Das Jesus-Video - Thriller

von: Andreas Eschbach

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838757803 , 701 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Jesus-Video - Thriller


 

1


Seit er wusste, dass er berühmt werden würde, wartete er auf sie. Dass sie so schnell kamen, erstaunte ihn, aber es überraschte ihn nicht.

Zuerst war da nur eine Staubwolke, in weiter Ferne. Er nahm sie gleichsam aus dem Augenwinkel wahr, sah dann hoch und überlegte, ob ihm seine erwartungsvoll gespannten Nerven einen Streich spielten. Wahrscheinlich. Fahrzeuge wirbelten solche Staubwolken auf, wenn sie über die steinige Piste fuhren, die etwa eine Meile südwestlich des Lagers verlief. Aber das war sicher nur wieder ein Lastwagen, der in das nahe gelegene Dorf wollte. Wahrscheinlich hatte es nichts zu bedeuten. Nicht das, was er erwartete.

Er wandte sich wieder den wenigen Quadratzentimetern Erde zu, die er seit einer Stunde mit einem Borstenpinsel bearbeitete. Es war heiß. Sie hatten Juni, und schon in den Morgenstunden stiegen die Temperaturen auf achtundzwanzig Grad und mehr. Danach vermied es jeder, auf ein Thermometer zu schauen. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, was für die Arbeit natürlich gut war, aber die oberste Schicht des Erdreichs verwandelte sich dadurch in feinen, widerlichen Staub, den der leiseste Windhauch mit sich forttrug, den sie atmeten, aßen, mit sich in ihre Zelte und Feldbetten trugen und bis zum Ende der Ausgrabungsarbeiten nicht mehr richtig loswerden würden. Zusammen mit Schweiß bildete er eine dünne, schmierige Schicht, gegen die die wasserarmen Tröpfelduschen, die sie hier im Lager verwendeten, keine Chance hatten.

Ja, er musste sich eingestehen, dass er wartete. Dass etwas in ihm bebte vor Ungeduld. Dass er nur arbeitete, um sich davon abzulenken. Die Münze, auf die er vorhin gestoßen war, als er an einer vielversprechenden Stelle behutsam mit bloßen Händen das Erdreich beiseite geräumt hatte, war ein Schekel aus dem Jüdischen Krieg, eine wertvolle geprägte Silbermünze, die eine Blume mit drei Blütenkelchen zeigte und entlang des Randes eine Aufschrift in der alten hebräischen Schrift aufwies. Mit seinem Pinsel hatte er sie so weit gereinigt, dass sie fotografiert und dann ins Grabungsbuch eingetragen werden konnte. Normalerweise hätte ihn ein solcher Fund in Hochstimmung versetzt. Nur während einer sehr kurzen Periode der römischen Besatzungszeit hatten die Juden Silbermünzen mit hohen Werten geprägt, nämlich in der Zeit des jüdischen Aufstands, der im Jahr 66 begonnen und im Jahr 70 von römischen Truppen niedergeschlagen worden war. Damals war der Große Tempel zerstört worden, und die jüdische Vertreibung hatte ihren Anfang genommen. Die Münze war ein weiterer Fund, der eine präzise Datierung der Gräber erlaubte, die sie freilegten.

Aber er war mit seinen Gedanken woanders. Bei dem Fund vom Vortag. Er hatte ihn nicht selber gemacht – einer der Ausgrabungshelfer, ein junger Student aus den Vereinigten Staaten, war darauf gestoßen –, aber er war der Einzige, dem seine Bedeutung klar war. Ihn schauderte, wenn er daran dachte. Noch nie zuvor waren Archäologen auf ein so brisantes Fundstück gestoßen, ein Artefakt, das buchstäblich die Grundfesten der Zivilisation erschüttern konnte.

Die Staubwolke kam näher, hatte jetzt die Abzweigung passiert und, anstatt zum Dorf weiterzufahren, die Richtung auf das Lager eingeschlagen. Charles Wilford-Smith legte den Pinsel auf das aufgeschlagene Grabungsbuch, zwischen dessen Seiten der Sand knisterte, und stand auf.

Die Landschaft ringsum irritierte ihn jedes Mal. Stumpfes, ödes Land erstreckte sich in kargen Wellen ringsumher, vegetationslos bis auf vereinzelte dürre Halme, die im Schatten größerer Steine wuchsen. Sie verliehen der Ebene zumindest einen grünen Schimmer, bis sie am Horizont in graue, alte Hügel überging, von deren ursprünglicher Höhe viel abgetragen worden war von einem Wind, der ungezählte Jahrtausende geweht hatte und immer noch wehte. Trotzdem hatte man kein Gefühl von Weite. Man fühlte sich im Gegenteil wie unter einem Brennglas. Als könne man es körperlich spüren, wie die Geschichte von mindestens drei großen Kulturen sich in diesem Land bündelte. Jeder Stein, jeder dürre Krüppelstrauch schien mit Erinnerungen an blutige Dramen und gnadenlose Verfolgungen getränkt zu sein, ferne Echos der Stimmen biblischer Propheten schienen noch von den Bergen widerzuhallen, und die Inbrunst zahlloser Gebete schien den Körper zu durchdringen wie radioaktive Strahlung.

Bedächtig nahm er den breitkrempigen Sonnenhut ab, den er stets bei der Arbeit trug. Er war so etwas wie sein Markenzeichen geworden, unfreiwillig, und die Jahre hatten ihre Spuren darauf hinterlassen. Er zog ein Taschentuch hervor, das einmal weiß gewesen war, wischte sich damit über die Stirn und dann über den Schädel, auf dem das altersgraue Haar seit Jahrzehnten auf dem Rückzug war.

»Shimon«, sagte er halblaut.

