Das Küstengrab - Kriminalroman

von: Eric Berg

Limes, 2014

ISBN: 9783641143305 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Das Küstengrab - Kriminalroman


 

September 2013

Ich starrte auf das Foto im DIN-A4-Format. Der Unfallwagen war nur noch ein Klumpen silbriges Blech, als hätte ein Monster darauf eingeschlagen und ihm die Eingeweide herausgerissen. Das Blitzlicht des Fotoapparats spiegelte sich in den mit Rissen und Brüchen überzogenen Fensterscheiben und warf seine zersplitterte Helligkeit bis auf den nassen Straßengraben, den Baum, die phosphoreszierenden Uniformen der Sanitäter sowie ein paar Zweige mit zartem Frühlingslaub. Und auf die Leiche.

Ich wusste, dass auch ich in jenem Wrack auf der Ostseeinsel Poel gesessen hatte, allerdings nur, weil man es mir erzählt hatte. Rechts unten stand das Datum, an dem das Foto gemacht worden war: 21. Mai 2013, 23:46 Uhr.

Nun?, fragten mich die dunklen, strahlenden Augen der Schweriner Klinikpsychologin, die mich in den vergangenen vier Monaten betreut hatte. Sie war wie ich um die vierzig, vielleicht ein paar Jahre jünger. Ich mochte ihre warme Stimme, die viel Ruhe ausstrahlte, und ihre schlanken, unberingten Hände.

»Nichts«, sagte ich.

Dieses Wort traf es am besten, denn ich erinnerte mich weder an den Unfall noch an die Stunden davor. Poel hatte ich vor dreiundzwanzig Jahren verlassen. Meines Wissens war ich nie zurückgekehrt, und es kam mir gespenstisch vor, dass man mich halbtot aus einem Straßengraben der Insel gefischt hatte.

So wie das Auto, auf dessen Beifahrersitz ich gesessen hatte, war auch der Fundus meiner Erinnerungen in Stücke geschlagen. Gewiss, vieles war erhalten geblieben, darunter das Wichtigste: wer ich war und welches Leben ich gelebt hatte.

Das große Ganze jedoch würde nie wieder so sein wie früher. In unzähligen Operationen hatten die Ärzte mein Äußeres, von einigen wenigen Narben abgesehen, annähernd wiederhergestellt. Mit meinem Gedächtnis verhielt es sich anders. Wie bei einem unvollständigen Mosaik gab es kleinere und größere Löcher, die sich trotz der Geduld meiner Psychologin nur zögerlich oder gar nicht schlossen.

»Ich habe Ihnen das Foto bisher nicht gezeigt, weil es besonders intensiv ist, besonders … grausam.«

Das war es tatsächlich. Vor allem der leblose, entstellte, noch nicht abgedeckte Körper war schlimm anzusehen.

Trotzdem hatte ich kein Verhältnis dazu. Man hätte mir auch das Foto von einem Verkehrsunfall in China zeigen können, ich wäre nicht mehr und nicht weniger betroffen gewesen. Und damit meine ich das Wort in seiner doppelten Bedeutung. Wie gerne hätte ich viel mehr empfunden als diese abstrakte Traurigkeit über ein tragisches, aber scheinbar fernes Ereignis. Da ich mich des Unfalls nicht erinnerte, hatte ich ihn gewissermaßen nicht erlebt. Die körperlichen Wunden, die ich davongetragen hatte, waren zwar leidvolle Andenken, jedoch konnte mir mein Gedächtnis dafür keine Erklärung liefern.

»Wie Sie wissen, ist heute unsere letzte Sitzung«, sagte Ina Bartholdy nach einer Weile, während der wir geschwiegen hatten. Die dunkle Note in ihrer Stimme verriet mir, dass sie gleich etwas Beunruhigendes hinzufügen würde.

