Knochen lügen nie - Ein neuer Fall für Tempe Brennan

von: Kathy Reichs

Blessing, 2015

ISBN: 9783641137892 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Knochen lügen nie - Ein neuer Fall für Tempe Brennan


 

5

In Flugzeugen schlafe ich nicht gut. Glauben Sie mir, ich habe es versucht.

Es war schon mitten am Nachmittag, als ich nach Charlotte zurückkam. Acht, als ich den vorläufigen Bericht über Larabees Kofferraum-Fall abgeschlossen hatte. Zehn, als ich schließlich einen Flug und ein Hotelzimmer gefunden und gebucht hatte.

Nachdem ich mit meiner Nachbarin vereinbart hatte, dass sie sich um meine Katze kümmern würde, packte ich einen kleinen Koffer, duschte und fiel ins Bett.

Mein Hirn wollte sich nicht beruhigen, spuckte immer wieder lose Gedankenfetzen aus.

Kindheitserinnerungen an meine Mutter.

Glückliche Zeiten. Wie sie Harry und mir auf der Gartenschaukel vorlas. Shakespeare und Milton zitierte und andere lange tote Fremde, die wir nicht verstanden. Wie sie kurz vor dem Schlafengehen mit uns im Buick eigentlich nicht erlaubte Ausflüge zur Eisdiele machte.

Traurige Zeiten. Wie wir an Mamas geschlossener Schlafzimmertür lauschten. Verwirrt von den Tränen, dem splitternden Glas. Voller Angst, dass sie herauskommen würde. Voller Angst, dass sie es nicht tun würde.

Erinnerungen an Andrew Ryan. Glückliche Zeiten. Skifahren am Mont-Tremblant in den Laurentian Mountains. Erfolgsfeiern in Hurley’s Irish Pub. Lachen über unseren gemeinsamen Papagei, über Charlies obszönes Geplapper.

Traurige Zeiten. Der Tag, an dem Ryan angeschossen wurde. Der Flugzeugabsturz, der seinen Partner das Leben kostete. Der Abend, an dem wir unsere Beziehung beendeten.

Zweifel wegen meiner bevorstehenden Reise. Würde sie vergeblich sein? Ryans E-Mail war fast einen Monat alt. War er weitergezogen?

Nein. Barrow hatte den Nagel auf den Kopf getroffen mit seiner Frage, ob Ryan mir gegenüber einen besonderen Ort erwähnt hatte. Ich erinnerte mich an seine Bemerkungen. Ryan liebte diesen Ort. Dorthin würde er gehen, um sich zu verstecken. Um sich auszuklinken.

Zweifel wegen meiner Entscheidung, meiner Tochter nichts von Mamas Zustand zu sagen. Katy diente in Afghanistan. Sie hatte mehr als genug am Hals.

Die ganze Nacht warf ich mich herum, Fragen schlitterten meine Nervenbahnen entlang. Zweifel. Ungewissheiten.

Gewissheiten. Luna Finch. Aufsässige Zellen, die sich unkontrolliert vermehrten.

Zum letzten Mal schaute ich um viertel vor drei auf die Uhr. Der Wecker kreischte um fünf.

Der Flug nach Atlanta war kurz gewesen, der Zwischenstopp nur gut eine Stunde. Nicht schlecht. Aber diese letzte Teilstrecke war die reinste Qual.

Ich versuchte zu lesen. Life. Vielleicht ließen Keith Richards’ Probleme ja die meinen klein erscheinen. Taten sie nicht.

Ich klappte das Buch zu und schloss die Augen.

Etwas streifte meinen Arm.

Ich hob die Lider. Das Kinn von der Schulter.

Der Passagier neben mir hielt den Plastikbecher mit den Resten meines Cranberrysafts fest. Der Mann war groß, mit ausgebleichten roten Haaren und Augen in der Farbe von Rauchglas.

»Wir landen gleich.« Das waren die ersten Worte, die er seit dem Start vor vier Stunden gesprochen hatte.

»Entschuldigung.« Ich nahm den Becher und klappte das Tischchen hoch. Richtete meinen Sitz gerade.

»Machen Sie Urlaub?«, fragte der Mann mit leichtem Akzent.

Was soll’s. Der Mann hatte meinen Becher und meine Hose gerettet. »Ich suche jemanden.«

»In Liberia?«

»Playa Samara.«

»Aha. Da will ich auch hin.«

»Hm.«

»Ich habe dort ein Haus.«

Der Mann zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und gab sie mir. Sein Name war Nils Vanderleer. Er verkaufte Bewässerungssysteme für eine Firma mit Sitz in Atlanta. So stand es zumindest auf seiner Karte.

Ich schaffte ein Lächeln. Glaube ich.

»Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«, fragte Vanderleer.

»Ich komme zurecht. Vielen Dank.«

»Aber natürlich.«

Die Maschine drehte ein, und wir schauten beide zum Fenster. Vanderleer konnte hinaussehen, ich nicht.

Augenblicke später setzten die Räder auf. Vanderleer wandte sich wieder mir zu.