Aus dem benachbarten Erdloch kam der Kopf eines Mannes, der um die fünfzig sein mochte, ein rundes Vollmondgesicht mit krausem dunklem Haar und starkem Bartwuchs. Die Augen blinzelten geistesabwesend. Sie hatten bis gerade eben in eine zweitausend Jahre zurückliegende Zeit geblickt und stellten sich nur mühsam zurück auf die Gegenwart ein. »Was gibt’s?«

Er deutete auf die näherkommende Staubwolke. »Wir bekommen Besuch.« Mittlerweile erkannte man das Fahrzeug, eine lang gezogene dunkle Limousine, die eindeutig nicht für derartige Schotterpisten gebaut war. Die Sonne tanzte glitzernd auf den Chromleisten rund um die verdunkelten Scheiben, wenn der Wagen durch eines der zahllosen Schlaglöcher fuhr und dann schaukelte wie ein Küstenwachboot in schwerem Seegang.

»Besuch?« Shimon erhob sich schwerfällig und schaute zu dem Fahrzeug hinüber. »Wer kann das sein?«

»Hoher Besuch.«

»Jemand von der Regierung?«

»Noch höher vermutlich.« Er setzte den Sonnenhut wieder auf und stopfte das Tuch zurück in seine Hosentasche. »Unser Geldgeber.«

»Ah!« Shimon Bar-Lev sah ihn an. Sie arbeiteten seit fast zwanzig Jahren zusammen. »Areal 14, nicht wahr? Das will er sich ansehen. Und was ist mit uns? Willst du ewig ein Geheimnis daraus machen, was du und dieser – wie heißt er?«

»Foxx«, erwiderte Wilford-Smith geduldig. Shimons schlechtes Gedächtnis für die Namen lebender Personen war legendär. »Stephen Foxx.«

»Ja, genau. Was du und dieser Foxx gefunden habt?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Aber der Mann in der Limousine dort erfährt es vor mir?«

»Ja. Glaub mir, Shimon, wenn du es erst weißt, wirst du verstehen, warum ich mich so anstelle.«

Shimon knurrte etwas Unverständliches. Er wirkte dabei wie ein trotziges Kind.

Wilford-Smith sah sich um. Satellitenbilder hatten ihn auf die Spur dieser Siedlung gebracht, die um die Zeitenwende herumbewohnt gewesen war. Aufgrund dieser Bilder hatten sie neunzehn auszugrabende Areale bestimmt. Innerhalb jedes Areals waren sie nach einem Gittersystem vorgegangen, wobei Quadrate von fünf mal fünf Metern freigelegt wurden. Das auf der Oberfläche markierte Gitter blieb dabei stehen und bildete zwischen den ausgegrabenen Quadraten ein Schnittprofil von einem Meter Breite, das es dem Ausgräber erlaubte, alle Details einem festen Bezugssystem zuzuordnen. Das war die traditionelle Methode, die sich in aller Welt bewährt hatte. Und natürlich waren die Gitter – die »Katzenstege«, wie man sie nannte – die Zugangswege zu allen Grabungsstellen, manchmal wie ein System schmaler Brücken über Abgründe.

Von den neunzehn Arealen wurden vorerst nur die fünf vielversprechendsten bearbeitet. Das hieß, seit gestern sechs. Er hatte die Arbeiten am Areal 14 einstellen lassen und die Hilfskräfte stattdessen damit beginnen lassen, die obersten Schichten von Areal 3 abzutragen. Über dem Fundort stand jetzt ein großes weißes Zelt, das nachts von zwei grimmigen jungen Männern mit geladenen Maschinenpistolen bewacht wurde. Diese Männer gehörten einem in Tel Aviv angesiedelten Sicherheitsdienst an und waren keine anderthalb Stunden nach seinem Telefonat mit dem Mann aufgetaucht, der jetzt aller Voraussicht nach in der schwarzen Limousine saß.

Natürlich gab es Gerüchte. Er konnte es förmlich brummen hören, wenn er zwischen den Ausgräbern hindurchging. Die meisten waren Volontäre, freiwillige junge Hilfskräfte aus aller Welt, die ihnen die Israel Antiquities Authority in Jerusalem vermittelte. Für ein lächerliches Entgelt und das Gefühl von Abenteuer nahmen sie es auf sich, täglich früh aufzustehen und den ganzen Tag körbeweise Erde und Steine zu schleppen. Nun beobachteten sie ihn aus den Augenwinkeln und fragten sich, was hier eigentlich vorging.

»Vielleicht ist es am besten, wenn wir alle Arbeiten für heute einstellen«, überlegte er halblaut. »Die Leute sollen sich ausruhen.«

Shimon sah ihn entgeistert an. »Aufhören? Aber es ist noch nicht einmal drei Uhr!«

»Ich weiß.«

»Was soll das? Es gibt so viel zu tun. Sie haben gerade angefangen mit dem neuen Areal, und …«

Er spürte, wie seine Stimme einen unduldsamen Klang bekam. »Shimon – das sind lauter junge Leute, intelligent, strotzend vor Energie und so neugierig, dass sie fast platzen. Es ist mir egal, wie du es anstellst, aber keiner von denen kommt mir heute Abend in die Nähe von Areal 14, alright?«

Der andere sah ihn lange an, und wie immer stellte sich jenes gegenseitige Verstehen ein, das sie beide als magisch empfanden. »Alright«, sagte Shimon dann. Es klang wie ein Versprechen. Es war ein Versprechen.

Er seufzte, stieg mühsam aus der Grabungsstelle hinauf auf den schmalen Steg des ursprünglichen Bodens. Drüben an Areal 3 standen sie schon. Junge Männer hauptsächlich, nur einige wenige, heftig umworbene Frauen...