, ohne großartig um Erlaubnis zu fragen. Unter Eheleuten war das vermutlich normal.

Nach dieser Erkenntnis fiel ihr die Alarmanlage ein. Sie ging zur Garderobe, schob die Lederjacke zur Seite und tippte die Kombination ins Kästchen, die Nadia ihr genannt hatte. Durch das gesamte Haus ging ein metallisches Klicken, das sie durchaus registrierte, aber nicht für gefährlich hielt, weil sonst nichts geschah.

Rasch näherte sie sich der Tür, die von der Diele in die Garage führte. Die war abgeschlossen. Der Schlüssel mit der schwarzen Markierung öffnete sie. Augenblicklich flammten mehrere Neonröhren auf und tauchten den großen Raum in grelles Licht. Ihr Blick fiel auf einen cremefarbenen Jaguar, unverschlossen, wie ein Griff an die Fahrertür zeigte. Der Zündschlüssel steckte, auf dem Beifahrersitz lag die komplizierte Fernbedienung fürs Garagentor.

Nadia hatte sicher nichts dagegen, wenn sie in diesem Wagen zurückkam. Sie warf die Handtasche auf den Sitz, nahm die Fernbedienung und richtete sie auf das geschlossene Tor. Einen Griff, eine Klinke oder sonst etwas Vertrautes schien es nicht zu geben. Zumindest bemerkte sie nichts dergleichen, sah nur den unscheinbaren schwarzen Kasten an der Wand neben dem Tor und das Kabel, das zu einem Motor an der oberen Torkante führte.

Rasch tippte sie die Kombination zum Entriegeln ein, wartete auf das blinkende gelbe Lämpchen, tippte die zweite Kombination, las »ready« und drückte die schwarze Taste unter dem Display. Und obwohl sie sicher war, die Anweisungen exakt befolgt zu haben, rührte sich das Doppeltor um keinen Zentimeter.

Aus einem Grund, den wohl nur der geniale Erfinder von nebenan nachvollziehen konnte, verweigerte die Technik ihren Dienst. Damit schien auch geklärt, warum Michael Trenkler sich noch daheim aufgehalten hatte. Er hatte offenbar darauf gewartet, dass Nadia zurückkam, weil er mit seinem Wagen nicht hinaus auf die Straße konnte. So stellte sich erst gar nicht die Frage, ob sie Joachim Kogler um Hilfe bitten sollte. Auf die Idee war Michael garantiert auch gekommen. Vielleicht hatten Joachim und Lilo Kogler deshalb so aufmerksam zu ihr hingeschaut, um festzustellen, ob es von außen funktionierte, oder um etwas zu erklären, falls es das nicht tat.

Es gab nur eine Lösung: ein Taxi. Geld genug steckte in Nadias Portemonnaie. Sie ging hinauf ins Arbeitszimmer, suchte nach einem Telefonbuch, fand jedoch keins und nahm den Hörer ab, um die Auskunft anzurufen. Doch die Leitung war tot. Wieder und wieder drückte sie auf die Gabel, ohne Erfolg.

Ein erster Anflug von Panik versetzte sie für etliche Sekunden zurück in die Fabrikruine. Aber jetzt waren die Umstände doch entschieden günstiger. Sie war weder schwer verletzt noch orientierungslos. Nebenan hockte ein Polizist in seiner Einfahrt und wartete auf einen Schalter. Auch wenn Wolfgang Blasting ihr mit seinem proletenhaften Grinsen und dem Kommando nicht sympathisch gewesen war, einen besseren Garanten für Sicherheit könne es kaum geben, meinte sie. Das Risiko, ihn anzusprechen und als falsch erkannt zu werden, schien mit einem Mal verschwindend gering. Ein Vorwand, an sein Telefon zu kommen, war auch gegeben. »Ich kann den Schalter nicht finden und muss Michael anrufen. Leider habe ich mein Handy im Auto vergessen, Michael ist mit dem Alfa ins Labor gefahren. Und mit dem Apparat im Haus stimmt etwas nicht. Darf ich kurz dein Telefon benutzen?«

Und für den Fall, dass er ihr sein Handy in die Finger drückte oder sie zum Telefon in seinem Haus begleitete … Auf dem Weg zur Haustür wusste sie noch nicht, mit welcher Lüge sie Wolfgang Blasting veranlassen könnte, sie alleine zu lassen. Doch darüber musste sie auch nicht lange nachdenken. Die Haustür ließ sich nicht mehr öffnen.