»Darf ich Sie mal abends zum Essen einladen?«

»Ich hoffe, nur eine Nacht in Samara verbringen zu müssen.«

»Wie schade. Costa Rica ist ein zauberhaftes Land.«

An der Passkontrolle stand ich dreißig Minuten an. Schwitzend, mit Kopfschmerzen und sehr gereizt verließ ich den Terminal.

Vanderleer ging stirnrunzelnd am Bordstein auf und ab. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste an ihm vorbei. Als er mich sah, hob er die Hände, was vermutlich »Da kann man nichts machen« heißen sollte.

»Ich habe einen Wagen gebucht, aber natürlich ist er nicht rechtzeitig eingetroffen. Wenn Sie nichts dagegen haben, ein bisschen zu warten, nehme ich Sie gerne mit nach Samara.«

»Danke für das Angebot. Mein Hotel hat ein Taxi bestellt.«

Drei Stunden nach der Landung fuhr ich schließlich durch einen weißen Steinbogen, der sich von einer mit blühenden Ranken überwucherten Mauer erhob. Ein hölzernes Schild zeigte meine Ankunft in Villas Katerina an.

Die Anlage sah so aus wie in der Onlinewerbung. Palmen. Geflochtene Hängematten. Kleine Villen mit gelb verputzten Wänden, weißen Einfassungen und roten Ziegeldächern, die sich um einen amöbenförmigen Pool gruppierten.

Die Frau an der Rezeption war klein und lebhaft und hatte schlimme Akne. Mit breitem Lächeln nahm sie meine Kreditkarte entgegen und führte mich zu einer Villa, die ein wenig abseits stand. Kleiner. Mit Blick auf einen Garten voller tropischer Vegetation.

Ich trat ein, zog meinen Koffer zu einem Holzstuhl mit Schnitzereien neben einem Fenster, öffnete die Vorhänge und schaute hinaus. Nichts als Laubwerk.

Ich schaute mich im Zimmer um. Buttergelbe Wände, orangene Zierleisten, orangener Bettbezug und orangene Vorhänge. Einheimische Kunst, primitiv, wahrscheinlich aus der Gegend. Eine winzige Küchenzeile. Gefliestes Bad, kreischend blau nach den Karottentönen des Schlafzimmers.

Plötzlich fühlte ich mich erschöpft. Ich kickte die Schuhe weg und legte mich aufs Bett, um mir zu überlegen, wie ich vorgehen sollte. Ein Nickerchen? Auf keinen Fall. Je schneller ich Ryan fand, desto schneller konnte ich wieder abreisen.

Wo war ich genau? Samara Beach. Playa Samara. An der Pazifikküste der Halbinsel, die sich von der nordwestlichen Ecke Costa Ricas nach Südosten windet, nicht weit von der Grenze zu Nicaragua entfernt.

Am Abend zuvor hatte ich ein bisschen recherchiert.

Costa Rica ist ein kleines Land, nur etwas mehr als fünfzigtausend Quadratkilometer. Ein Land, das berühmt ist für seine Artenvielfalt. Für seine Regenwälder, Wolkenwälder, für Baumsavannen und Feuchtgebiete. Ein Land, in dem ein Viertel des Territoriums als Nationalparks und Reservate geschützt ist.

Und irgendwo darin war Andrew Ryan. Hoffte ich.

Über die IP-Adresse hatten wir Ryans letztes Lebenszeichen von vor vier Wochen in Samara verorten können. Die Stadt war klein, bei Touristen weniger beliebt als die vornehmen Strände von Tamarindo und Flamingo. Das kam mir entgegen.

Ich zog die Karte hervor, die ich mir aus dem Internet ausgedruckt hatte, und studierte das kleine Straßennetz. Entdeckte eine Kirche, einen Waschsalon, ein paar Läden, Hotels, Bars und Restaurants. Ein paar Internetcafés.

Ryan ist vieles. Witzig, großzügig, ein klasse Detective. Was Kommunikation angeht, ist er ein Technikfeind. Natürlich hat er ein Smartphone. Und er kann die Werkzeuge benutzen, die Polizisten zur Verfügung stehen. CODIS, AFIS, CPIC und den ganzen Rest. Aber damit hat sich’s. Wenn Ryan nicht im Dienst ist, benutzt er am liebsten das Telefon. Er simst nie, schreibt nur selten E-Mails.

Und er hat keinen Laptop. Sagt, er will sein Privatleben privat halten.

Ich stand auf, zog mich aus und ging unter die Dusche. Nach dem Abtrocknen zog ich Sandalen, Jeans und ein T-Shirt an. Dann schluckte ich zwei Grippetabletten, hängte mir die Tasche über die Schulter und ging.

Die Frau mit dem Aknegesicht fegte tote Blüten von der gepflasterten Pooleinfassung. Spontan ging ich zu ihr und sprach sie auf Spanisch an. Zeigte ihr ein Foto von Ryan.

Die Frau hieß Estella. Sie kannte keinen Kanadier, der in Samara lebte. Sie erinnerte sich an zwei Pärchen aus Edmonton, die für einen Kurzurlaub hier gewesen waren. Die Männer waren klein und kahl.

Als ich sie nach dem Weg ins Zentrum fragte, beschrieb sie ihn mir fröhlich.

Der Marsch am Strand entlang dauerte nur Minuten. Ich kam an einem Restaurant,...