Ihr Blick fiel auf einen Digitalprojektor, das einzige technische Gerät in einem Raum, der ansonsten wenig Blickfänge bot: vier identische Sessel, ein langer Tisch, bilderlose cremefarbene Wände sowie ein dicker lavendelblauer Veloursteppich, der den Trittschall dämmte. Ein sanftes Plätschern war zu hören, obwohl es keinen Zimmerbrunnen gab.

Aus der Tasche ihres Blousons holte die Psychologin eine kleine Fernbedienung hervor, doch sie zögerte, bevor sie sie benutzte.

»Haben Sie schon eine Entscheidung getroffen, Lea? Wohin werden Sie gehen, wenn Sie im Anschluss hieran die Klinik verlassen? Zurück nach Argentinien?«

Das wäre das Naheliegendste, dachte ich. Buenos Aires war seit fast einem Vierteljahrhundert mein Zuhause. Zwar hatte ich dort keine Familie, aber neben zahlreichen guten Bekannten auch einige Freundinnen – von denen mich allerdings nicht eine einzige seit meinem Unfall besucht hatte. Sie würden sich zweifellos freuen, mich wiederzusehen. Trotzdem würde ich in ihrer Gegenwart wohl niemals mehr den schalen Beigeschmack loswerden, dass ich keiner von ihnen eine Flugreise über den Atlantik wert gewesen war, obwohl Geld keine Rolle bei ihnen spielte und sie wussten, wie sehr ich litt.

Mir fiel der Vorschlag wieder ein, den meine Ärztin mir vor einigen Wochen gemacht hatte.

»Sie hatten mir geraten, für kurze Zeit dorthin zurückzukehren, wo ich die Tage vor dem Unfall verbracht habe. Sie sagten, das sei eine gängige Heilungsmethode bei Erinnerungsverlust.«

Ina Bartholdy nickte, zog jedoch ein Gesicht, als habe sie einem Herzpatienten leichtsinnigerweise geraten, gleich nach der Entlassung zum Bungee-Jumping zu gehen. Bevor ich sie etwas fragen konnte, schaltete sie mit der Fernbedienung den Projektor an, der gehorsam piepte und ein Bild an die Wand warf, das mir bereits von früheren Sitzungen vertraut war. Es war eine farblich präparierte Aufnahme meines Gehirns. Die grau und schwarz markierten Areale zeigten die weniger oder mehr beschädigten Bereiche.

Wann immer ich diese zweiwöchentlich aktualisierten Aufnahmen sah, durchzuckte mich Entsetzen wie ein Stromschlag, weit stärker und nachhaltiger als alle anderen Informationen, die sie mir gaben, und gar nicht vergleichbar beispielsweise mit dem Foto des Crashs. Mein Gehirn sah auf den präparierten Bildern aus, als wäre es von einer bösartigen Krankheit befallen, die langsam voranschritt. Ich blickte auf die schwarzen Punkte, Metastasen gleich, längliche Schatten wie die Fraßgänge von Maden, unförmige Gebilde wie Bakterienkulturen unter einem Mikroskop.

Doch der Eindruck einer langsam voranschreitenden Krankheit täuschte. Die Zerstörung, das Vergessen, war mit der Unmittelbarkeit des Todes gekommen, von einer Sekunde zur nächsten. Tatsächlich hatte mich vor vier Monaten auf gewisse Weise der Tod erfasst und mit sich gerissen. Es war, als hätte ich zu manchen Zeiten überhaupt nicht gelebt. Warum war ich nach Poel zurückgekehrt? Was hatte ich dort gemacht? Wieso war ich am Tag meiner Ankunft in dieses Auto gestiegen, das ganz sicher nicht meines war? Und warum war es verunglückt, auf trockener, fast gerader Strecke?

»Es gibt mehrere Arten von Amnesie, ebenso mehrere Ursachen«, erläuterte Ina Bartholdy.