Die zweite Panikattacke war entschieden heftiger. Sie war hundertprozentig sicher, die Tür nicht abgeschlossen zu haben, als sie zurück ins Haus geflüchtet war. Deshalb kam sie nicht auf den Gedanken, es mit dem Schlüssel zu probieren. Sie rannte ins Wohnzimmer, riss konfus und ohne Erfolg an den Terrassentüren. Und die Außentüren beim Swimmingpool ließen sich ebenso wenig öffnen wie irgendein Fenster.

Vor ihren Augen flimmerte die Versicherungspolice. Eine Million im Todesfall! In ihrem Hinterkopf wisperte Michael Trenkler etwas von einem Dukatenesel und einem Goldregen, den er nicht brauchte. Sie hatte genug Kriminalfilme gesehen, um sich zu fragen, als was Nadia sie tatsächlich einsetzen wollte, als schmollende Ehefrau in Vertretung oder als passende Leiche? War es deshalb völlig bedeutungslos, wie ihre Stimme klang?

Es dauerte geraume Zeit, ehe ihr das metallische Klicken wieder einfiel und sie zu begreifen glaubte, welchen Fehler sie gemacht hatte. Die Alarmanlage konnte nicht in Betrieb gewesen sein, als sie angekommen war. Sie musste sie ein- statt ausgeschaltet haben, als sie zurück ins Haus geflüchtet war. Zwar war sie sicher, die Zahlenkombination eingetippt zu haben, die Nadia ihr fürs Ausschalten genannt hatte, aber vielleicht war ihr in der Eile ein kleiner Zahlendreher unterlaufen.

Nach dieser Erkenntnis versuchte sie ihr Glück an dem schwarzen Kästchen unter der Lederjacke, tippte langsam und sorgfältig die Zahlen ein. Es rührte sich nichts. Sie probierte es noch mit der Kombination, die von draußen das Garagentor hätte öffnen sollen, die funktionierte auch nicht.

Nun wollte die Panik endgültig die Regie übernehmen. Sie rief sich mit Gewalt zur Ordnung. Es musste eine Möglichkeit geben, aus dieser Bude rauszukommen.

Sie kehrte zurück in die Garage und untersuchte den Kasten an der Wand neben dem Tor. Von außen bot er keine Angriffsfläche, nur einige versenkte Schrauben. Einen Werkraum, in dem die Suche nach einem Schraubendreher gelohnt hätte, hatte sie bei ihrem Rundgang nicht entdeckt. Doch zur Not tat es auch ein Küchenmesser.

Die Schrauben im Kästchen saßen ziemlich fest, gaben aber schließlich nach. Sie zog die Abdeckung herunter und sah sich einem Gewirr von Platinen und dünnen Kabeln gegenüber, die sämtlich in das dicke Kabel mündeten, das zum Motor führte. An einen Stromschlag dachte sie nicht, besorgte sich in der Küche noch ein Messer, diesmal eins mit dünner, spitzer Klinge, und machte sich daran, die winzigen Schrauben in den Kabelverbindungen zu lösen.

Zweimal rutschte sie ab und schnitt sich in die Finger. Ihr Blut verschmierte Kasten, Kabel und Messergriff. Nach zehn Minuten ließ sich der dicke Kabelstrang lösen. Sie trat zur Seite, fasste mit beiden Händen an die untere Torkante, verschmierte auch sie mit ihrem Blut – und sah das Schlüsselloch dicht über dem Boden. Zu beiden Seiten daneben waren Griffmulden eingelassen. Der Schlüssel mit der roten Markierung passte.

Schwankend zwischen grenzenloser Erleichterung und entsetzlicher Scham drehte sie ihn um und hörte im Boden etwas klicken. Das Tor schwang von selbst ein Stück in die Höhe. Und so wäre höchstwahrscheinlich auch die Haustür aufgegangen.

Durch den größer werdenden Spalt lugte sie zu Blastings...