»Ich weiß, Ina. Ich habe Ihnen immer aufmerksam zugehört, wenn Sie mir etwas erklärt haben.«

»Ganz sicher haben Sie das«, sagte sie wie zum Trost für das, was sie mir gleich mitteilen würde. »Bisher sind wir … also meine Kollegen und ich … davon ausgegangen, dass Ihre Amnesie auf die physischen Verletzungen Ihres Gehirns zurückzuführen ist.« Sie hob die Hände, wie um einen möglichen Einwand abzuwehren. »So ist es ja auch. Die wahllosen Lücken in Ihrem Langzeitgedächtnis lassen gar keinen anderen Schluss zu.«

Wahllos, beliebig, zufällig …

Ich wusste noch, dass mich mein damaliger Ehemann Carlos betrogen hatte, woraufhin ich ihn ebenfalls betrogen hatte, mit Ian, einem Iren. Aber ich hatte kein Bild mehr von Ian vor Augen, obwohl die Affäre gerade mal fünf Jahre zurücklag und zwei Monate gedauert hatte. Zwar wusste ich auch noch, dass meine Lieblingsfriseurin in Buenos Aires Angela Lopez hieß, erinnerte mich aber weder an die Straße, in der sie ihren Salon betrieb, noch an ihr Gesicht. Manche Informationen waren jedoch in den letzten Wochen zurückgekehrt, beispielsweise die Namen meiner Wohnungsnachbarn sowie diverse Telefonnummern, einschließlich meiner eigenen, sowie weitere Belanglosigkeiten. Kleinere offene Rechnungen. Dass mir einige Wochen vor meinem Abflug nach Europa eine Sandalette kaputtgegangen war. Welche Bücher ich im Laufe meines Lebens lieben gelernt hatte. Solche Dinge.

»Physisch verursachte Amnesie heilt oftmals leichter. Damit erklären sich jedenfalls viele Ihrer neu gewonnenen Erinnerungen, und es werden mit jeder Woche mehr werden. Meines Erachtens wird Ihr Langzeitgedächtnis in einigen Monaten so gut wie keine Lücken mehr aufweisen. Allerdings … Es gibt da einen Zeitraum, der nach wie vor völlig im Dunkeln liegt.«

»Sie meinen die Zeit unmittelbar vor dem Unfall. Die Stunden auf Poel.«

»Ja, genau. Daran haben Sie nach wie vor überhaupt keine Erinnerung mehr, so als wären Sie vor vier Monaten gar nicht dort gewesen. Meine Kollegen und ich glauben daher übereinstimmend, dass die Amnesie, die sich auf diesen Zeitraum bezieht, psychischer Natur ist.«

Psychischer Natur, hallte es in mir nach. Psychischer Natur.

»Dazu würde auch passen, dass sich Ihre Stimme Ihrer Aussage nach im Vergleich zu früher verändert hat.«

Ich nickte. Meine Stimme war tatsächlich deutlich leiser und sanfter geworden, irgendwie belegt, oboenhaft …

»Organische, bakterielle und andere mögliche Ursachen haben wir ausgeschlossen. Offenbar liegt bei Ihnen eine psychogene Stimmstörung vor, wie es bei unverarbeiteten Erlebnissen manchmal der Fall ist. Alles deutet demnach darauf hin …« Ina Bartholdy unterbrach sich, atmete tief durch, ließ einige Sekunden verstreichen. »Etwas ist vorgefallen«, sagte sie schließlich mit einem Ernst, bei dem es mir eiskalt über den Rücken lief. »Auf Poel muss Ihnen vor dem Unfall noch etwas anderes widerfahren sein, Lea, irgendetwas Traumatisches. Oder Sie haben etwas zutiefst Schockierendes herausgefunden, das Sie verdrängen.«

Sie verschränkte die Hände schief ineinander. »Offen gestanden … ich weiß nicht, ob ich Ihnen unter diesen Voraussetzungen raten soll, ein weiteres Mal nach Poel zu fahren. Ich bin...